Der am 31. März 2016 verstorbene langjährige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher war – als herausragende Persönlichkeit der deutschen Liberalen – unter Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl 23 Jahre Regierungsmitglied und prägte fast zwei Jahrzehnte hindurch die Außenpolitik der Bundesrepublik.
Im Mittelpunkt seiner politischen Gedankenwelt standen die europäische Integration („Europa ist unsere Zukunft, wir haben keine andere“), der Ausgleich mit den Staaten des „östlichen Lagers“, die Sicherung des Weltfriedens und die Vereinigung Deutschlands. Diese – für ihn untrennbar miteinander verknüpften – Ziele verfolgte er konsequent und mit großem Erfolg: Genschers Außenpolitik trug von Anfang an in bedeutendem Maße zur Entspannung zwischen den Blöcken und schließlich zur Überwindung des Ost-West-Gegensatzes bei. Gleichzeitig wirkte er als „einer der großen Architekten“ (Wolfgang Kubicki) des europäischen Einigungsprozesses. Und auch bei der Herbeiführung und Gestaltung der deutschen Einheit übernahm Genscher zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl 1989/1990 eine herausragende Rolle. Seine unermüdlichen diplomatischen Aktivitäten richteten sich aber nicht nur auf die „Großen“ in der Europa- und Weltpolitik, Genscher pflegte auch Beziehungen zu den „Kleinen“. Hierbei kam Ungarn eine besondere Rolle zu.
Herr Schmidt-Schweizer, Sie beschäftigen sich als Geschichtswissenschaftler seit langer Zeit mit der Entwicklung der deutsch-ungarischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Welche Politik verfolgte Hans-Dietrich Genscher grundsätzlich gegenüber Ungarn?
Zunächst einmal sei betont, dass Genscher von Anfang an als Regierungsmitglied der 1969 gebildeten sozialliberalen Koalition – auch in seiner anfänglichen Funktion als Bundesinnenminister – die Neue Ostpolitik von Bundeskanzler Brandt, also die Annäherung an das „östliche Lager“, nicht nur mittrug, sondern entschieden befürwortete. Für eine Verbesserung der Beziehungen zum kommunistischen Osten bot sich natürlich Ungarn an, nicht nur wegen der Reformpolitik János Kádárs, sondern auch aufgrund der – im Gegensatz zum deutsch-polnischen oder deutsch tschechischen Verhältnis – relativ geringen „historischen Spannungen“ zwischen beiden Staaten. Diese Chance wollte Genscher ganz offensichtlich nutzen.
Bei den bundesdeutschen Kontakten zu Ungarn auf der Ebene der Außenminister kam ihm aber ein Parteikollege zuvor!
Ganz richtig. Der erste bundesdeutsche Außenminister, der die Volksrepublik Ungarn besuchte, war Walter Scheel, der Vorgänger Genschers als Außenminister und Vizekanzler. Scheel hielt sich im April 1974, knapp ein halbes Jahr nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern, in Budapest auf. Mitte Mai 1974 übernahm dann Hans-Dietrich Genscher unter Bundeskanzler Helmut Schmidt die Führung der bundesdeutschen Diplomatie. In dieser Rolle sollte er dann knapp zwei Jahrzehnte lang auch die Beziehungen zu Ungarn maßgeblich gestalteten. Im Juni 1975 stattete er Ungarn einen ersten Besuch als Außenminister ab.
Welche Themen standen bei den Unterredungen Genschers mit seinen ungarischen Amtskollegen auf der Tagesordnung?
Die Gespräche Genschers mit den ungarischen Außenministern Frigyes Puja, Péter Várkonyi und Gyula Horn betrafen sowohl generelle Fragen der internationalen Politik als auch strategische Aspekte der bilateralen Beziehungen. Hinsichtlich der internationalen Politik konnte es sich natürlich nicht um die Lösung weltpolitischer Probleme handeln. Diese Fragen mussten von den betroffenen Akteuren – in erster Linie von Washington und Moskau – geregelt werden. Vielmehr ging es hier um einen allgemeinen Meinungsaustausch, der dem wechselseitigen Kennenlernen und der Vertrauensbildung dienen sollte und der dieses überaus wichtige Ziel – wie sich bald zeigte – auch erreichte. Bei diesen Gesprächen legten beide Seiten in der Regel ihre – nicht immer konträren – Positionen zu aktuellen internationalen Fragen dar, manchmal tauschten sie auch ihre – oft durchaus kritischen – Einschätzungen über Haltungen und Entwicklungen im „eigenen Lager“ aus. Besonders offen wurde dieser weltpolitische Dialog, als Gyula Horn 1988/89 die führende Rolle in der ungarischen Außenpolitik übernahm.
Und auf der bilateralen Ebene?
Hinsichtlich der bilateralen Beziehungen spielten anfänglich die Wirtschaftskontakte, die sich seit den 1960er Jahren dynamisch entwickelten, eine zentrale Rolle. Insbesondere ging es hier darum, die ungarischen Exportmöglichkeiten in die Bundesrepublik zu verbessern und das ungarische Handelsbilanzdefizit zu verringern. Genscher sicherte der ungarischen Seite diesbezüglich von Anfang an seine Unterstützung zu und setzte sich auch für eine Annäherung zwischen Ungarn und der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise für eine Verringerung der EG-Handelsrestriktionen gegenüber Ungarn ein. Gerade Letzteres offenbart auch eine „europapolitische Dimension“ der Diplomatie Genschers gegenüber Ungarn.
Welche Gebiete der bilateralen Kontakte spielten über einen längeren Zeitraum noch eine wesentliche Rolle?
Weitere wichtige bilaterale Themen waren der Abschluss eines – von Ungarn verständlicherweise gewünschten – Abkommens über die technologisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit und die Unterzeichnung eines Kulturabkommens. Letzteres war für Genscher von besonderer Bedeutung: Zum einen maß der Bundesaußenminister – ganz im Geiste der Schlussakte von Helsinki 1975 – der Entwicklung der Kulturbeziehungen für den Entspannungsprozess und für das Zusammenwachsen Europas langfristig eine besondere Rolle zu, zum anderen ging es ihm natürlich auch darum, die von der Ostberliner Führung beanspruchte „kulturelle Alleinvertretung“ in Ungarn und ihre Monopolstellung bei der Pflege der Kontakte zu den Ungarndeutschen schrittweise aufzubrechen.
Ende 1979, nach dem NATO-Doppelbeschluss und der sowjetischen Intervention in Afghanistan, brach zwischen Moskau und Washington offen ein neuer Kalter Krieg aus. Wie reagierte Genscher mit Blick auf das deutsch-ungarische Verhältnis auf diese Entwicklung?
Genscher und Bundeskanzler Schmidt waren sehr bemüht, die westdeutsch-ungarischen Kontakte auch unter diesen schwierigen weltpolitischen Bedingungen nicht abreißen zu lassen, ja sie wollten sie sogar auf allen Ebenen auszuweiten und vertiefen. Und die bundesdeutsche Diplomatie war hier durchaus erfolgreich: Die wirtschaftlichen Beziehungen konnten in der Folgezeit – wenn auch langsamer – weiter ausgebaut werden und auch die politisch- diplomatischen Kontakte entwickelten sich keineswegs rückläufig. Vor dem Hintergrund des entstandenen Vertrauensverhältnisses und der starken wirtschaftlichen und finanziellen Verflechtung beider Staaten (die natürlich ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis Ungarns von der Bundesrepublik bedeutete), übernahmen Bonn und Budapest in der ersten Hälfte der 1980er Jahre sogar eine Art „Brückenfunktion“ zwischen Ost und West. Sie sorgten also dafür, dass der Dialog zwischen den beiden Blöcken auch in dieser kritischen Phase nicht abriss. Und diese Rolle wurde von Genscher – ebenso wie übrigens auch von Kádár – mit ganzer Kraft und einer intensiven Besuchsdiplomatie wahrgenommen.
Erfuhr die westdeutsche Außenpolitik gegenüber Ungarn mit dem Ende der sozialliberalen Koalition und der Regierungsübernahme von Helmut Kohl im Herbst 1982 einen wesentlichen Bruch?
Nein! Dies lag daran, dass die Leitung des Außenministeriums ja weiterhin in den Händen Hans-Dietrich Genschers lag und dieser bei seinen zahlreichen Treffen mit seinen ungarischen Amtskollegen und der ungarischen Staatsund Parteiführung immer die Kontinuität der bundesdeutschen Außenpolitik betonte – und auch entsprechend handelte. Nach der Bildung der Regierung Kohl kam es sogar zu einer noch stärkeren Unterstützung Ungarns durch die Bundesrepublik. Dies zeigte sich insbesondere daran, dass sich die Bonner Diplomatie nun besonders aktiv für das ungarische Anliegen einsetzte, einen Vertrag mit der Europäischen Gemeinschaft abzuschließen. Aufgrund dieses wohlwollenden „Rückenwinds“ konnte Ungarn schließlich im Sommer 1988 als erstes Land des „Ostblocks“ ein handelspolitisch äußerst bedeutsames Abkommen mit der EG abschließen.
1987/88 leitete die ungarische Führung gewaltige Schritte in Richtung einer marktwirtschaftlichen Ordnung ein und implementierte auch politische Reformen, die schließlich unter Ministerpräsident Miklós Németh 1989 in den ungarischen Systemwechsel mündeten. Wie stand Genscher zu dieser Politik, die ja letztlich erst durch den neuen Kurs von Gorbatschow in der Sowjetunion möglich wurde?
Im Gegensatz zu vielen westlichen Kollegen, die die Politik Gorbatschows lange für einen kommunistischen Propagandatrick hielten und die durch die politische Dynamik in der Sowjetunion, Ungarn und Polen eine Gefährdung des „bequemen“ Status quo befürchteten, stand Genscher den Veränderungen mit großer Sympathie und Hoffnung gegenüber. In Bezug auf Ungarn zeigte sich dies daran, dass er der Budapester Führung bei jeder möglichen Gelegenheit die volle bundesdeutsche Unterstützung für ihre wirtschaftlichen und politischen Vorhaben zusicherte. Vor diesem Hintergrund kam es dann auch bereits im Oktober 1987, während des Besuchs des neuen ungarischen Ministerpräsidenten Károly Grósz, zur Gewährung eines Milliardenkredits an Ungarn (ein zweiter Milliardenkredit wurde im Frühsommer 1989 vereinbart) und zur Unterzeichnung einer Reihe grundlegender Kooperationsvereinbarungen, denen dann 1988/89 weitere zentrale Abkommen folgten. Ganz offensichtlich betrachtete Genscher die Entwicklungen in Ungarn als Teil eines Prozesses, der eine nicht risikolose, aber realistische Chance für das weitere Zusammenwachsen Europas und für die Überwindung des Ost-West-Konflikts bot. Und die mit dem Wandel einhergehende wirtschaftliche Öffnung Ungarns lag darüber hinaus natürlich auch im „Eigeninteresse“ der Bundesrepublik, da sie der bundesdeutschen Wirtschaft große Entwicklungschancen Richtung Osten eröffnete.
Die ungarische Grenzöffnung für die DDR-Bürger Mitte September 1989 erschütterte die Fundamente des Honecker- Regimes und rückte schließlich die deutsche Einheit auf die Tagesordnung der internationalen Politik. Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen Genscher und der ungarischen Politik vor diesem historischen Schritt der Németh- Horn-Regierung?
Als Liberaler begrüßte Genscher natürlich die Entscheidung der ungarischen Führung vom Frühjahr 1989, den Eisernen Vorhang an der Grenze zu Österreich abzubauen. Niemand konnte damals absehen, welche Folgen dies haben würde. Als dann im Sommer 1989 die Flüchtlingswelle von DDR-Bürgern in Ungarn gewaltige Ausmaße annahm und die Lage immer widersprüchlicher und verworrener wurde, kam es kurzfristig zu Störungen im Verhältnis von Bonn und Budapest. So warf der damalige bundesdeutsche Botschafter Alexander Arnot Anfang August 1989 der ungarischen Regierung – ein wenig unsensibel – vor, die DDR-Flüchtlinge im Widerspruch zur Genfer Flüchtlingskonvention zu behandeln. (Dies traf allerdings auch zu, da in Ungarn noch entsprechende nationale rechtliche Regelungen fehlten und die überforderten ungarischen Behörden tatsächlich widersprüchlich handelten.) Offenbar war auch Genscher in dieser angespannten Situation nervös geworden. Die Bemühungen der ungarischen Führung, die Probleme im Einvernehmen mit Kohl und seinem Außenminister zu lösen, zerstreuten dann aber alle Zweifel. Und die Grenzöffnung selbst löste natürlich eine gewaltige deutsche Sympathiewelle für Ungarn aus.
Bekanntlich reagierte nicht nur Genscher überaus positiv auf diesen Schritt der ungarischen Regierung. Äußerte sich dies auch dadurch, dass Bonn beziehungsweise die bundesdeutsche Diplomatie Ungarn nun in besonderer Weise unterstützte?
Genscher, Kohl und die im Bundestag vertretenen Parteien hatten sich bereits im Juni 1989, also bevor das Problem der DDR-Flüchtlinge in Ungarn akut wurde, dafür ausgesprochen, Ungarn in jeder Hinsicht – politisch, wirtschaftlich und finanziell – zu unterstützen, und zwar aufgrund seiner Politik der politischen und wirtschaftlichen Transformation. Diese Unterstützungsbereitschaft wurde von Genscher nach der Grenzöffnung bei seinem Budapest-Besuch im November 1989 demonstrativ bekräftigt und von der Regierung Kohl – wie die Entwicklungen der folgenden Jahre zeigten – auch in die Tat umgesetzt. (Diesbezüglich sei nicht nur auf den deutsch-ungarischen Freundschaftsvertrag von 1992 verwiesen, sondern exemplarisch auch auf eine Reihe konkreter Projekte zur Wirtschaftsförderung, auf Maßnahmen wie die Ausbildung von ungarischen Managern und Beamten in Deutschland sowie auf die Unterstützung der ungarndeutsche Minderheit.) Die Tatsache, dass die ungarische Grenzöffnung letztlich einen Prozess in Gang setzte, an dessen Ende die deutsche Einheit stand, wurde von Genscher voll gewürdigt. Genscher hatte das langfristige Ziel der deutschen Einheit ja nie aus dem Blick verloren und Ungarn hatte hierzu einen bedeutenden Beitrag geleistet. Genscher hat übrigens auch einen maßgeblichen Einfluss auf die Schaffung des Hauses der Ungarndeutschen gehabt.
Genscher legte sein Amt als Bundesaußenminister 1992, sozusagen auf dem Höhepunkt seiner Karriere, überraschend nieder. Wie gestaltete sich sein Verhältnis zu Ungarn in den folgenden Jahrzehnten?
Genscher pflegte auch in diesen Jahren häufige Kontakte zu Ungarn. Zumeist erfolgten diese im Rahmen von Aktivitäten der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung, die als erste bundesdeutsche politische Stiftung bereits seit Mitte 1989 in Budapest tätig ist, sowie aus Anlass des Deutsch-Ungarischen Forums, das seit 1990 jährlich Bilanz über die Entwicklung der deutsch-ungarischen Beziehungen zieht. Genscher nahm zudem einige private Einladungen an, so auch aus dem Kreise von deutschen Unternehmern, die in Ungarn tätig waren beziehungsweise noch sind. Einen besonderen Anlass bildeten für ihn ganz offensichtlich die Jubiläumsfeiern aus Anlass der Grenzöffnung vom September 1989. Bei diesen Gelegenheiten brachte er immer wieder die Dankbarkeit der Deutschen für die ungarische Entscheidung, die Bürger der DDR in den Westen ausreisen zu lassen, zum Ausdruck. Bezeichnenderweise kam er auch in einem seiner letzten Interviews (mit dem Magazin Focus) auf dieses Thema zu sprechen: „Ich kann den Ungarn nicht vergessen, was sie damals getan haben.“ In seinen letzten Lebensjahren äußerte Genscher allerdings auch zunehmend kritische Bemerkungen zu Ungarn: Der „illiberale“ und nationalistische Populismus von Regierungschef Orbán konnte dem sozialliberalen Europäer und verantwortungsbewussten Staatsmann Genscher natürlich nicht gefallen. Der „Doyen der Außenminister“ (so nannte ihn der ehemalige ungarische Botschafter in Bonn István Horváth) brachte allerdings bis zuletzt auch die Hoffnung zum Ausdruck, dass sich in Ungarn der transnationale europäische Gedanke wieder durchsetzen werde.
Der Interviewte ist am Institut für Geschichtswissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest tätig.