Lídia Szluka ist blind. Früh hat sie jedoch begonnen, ihr Handicap mit anderen Stärken auszugleichen. Die Sopranistin und Orgelspielerin sieht ihr musikalisches Talent als Geschenk Gottes – und wünscht sich nichts sehnlicher, als diese Gabe ausleben und damit Geld verdienen zu können.
An einem der ersten Frühlingstage in Budapest posiert Lídia Szluka vor der Franz-Liszt-Musikakademie. Sie lächelt und sieht zufrieden aus, während die warmen Sonnenstrahlen ihr als Rampenlicht für die Fotos dienen. Jenes Rampenlicht, welches die 33-jährige Sängerin bisher noch nicht genießt, jedoch verdient. Mit der größten Musikschule Ungarns verbindet Lídia eine Vergangenheit, die sowohl Positives als auch Negatives beinhaltet: „Mit 14 Jahren hatte ich ein Vorsingen an der Übungsschule der Franz-Liszt-Musikakademie. Ich wurde stets von meinen Gesangslehrern in klassischer Gesangstechnik für meine Klangfarbe und meine wohlgeübte Kehle gelobt“, erzählt sie stolz. „Insgesamt war ich vier Jahre dort und habe meine Abschlussprüfungen allesamt erfolgreich absolviert.“ Nichtsdestotrotz waren sich ihre Fachleiterin, ihre damalige Gesangslehrerin und die anderen Prüfer uneinig über Lídias Zukunft als Opernsängerin: „Man sagte mir, man könne mit meiner Stimme wunderbar arbeiten, wenn ich nicht blind wäre. Die Prüfer hatten Bedenken, dass ich mich auf der Bühne zu wenig bewegen würde und durch mein Handicap permanent auf andere Leute angewiesen wäre.“ Die damals gerade mal 18-jährige, frischgebackene Opernsängerin argumentierte, sie könne problemlos Arien singen, Kammermusik machen und mit einem kleinen Orchester oder einem Pianisten auftreten. Für die Akademie schien dies aber keine Option zu sein. Nicht zuletzt erzählte ihr die international bekannte Opernsängerin Éva Marton sogar vom Besuch eines Konzertes von Andrea Bocelli in Rom, von dem sie gänzlich enttäuscht gewesen sei – nahm diese Negativerfahrung also als Paradebeispiel dafür, dass es für die Akademie nicht tragbar sei, eine blinde Sängerin zu unterstützen, zumal es auch etwaige andere, talentierte und nicht-blinde Künstler gebe. Besonders makaber war die Aussage von Éva Marton, dass so lange sie am Leben sei, sie Lídia Szluka keine Chance als Künstlerin geben würde. Leider sollte dies nicht die letzte Enttäuschung im Leben von Lídia gewesen sein.
Eine Sopranistin wird geboren
Als Frühgeborene hatte Lídia einen erhöhten Sauerstoffbedarf, welcher ihre Netzhaut extrem schädigte. Bis heute ist dies die dritthäufigste Erblindungsursache bei Kindern. Zunächst bestand für Lídia allerdings noch Hoffnung, ihr Augenlicht zu retten. Doch nach einer gescheiterten Operation in Győr kam auch jegliche Hilfe von Spezialisten aus Essen zu spät. Sie besuchte den Kindergarten und die Grundschule für Blinde und entdeckte in dieser Zeit ihre Liebe zur Musik: „Mit sieben Jahren begann ich, im Kinderchor zu singen. Über diesen Chor lernte ich meine erste, professionelle Gesangslehrerin kennen.“ Diese war keine Geringere als die ungarische Volksmusikerin Laura Faragó. Faragó erlangte 1970 landesweite Bekanntheit, als sie den Fernsehwettbewerb „Röpülj páva“ gewann. Im darauffolgenden Jahr gewann sie beim internationalen Volksliederwettbewerb in England unter 42 Teilnehmern aus 38 Ländern ebenfalls den ersten Platz. Sie wurde sogar mit dem Preis „Ungarisches Erbe“ ausgezeichnet. Auch Lídias zweite Gesangslehrerin, Ilona Adorján, prägte sie als Mensch und Künstlerin sehr stark: „Ihre Literatur über Gesangspädagogik und Gesangstechnik lese ich noch heute. Die Übungen vermitteln mir ein Gefühl von Freiheit und helfen mir dabei, den Alltagsstress loszulassen.“ Nach dem frustrierenden Ende mit der Franz-Liszt-Musikakademie, studierte Lídia Szluka an der Universität in Pécs. „Innerhalb der zwei Jahre in Pécs habe ich enorm viel gelernt. Ich war das erste Mal als Gesangslehrerin tätig und gab einer anderen Studentin zehn Gesangsstunden. Das war ein tolles Gefühl. Mir wurde etwas zugetraut und ich durfte Verantwortung übernehmen.“ Ihre Facharbeit schrieb Lídia über Schuberts Winterreise. Des Weiteren musste sie theoretische Prüfungen über Musikhistorie ablegen und erhielt 2008 ihr Diplom als Gesangslehrerin. „Im Anschluss ging ich ein Jahr als Gaststudentin nach Deutschland und lernte Orgel und Klavier spielen an der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik in Herford. Mir war es sehr wichtig die deutsche Sprache so schnell wie möglich zu beherrschen, um mich meiner Umgebung sicherer und meinen deutschsprachigen Ikonen, wie Wolfgang Amadeus Mozart, näher zu fühlen.“ Doch auch in Herford sei Lídia freundlich darauf hingewiesen worden, dass ihre Erblindung auf lange Sicht ein Problem darstelle: „Sie sagten, ich könne nicht unterrichten, weil ich die Studenten nicht sehen und somit nicht voneinander unterscheiden kann. Doch mit meinem Gehör kann ich die unterschiedlichsten Stimmen wiedererkennen, höre Fehler und Resonanzen. Dies qualifiziert mich genau so, wie jeden anderen Lehrer“. Doch im Jahre 2009 erlebte Lídia in ihrer steinigen Karriere ein erneutes Hoch: Sie wurde als einzige Stipendiatin an der Universität Mozarteum Salzburg angenommen und von der sogenannten Bonney-Stiftung finanziert. Die gleichnamige Professorin Barbara Bonney erkannte ihr Talent und Potenzial, bezeichnete ihre Stimme und Klangfarbe als „unique“ und gab ihr viel Mut und Hoffnung für die Zukunft, erzählt Lídia. Doch 2011 wurde die Stiftung unerwartet aufgelöst.
„Aufgeben ist keine Option!“
Kaum in die Heimat zurückgekehrt, absolvierte Lídia ihr Kantor-Diplom und erhielt ein „Excellent Degree“ in Vàc. „Ich habe eine sehr gute Ausbildung, zwei Diplome in deutscher und englischer Sprache, habe viele verschiedene Volkslied- und Orgelwettbewerbe gewonnen und trotzdem habe ich keinen Arbeitsplatz, der mit meinem Beruf zusammenhängt“. Derzeit arbeitet die Opernsängerin in zwei verschiedenen Einrichtungen und leistet Rehabilitationsarbeit im Blindenverein sowie in einer Stiftung für Hörgeschädigte. „Ich übernehme administrative Aufgaben, wie die Übersetzungen für die Webseite, aber mein Gesangstalent kann ich an keiner Stelle einbringen, geschweige denn damit Geld verdienen. Trotzdem war Aufgeben nie eine Option für mich.“ Die Künstlerin ist sich ihres Talents bewusst, sie kann in sechs verschiedenen Sprachen (Ungarisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Latein) singen und hat ihr Referenzmaterial samt drei Empfehlungsschreiben und ihrem Gesangsdiplom auf der ganzen Welt verteilt eingeschickt, unter anderem nach Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien und sogar in die USA. Mit ihrer Mutter, die ihr stets zu Seite steht, hat sie sogar vier Wochen in den USA verbracht: „Ich habe viel Hoffnung in diesen Aufenthalt gesteckt. Ich habe vor Ort Operetten und ungarische Volkslieder gesungen und alle waren begeistert. Nur leider war niemand im Publikum, der mein Talent hätte auf irgendeine Weise fördern wollen.“ An dieser Stelle macht Lídia auch auf die Problematik des fehlenden Managements oder einer Agentur aufmerksam: „Ich merke, dass ich es alleine nicht schaffe. Jemand muss mich als Künstlerin empfehlen und bewerben. Die Unterstützung einer kompetenten Person wäre eine große Sicherheit für mich. Ich bin mir bewusst, dass ich einer Agentur auch einen Mehrwert bringen muss und das werde ich auch, sobald mir jemand die Chance dazu gibt. ‚Business is Business‘ und mich soll keiner aus Mitleid fördern.“ Auch an Castingshows wie Hungary’s Got Talent, X-Faktor oder Voice Of Hungary hat Lídia teilgenommen, jedoch mit mäßigem Erfolg. „Ich bin oft in die dritte oder vierte Runde gekommen, bis mir von der Jury gesagt wurde, dass mir der Starappeal fehlt, da ich keine populären Songs aus den Charts singe, sondern beispielsweise eine italienische Oper. Damit könne ich die Leute nicht berühren, was meiner Meinung nach absolut nicht zutrifft.“ Auf die Frage nach ihrem größten Wunsch entgegnet Lídia Szluka: „Mein größter Wunsch ist es, einfach nur zu arbeiten. Ich will unbedingt arbeiten. Ich würde gerne auf Feiern, Hochzeiten und Beerdigungen singen, Liederabende und Kammerkonzerte veranstalten. Wenn möglich, würde ich auch gerne häufiger Orgel spielen, denn ein zweites Standbein ist mittlerweile in der Musikbranche sehr wichtig.“ Ihre Hauptleidenschaft bleibt natürlich das Singen. „Ich bin völlig frei und offen, was den Standort angeht. Ich habe keinen Mann und keine Kinder und werde dort arbeiten, wo ich meiner Passion folgen kann. Ich würde mich natürlich freuen, wenn meine Mutter mitkommt, aber das ist ihre eigene Entscheidung.“ Derzeit veranstaltet Lídia an jedem dritten Sonntag im Monat um 16 Uhr ein organisiertes Konzert in ihrer Kirchengemeinde. Im Zuge dessen lädt sie jeden Monat einen anderen Künstler ein. Diesen Monat hat sie ein Quartett eingeladen. Verdienen tut sie daran nichts, die freiwilligen Spenden sollen in die Digitalisierung der Orgel investiert werden. Auch der Beruf der Kantorin reizt sie dementsprechend stark. Ein wenig Sorge bereitet Lídia ihr Alter, da viele andere Sänger mit 33 Jahren bereits ihre Karriere vorangetrieben haben.
Blindheit sollte keine Behinderung sein
„Sobald es in Ungarn ein Problem gibt, wird nicht nach Lösungsansätzen gesucht. Diese Mentalität musste ich am eigenen Leib erfahren. Ich habe das Gefühl, jeder hat mein Talent gesehen, aber es ist immer daran gescheitert, dass Mittel und Wege gefehlt haben, mich zu unterstützen.“ Lídia Szluka möchte auch in Zukunft als Partnerin oder Kollegin behandelt und als Sängerin und Künstlerin wahrgenommen werden, nicht etwa als eingeschränkter, behinderter Mensch. „In meiner beruflichen Laufbahn wünsche ich mir einen Menschen zu treffen, der sagt: ‚Lídia, wir schaffen das!‘“ Die ungarische Hauptstadt Budapest empfindet sie als nicht behindertengerechte Stadt: „In Budapest kenne ich mittlerweile die großen Plätze – aber die ganzen kleinen Gassen kann man nicht auswendig wissen. Es gibt in Budapest viel zu wenig Blindenampeln und Leitstreifen. Bis auf die U-Bahnlinie M4 ist die Stadt nicht gerade blindenfreundlich und glänzt nicht durch Barrierefreiheit.“ Auch die finanzielle Unterstützung vom Staat lässt zu wünschen übrig: „Ich erhalte eine Blindenunterstützung von 100 Euro im Monat. Doch allein der Blindenstock und die Computerprogramme sind so teuer, dass ich die Kosten nicht abdecken kann.“ Lídia hat Glück, dass sie das Computerprogramm im Zuge eines Wettbewerbs gewonnen hat – denn sogar die regelmäßigen Updates kosten extra. „PC und Internet haben uns Blinden das Leben um einiges erleichtert. Das Programm unterstützt beim Lesen von Textdokumenten, kann mir jedoch keine Bilder erklären. Eine sogenannte Braillezeile dient als Spezialtastatur.“ Abschließend appelliert Lídia an alle jungen Talente, sich nicht unterkriegen zu lassen. „Manchmal muss man auf seinen Körper und seine innere Stimme hören. Wenn du merkst, dass Gott dir ein Talent geschenkt hat, verschwende es nicht, egal wie viele Tiefschläge du erlebt hast. Die Umgebung oder die Gesellschaft wird dir immer einen Grund geben, die Hoffnung aufzugeben, aber du darfst sie einfach nicht lassen“, sagt Lídia voller Inbrunst und trinkt einen großen Schluck von ihrer Mangolimonade, isst das erste Stück von ihrem Zitronenkuchen, lächelt über beide Ohren und lobt den „wunderbaren Geschmack“. Eine bewundernswerte junge Frau, die sich an den kleinen Dingen des Lebens erfreuen kann und von der sich viele noch etwas abschauen können.
Weitere Informationen zu Lídia Szluka finden sie unter www.lydiaszluka.hu.
Youtube-Videos gibt es unter: www.youtube.com/user/SzlukaLidia.