Kindereisenbahn gleich Modelleisenbahn – diese Formel geht in Budapest nicht auf. In der Hauptstadt ist sie tatsächlich ein voll funktionsfähiger Zug, der von Kindern und Jugendlichen betreut wird – eine weltweite Rarität.
Ab der Station Széchenyi-hegy schlängelt sich eine märchenhafte Eisenbahnstrecke durch die Budaer Berge. Sie verläuft in den westlichen Hügellandschaften von Budapest und passiert urwüchsige Waldgebiete bis hin zur Endstation Hűvösvölgy. Auf diesem Betriebsgelände befindet sich die Kindereisenbahn (Ungarisch: Gyermekvasút) Budapest. Was hier sofort auffällt: Kinder zwischen 10 und 15 Jahren, die tatkräftig am Bahnhof mitarbeiten.
Kleine Schaffnerinnen und Schaffner im blauen Anzug kontrollieren die Fahrkarten, während andere Kinder und Jugendliche für die Signale und die Stellwerke verantwortlich sind. „Als ehrenamtlicher Mitarbeiter muss man hier allerdings gewisse Qualifikationen erfüllen“, erklärt der 15-jährige Bence. So dürfen Kinder nur bei der Kindereisenbahn mitwirken, wenn sie einen Notendurchschnitt von mindestens 2,0 nachweisen können. Es wird sich sogar in regelmäßigen Abständen vergewissert, dass sich die Schulleistungen nicht verschlechtern. „Nach einer sechsmonatigen Ausbildung dürfen wir alle Dienste vom Fahrkartenverkauf bis zum Fahrdienstleiter ausüben.“ Zwei Mal im Monat arbeiten die kleinen Freiwilligen für die Kindereisenbahn. Von Zeit zu Zeit werden auch Wochenendkurse belegt, um das Wissen zu vertiefen.
Den schulischen Leistungen tut dies offenbar keinen Abbruch. Im Gegenteil: Bence spricht fließend Englisch, lernt derzeit Deutsch auf einer österreichischen Schule und beginnt nun mit Französisch. „Die meisten von uns empfinden die Arbeit hier überhaupt nicht als Arbeit. Auch wenn der Alltag am Bahnhof oft hohe Konzentration erfordert, kommen wir mit Freude und haben Spaß als Team“, erzählt Bence. Das blaue, analoge Schnurtelefon klingelt. Bence nimmt den Hörer ab, gibt Anweisungen auf Ungarisch und notiert alles fein säuberlich in sein Berichtheft.
Ein Überbleibsel des Kommunismus
Im Jahr 1947 stand auch Ungarn vor der Herausforderung, das Land nach dem Krieg so schnell wie möglich wiederaufzubauen. In dieser Zeit reifte die Idee zum Bau einer Pioniereisenbahn, die das Bergland von Buda mit dem Stadtgebiet von Budapest verbinden sollte. Der Bau der 11,2 Kilometer langen Schmalspurbahn dauerte von 1948 bis 1950 – am 20. August 1950 fand dann die feierliche Eröffnung der Bahnstrecke statt. Wie es bei Pionierbahnen zur Zeit des Kommunismus so üblich war, arbeiteten mit Ausnahme des Lokführers ausschließlich Kinder und Jugendliche – ein Konzept, das hier bis heute besteht.
Da die Idee einer Kindereisenbahn von Anfang an in den Planungen der kommunistischen Partei enthalten war, hatten also auch Kinder die zweifelhafte Ehre, am Bau der Strecke mitzuarbeiten. Eine körperliche Arbeit, die heutzutage nicht nur rechtlich gesehen undenkbar wäre. Erst kürzlich erschien hierzu der ungarische Dokumentarfilm „Train to Adulthood“: drei Kinder aus proletarischen Verhältnissen an der Schwelle zum Erwachsensein werden hier mit der Realität des Kapitalismus konfrontiert – und alle drei sind Arbeiter einer Kindereisenbahn. Dabei bietet die Dokumentation auch Zeitsprünge zu kommunistischen Propagandafilmen, um den kontroversen Charakter der Einrichtung zu verdeutlichen. „Natürlich wurde im Kommunismus ein besonders hoher Wert auf Pionierprojekte gelegt. Aber abgesehen von ein paar Namensänderungen hat sich am Konzept der Kindereisenbahn kaum etwas verändert“, so Péter Kalóczkai, der 1997 selbst mit zehn Jahren bei der Eisenbahn angefangen hat. Heute ist er Zugführer. „Der positive Aspekt daran, dass der Kommunismus als Politik wegfällt, besteht darin, dass wir unseren gesamten Fokus heutzutage auf pädagogische Werte legen können.“ Zu diesen Maßnahmen zählen unter anderem jährliche Austauschprogramme mit Eisenbahnprojekten aus Berlin, Dresden oder Leipzig. Diese Sommercamps dauern meist acht bis zehn Tage. „Für mich ist der Begriff der Pioniereisenbahn veraltet. Wir von der Kindereisenbahn sind eine große Jugendorganisation mit 400-500 Kindern“, so Kalóczkai.
Eine touristische Attraktion für Groß und Klein
Die Kindereisenbahn Budapest genießt schon länger die Aufmerksamkeit von Touristen aus aller Welt und gilt als ideales Ziel für Familienausflüge. Kindern soll so die Faszination Eisenbahn nähergebracht werden – und das wesentlich lebendiger und realistischer als im heimischen Kinderzimmer. „Die Kleinen erleben einen solchen Ausflug einfach viel intensiver und aufregender, wenn Gleichaltrige vor Ort und beinahe für den ganzen Zugbetreib verantwortlich sind“, so Kalóczkai. Dabei können selbst Erwachsene noch viel über den Betreib und den Erhalt einer funktionierenden Eisenbahn lernen.
Die Station Hűvösvölgy ist öffentlich gut mit den Straßenbahnen der Innenstadt vernetzt. Die Fahrt vom Bahnhof Hűvösvölgy bis zur Endstation Széchenyihegy beinhaltet sieben Haltestellen und dauert ungefähr 45 Minuten, da die Dampf- und Diesellokomotiven auf der Strecke nur mit einer Geschwindigkeit von 20 km/h fahren dürfen. Doch die Langsamkeit gibt Raum für Muße: malerische Brücken wechseln sich hier mit den ausgedehnten Waldflächen ab, die nur von dem 198 Meter langen Hárs-hegy-Tunnel durchbrochen werden. Je nach Jahreszeit können die Besucher in offenen oder geschlossenen Wagons sitzen, denn der Eisenbahnverkehr ist ganzjährig in Betrieb. Die Natur und die Vegetation zeigt sich von ihrer besten – der Buda-Seite. Die meisten Touristen kommen dabei laut Kalóczkai aus deutsch- oder englischsprachigen Ländern sowie aus Russland und Polen.
Unterstützt und finanziert wird die Kindereisenbahn von der ungarische Staatsbahn MÁV. Die Zukunft der Einrichtung sieht der Zugführer diesbezüglich positiv: „Natürlich sind wir grundsätzlich von der Politik und den Entscheidungen der MÁV abhängig. Doch selbst, wenn diese Unterstützung, aus welchen Gründen auch immer, wegbrechen sollte, werden wir um jeden Preis versuchen, die Kindereisenbahn komplett ehrenamtlich aufrecht zu erhalten. Auch, um Beispielen wie in Berlin oder Dresden zu folgen“.