Imre Kertész gilt als einer der wichtigsten Autoren der Nachkriegsliteratur Europas. Für sein schriftstellerisches Gesamtwerk wurde er 2002 als erster und bislang einziger ungarischsprachiger Autor mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. In der vergangenen Woche verstarb Kertész nun im Alter von 86 Jahren nach langer Krankheit. Besonders bekannt ist er für sein Schriftwerk „Roman eines Schicksallosen“.
Adorno sagte einst: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Doch der Kampf, das Unsagbare zu sagen, gelang Imre Kertész wie kaum einem anderen und führte zu einem der außergewöhnlichsten Werke der modernen Literatur. Mit seinen Romanen über den Holocaust erfuhr er weltweite Anerkennung. An dem wohl bekanntesten Werk „Roman eines Schicksallosen“ schrieb der ungarische Autor ab 1960 gute 13 Jahre, doch erst Mitte der 80er-Jahre bekam er Anerkennung für diese Leistung. In dem erstmals 1975 veröffentlichten Werk berichtet der 15-jährigen György von seinem Leben während des Zweiten Weltkriegs in Ungarn und später von seinen Tagen in den Konzentrationslagern Auschwitz und Buchenwald. Imre Kertész beschreibt den Lageralltag des Jungen und verarbeitet unweigerlich seine eigenen Erfahrungen als inhaftierter Jugendlicher eines Konzentrationslagers.
Das Leben eines Kindes in Auschwitz
Kertész schreibt in seinem „Roman eines Schicksallosen“ frei von empörendem Entsetzten über die Gräueltaten der Vergangenheit und gewährt den Konzentrationslagern so eine Entmystifizierung. Es gibt wohl kein literarisches Werk, das derart konsequent, ohne zu urteilen, der Perspektive eines staunenden Kindes beständig bleibt. Der Autor begleitet seinen Protagonisten dahin, wo er trotz des schrecklichen Umfeldes gar glückssüchtig dem reinen Leben hemmungslos erliegt. Zwar ist György mit dem Geschehen im Lager selten einverstanden, weist teilweise aber Verständnis für die Logik der einzelnen Schritte im Prozess der industriell organisierten Ausbeutung und des Genozids auf. Das Erlebte fasst der Junge beinahe wie eine Abenteuerreise auf. Diese Art des Umschreibens wird nicht selten mit Franz Kafkas Roman „Der Process“ verglichen. Hier fügt sich die Figur des Josef K. auch auf verstörende Weise seinem Schicksal. Franz Kafka war ebenfalls ein jüdischer Literat und eine große Inspirationsquelle für Imre Kertész.
Literaturnobelpreis für Nachkriegsliteratur
Durch den „Roman eines Schicksallosen“ wurde der ungarische Schriftsteller zu einem der bekanntesten Autoren der Moderne und gewann 2002 den Nobelpreis für Literatur. Die Jury würdigte sein Werk, “das die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte behauptet”. Lediglich in seiner Heimat war er verrufen und der Anschuldigung erlegen, er habe mit dem Holocaust nur ein einziges Thema. Kertész beschrieb seine Ehrung als „Glückskatastrophe“. Der „Roman eines Schicksallosen“ bildet zusammen mit den Bänden „Fiasko“ (1988), „Kaddisch für ein nicht geborenes Kind“ (1990) und „Liquidation“ (2003) eine Tetralogie. Durch “Kaddisch für ein nicht geborenes Kind” und dem “Galeerentagebuch” (1993), einer Dokumentation Kertész’ 30-jähriger Isolation durch das sozialistische Ungarn, wurde er auch international wahrgenommen. Immer wieder beschreibt der Autor in seinen Werken, die Notwendigkeit zu erkennen, dass die Menschheit an einem ethischen Nullpunkt angekommen ist. Diese Paradoxien verarbeitet er in seinen Werken durch ein Spiel aus Fiktion und Realität.
Immer wieder befasste sich Kertész auf verschiedenste Weise mit seinem jugendlichen Schicksal, ohne notwendigerweise nach einer Erklärung zu suchen. „Ich bin ein Medium des Geistes Auschwitz, Auschwitz spricht aus mir“, äußert er sich im Galeerentagebuch.
Kertész wurde am 9. November 1929 als einziges Kind einer jüdischen Familie in Budapest geboren. Im Sommer 1944 wurde er als 14-jähriger Junge über Auschwitz in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Nach Kriegsende schrieb er erstmals als Journalist, musste aber bald seine Schreibkarriere für einen zweijährigen Militärdienst unterbrechen. Über eine Stelle in der Presseabteilung des Ministeriums für Hütten- und Metallindustrie kam Imre Kertész wieder zum Schreiben zurück. Doch seinen Lebensunterhalt musste er sich anders verdienen. Durch Übersetzungen von Autoren wie Nietzsche, Freud, Wittgenstein, Roth oder auch Schnitzler, aber auch von Musical- und Theaterstücken ins Ungarische finanzierte sich der Autor das eigene Schreiben. Kertész selbst sagt, dass er seine ganze Bildung der deutschen Kultur verdankt und sie deshalb schätzt.
Kertész vergab den Deutschen
Den Großteil seines Lebens verbrachte der Nobelpreisträger in Armut. Und trotzdem empfand Imre Kertész diese Jahre als die glücklichste Zeit in seinem Leben. In einem Interview mit der Zeit sagte der Autor einmal: „Das waren die Jahre von 1982 bis 1989. In diesen sieben Jahren war ich verliebt, eingesperrt, habe nur gearbeitet. Das war ein sehr schönes Leben. Ich war immer verzweifelt. Ich hatte nie genügend Geld. Ich hatte keinen Führerschein. Ich war sicher, dass ich nie ein Auto bekommen würde. Das war diese furchtbare Kádár-Welt.“ Später lebte der Autor in Luxushotels und bereiste die Welt. 2002 zog es ihn nach Berlin in eine kleine Straße nahe dem Kurfürstendamm. Er liebte die Platanen im Berliner Westen, die Cafékultur und besuchte begeistert die Konzerte der Philharmonie. In dem Tagebuch “Letzte Einkehr“ beschrieb er diese Zeit seines Lebens in einem Land, das ihm in der Vergangenheit fast das Leben gekostet hätte. Trotzdem hat er es dort genossen. Das Vergangene lässt er vergangen sein, doch – so meint er gegenüber der Zeit – habe er „die Nazizeit in Ungarn erlebt“. Dort trug er den gelben Stern, war im Getto und wurde von den ungarischen Gendarmen festgenommen. Erst mit fortgeschrittener Parkinsonkrankheit kehrte Imre Kertész 2012 in sein Budapester Zuhause zurück. Mit einem breiten Grinsen, lachenden Augen, die durch die runde Brille lunzen und Hut bleibt Imre Kertész auf Bildern in Erinnerung. Und auch in seinen Schriftwerken lebt er weiter.