Die Orbán-Regierung ist vermutlich Europameister bei der Anzahl von Verstaatlichungen. Anfang 2012 war der Markt der Cafeteria-Leistungen an der Reihe. Jetzt steht dort der nächste gravierende Umbau an, nachdem Brüssel die ungarische Regulierung als unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht erklärte. Der Ministerpräsident hat bereits angedeutet, in welche Richtung er das System „mit etwas Mut“ reformieren möchte. Nur wollen nicht alle seinen Mut teilen.
Am 1. Januar 2012 gingen die SZÉP-Karte und die Erzsébet- Gutscheine an den Start, die den Markt bis dato beherrschenden französischen Kartenanbieter (Le Chéque Déjeuner, Sodexo und Edenred) wurden vom ungarischen Staat an den Spielfeldrand oder ganz außer Landes gedrängt. Die Zentralisierung der Cafeteria-Leistungen erstreckte sich auf Bereiche wie Urlaubsunterkünfte, Essensmarken und Freizeitangebote. Für die Arbeitgeber brachte das neue System Mehrbelastungen: Wegen einer höheren Bemessungsgrundlage mussten sie unter den Rechtstiteln Einkommensteuer und Gesundheitsabgabe an Stelle von früher ungefähr 20 fortan ca. 35-50 Prozent abführen. Der vergünstigte Satz blieb aber immer noch unter der Abgabenlast des bar ausgezahlten Arbeitslohns. Über vier Jahre hinweg konnte die Regierung das System der Cafeteria-Leistungen auf ihre Interessen feinabstimmen.
Nun hat der Europäische Gerichtshof am Ende des noch 2012 eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens befunden, einzelne Elemente des ungarischen Systems ließen sich nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbaren. Die Mühlen der EU-Bürokratie mahlen halt langsam. Die ungarische Regierung habe das Grundprinzip der Niederlassungsfreiheit verletzt und diskriminierende Rechtsnormen eingeführt, heißt es im Urteil. Die Orbán-Regierung nahm diesen wenig überraschenden Urteilsspruch vollkommen gefasst zur Kenntnis: Ihr Sprecher Zoltán Kovács erklärte auf einer Pressekonferenz nur zwei Stunden nach Bekanntwerden des Verdikts, man respektiere das bezüglich des ungarischen Cafeteria-Systems ergangene Urteil. Die Regierung werde ein neues System ausarbeiten, das den Anforderungen der Europäischen Union gerecht wird, aber in erster Linie die Interessen der ungarischen Bürger berücksichtige.
Erzsébet wird verteidigt
Im Prinzip umfasst das Cafeteria-System noch viele weitere Leistungen, von der Gesundheitsvorsorge über Weiterbildungen bis zum Bausparen oder Kredittilgen. Jeweils über eine Million Arbeitnehmer haben im vergangenen Jahr beispielsweise 100 Mrd. Forint in freiwillige Rentenkassen und 50 Mrd. Forint in Gesundheitskassen eingezahlt. Der Streit zwischen Budapest und Brüssel bezog sich aber auf die oben genannten Schlagerprodukte „SZÉP“ und „Erzsébet“. Dazu die Regierung: Das System der Erzsébet-Gutscheine werde um jeden Preis verteidigt, handelt es sich dabei doch um eine selbst im europäischen Maßstab erfolgreiche sozialpolitische Maßnahme.
Heute gewähren 48.000 Arbeitgeber landesweit mehr als zwei Millionen Menschen Erzsébet-Gutscheine. Im Rahmen des sozialen Erzsébet-Urlaubsprogramms konnten in den vergangenen Jahren mehr als 600.000 Ungarn, darunter die Hälfte Kinder, mit den Gutscheinen eine Urlaubsreise machen. Auch die SZÉP-Karte er freut sich großer Beliebtheit. Allein bei der größten Handelsbank des Landes, der OTP, waren zum Jahresende rund 975.000 SZÉP-Kartenbesitzer registriert, die 2015 Leistungen im Volumen von 64 Mrd. Forint über diese Karte in Anspruch nahmen. Bei der MKB Bank wuchsen die Einzahlungen der Arbeitgeber an SZÉP-Karteninhaber um ein Achtel auf 12,5 Mrd. Forint, bei der K&H Bank stieg die Zahl der Berechtigten um nahezu ein Fünftel. Über fünf Jahre hinweg erreichte das Auszahlungsvolumen bei den drei Partnerbanken insgesamt nahezu 300 Mrd. Forint.
Geldform wäre wohl am einfachsten
Unter diesen Vorzeichen warf Ministerpräsident Viktor Orbán Anfang März eine Öffnung des bisher im Verborgenen gehaltenen zweigleisigen Vergütungssystems in die Debatte ein. Zwei Wochen waren seit dem Urteil aus Luxemburg vergangen, der Premier eröffnete eigentlich das Wirtschaftsjahr der Ungarischen Industrie- und Handelskammer. Seine einstündige Rede drehte sich im Kern um den Staatshaushalt, dessen Stabilität auch dadurch gewährleistet bleibe, wenn hinter jeder Lohnerhöhung die wirtschaftliche Deckung stehe. In diesem Kontext sagte Orbán, man könnte als nicht eben herkömmliches Instrument der Lohnerhöhungen die Cafeteria- Leistungen in Bares umwandeln. „Wenn wir das Cafeteria-System wegen der Entscheidung der Europäischen Kommission ohnehin nicht aufrechterhalten können, wäre es wohl am einfachsten, diese Leistungen in Geldform zu gewähren“, erklärte der Ministerpräsident.
Es gehöre einiger Mut dazu, das Vergütungssystem transparent zu machen. Heute zahlten die Unternehmen einen Grundlohn, der auf die traditionelle Art und Weise besteuert und mit Abgaben belegt werde. Daneben werde weiterer Lohn gezahlt, auf den der Staat keine Steuern und Abgaben erhebt. Um die Löhne nun drastischer anzuheben, als es die wirtschaftliche Leistung ermöglichen würde, sollten die Cafeteria-Leistungen auf den „weiteren Lohn“ draufgepackt werden – im Gegenzug würde dieses Geld aber auch keine Rentenansprüche generieren. Das klingt nach einem typisch ungarischen Deal, nur das dieser Vorschlag etwas untypisch vom Regierungschef eingebracht wurde. Der nicht versäumte, seine Sorge hinzuzufügen, die „innovativen“ ungarischen Firmen würden vermutlich nicht den korrekten (besteuerten) Grundlohn anheben.
Wir hatten in der Vorwoche zu dem Orbán-Vorstoß angemerkt, er wolle wahrscheinlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, indem er das staatliche Monopol für einen begrenzten Kreis an Leistungen irgendwie aufrechterhält, während die Nettolöhne auf einen Schlag spürbar angehoben würden. Denn das ungarische Lohnniveau wirkt nicht mehr nur im Vergleich mit westlichen Verhältnissen beschämend, es kann sich auch in Bezug auf die Region Mittelosteuropas verstecken. Das hat etwas mit den hohen Abgabenlasten auf den Lohn zu tun, die im Falle Alleinstehender dem Arbeitnehmer kaum mehr als die Hälfte dessen belassen, was der Arbeitgeber als Bruttolohn sowie darüber hinaus in die Staatskasse zu zahlen hat. (Bei Familien stellt sich die Lage wegen der forcierten Vergünstigungen wesentlich günstiger dar.) Die Absicht ist also verständlich, doch wäre es richtig, Cafeteria- Leistungen bar auszuzahlen?
Cafeteria hat einen besonderen Wert
Die Arbeitgeber sehen den Vorstoß relativ gleichgültig, solange der Staat die Steuern und Abgaben nicht anrührt. Administrativ dürften sich sogar Erleichterungen ergeben. Allerdings werden Branchen sensibel berührt, deren Leistungen bislang mit SZÉP-Karte oder Erzsébet-Gutscheinen abgegolten werden konnten. Der Fremdenverkehr im Inland, das Hotel- und Gastgewerbe profitierten eindeutig von diesen bargeldlosen Leistungen. Kleinere Gästehäuser und Pensionen wickeln mittlerweile 20- 30 Prozent ihrer Umsätze bargeldlos ab. Den Einzelhandel wird die Umstellung eher nicht treffen.
Für den Schutz der Cafeteria als außertarifliche Leistungen sprach sich der Generalsekretär des Arbeitgeberverbandes VOSZ aus. Nach Ansicht von Ferenc Dávid stimuliere die Cafeteria einen gesellschaftlich nützlichen Konsum, diese Leistungen stellten einen besonderen Wert für die Arbeitnehmer dar und würden für geordnete Arbeitsverhältnisse sprechen.
Tarifverträge werden über den Haufen geworfen
Von Gewerkschaftsseite gab es nicht nur Proteste. Imre Palkovics von den Arbeiterräten pflichtete Orbán in der Argumentation bei, das niedrige Lohnniveau anzuheben. Nicht zu verachten sei der Bürokratieabbau, denn in der Zwischenzeit hat sich ein stattlicher Apparat gebildet, um den Vertrieb der Urlaubsschecks und der Lebensmittelgutscheine zu koordinieren. Die Liga-Gewerkschaften befürchten jedoch eine im Ergebnis verschlechterte Einkommensposition der Arbeitnehmer, deren künftige Rentenansprüche Nachteile erleiden könnten. Die erhoffte Lohnentwicklung sieht diese Gewerkschaft als fraglich an, weil nach ihrer Schätzung nur jeder vierte ungarische Arbeitnehmer heute überhaupt Cafeteria-Leistungen erhält. Die Liga teilt eine Sorge des Ministerpräsidenten, namentlich jene der „innovativen“ Firmen, die den Arbeitnehmern netto nicht mehr zahlen würden, während sie bei den Abgaben Geld einsparen könnten.
In einer gemeinsamen Stellungnahme verwiesen fünf Gewerkschaftsverbände auf den kritischen Umstand, wonach mit der Bargeldumstellung bestehende Tarifverträge und Lohngefüge über den Haufen geworfen werden. Bemerkenswerterweise würden manche Interessenvertretungen der Arbeitnehmer eine Rückkehr der internationalen Anbieter in das Cafeteria-System begrüßen, weil das die Voraussetzung für einen gesunden Wettbewerb sei. Die Orbán-Regierung hatte den Franzosen aber deshalb den Stuhl vor die Tür gesetzt, weil diese 18 Mrd. Forint an Gewinnen außer Landes transferierten.
Die Regierung will sich ab sofort wöchentlich mit dem Thema befassen und die Meinung der Arbeitgeber einholen, um bis spätestens zum Sommer die nötigen Entscheidungen treffen zu können. In diesem Jahr funktioniert das Cafeteria-System auf jeden Fall noch wie gehabt, die vorgenommenen Änderungen werden erst ab dem 1. Januar 2017 greifen.
Raffinierter nationalstärkungs Konjunkturplan wenn „Zusatzverdienste“ (extra zum Lohn) über solche Gutscheine ausschließlich in Ungarn eingelöst werden können, denn außerhalb der Landesgrenzen sind das nur bunt bedruckte Papierfetzen. Aber falls darauf keine Sozialabgaben oder Steuern enthalten sind, wird das dem Staat Ungarn nicht so viel Stabilität bringen, hinsichtlich der Renten- und Krankenversicherungsabsicherung. Da werden sich dadurch doch nur noch größere Lücken auftun.