Egal, ob sie ihr Ziel erreicht oder nicht, die Pädagogenbewegung ist für Orbán und die Seinen eine erschreckende Erfahrung. Mögen auch neue Grenzzäune und Nebenkostensenkungen kommen, man wird sich noch im Wahljahr 2018 an sie erinnern.
Redaktion der Magyar Narancs
Wenn wir die Verweise auf eine angebliche Urheberschaft von György Soros und Bezüge zur gescheiterten Linken sowie ähnlich bornierte Lügen abziehen, so bleibt als Spin der Regierung in Bezug auf die Lehrerproteste Folgendes: Es gibt den guten Lehrer, der seinen – nun ja – berechtigten Ärger wegen der Probleme im Bildungssektor und seine Unzufriedenheit ausdrückt, und es gibt den schlechten Lehrer, den die politische Motivation auf die Straße treibt.
Selbst der Nationale Rat der Pädagogen und der Landesverband der Familienorganisationen im Karpatenbecken (beide regierungsnah – Anm.) können nicht darüber hinwegsehen, dass die Beschaffung selbst einfachster Mittel für den Schulbetrieb oft Monate braucht; dass die staatlich herausgegebenen Lehrbücher voller inhaltlicher Fehler sind; dass das rechtlich einwandfreie Befolgen des sogenannten Systems für Selbstbewertung und dessen Administration den größten Teil der Zeit der Lehrer verschlingt.
Diese Dinge zählen auch innerhalb der Logik des Orbánschen Bildungssystems als unstrittige Defizite. Die aus dem Protest entstandene „Ich will unterrichten!” Bewegung (Tanítanék Mozgalom) und die Vertreter der größeren Gewerkschaften haben indes erkannt, dass selbst die effizienteste Behandlung der Symptome und die Perfektionierung des Systems nicht viel bringen würden. In einigen Bereichen ist es hingegen ausgesprochen gut, dass die lächerlichen Regeln höchstens auf dem Papier umgesetzt werden können; dies verhinderte bisher die massenhafte Entlassung der „geprüften” Lehrer und „Ethikverfahren” gegen renitente Kollegen.
Ganz gleich, ob sie Veränderungen auf Systemebene fordern, die Protestler bestreiten, dass ihre Forderungen einen politischen Hintergrund hätten. Vielleicht glauben sie dies wirklich, vielleicht ist es für sie von strategischem Vorteil, dies zu behaupten, und doch irren sie. Denn das Nationale Bildungssystem zeigt deutlich, was die Regierung Orbán für das wünschenswerte Funktionieren der Gesellschaft hält und wo sie darin den Platz des Individuums sieht. Die bis zum Rand mit veralteter Methodik gefüllten Lehrpläne, die Einheitslehrbücher, die strenge Kontrolle des servilen „Ablieferns” des Lehrstoffes, all dies zeichnet ein deutliches Bild, nämlich das Bild einer Schule, die nicht der Ort für selbstständiges Denken, den Dialog und das kreative Schaffen ist, sondern nur für die Weitergabe vorgefertigter Kenntnisse.
Die Senkung der Schulpflicht, das Verkümmern der Allgemeinbildung in den Fachschulen, ebenso das Scheiternlassen und Segregieren zeigen unmissverständlich den Platz, der den Kindern aus ärmeren Elternhäusern auf dem ungarischen Arbeitsmarkt zugedacht wird. Natürlich wäre es gut, wenn die kompetenzfundierte und Chancen bietende Bildung von einem gesellschaftlichen Konsens getragen würde, und die Schulen tatsächlich aus den scharfen politischen Kämpfen herausblieben. Doch die pädagogische Vision der Protestler ist unausgesprochen ein gegen das System Orbán gerichtetes politisches Programm.
Aus all dem lässt sich schließen, dass Orbán nur im Äußersten – vielleicht durch einen größeren Streik – zu grundlegenden Veränderungen zu bewegen wäre. Die Gewerkschaft der Pädagogen hat bereits mit den Vorbereitungen für die landesweite Arbeitsniederlegung begonnen, aber es steht zu befürchten, dass es schwierig sein wird, diese auch zu verwirklichen. Die Änderungen im Streikgesetz von 2010 hat mit dem Passus der „genügenden Dienstleistung” die Arbeitnehmer in eine schwierige Situation gebracht. Noch fraglicher aber ist, ob ein Teil der Forderungen dem Anspruch des Schutzes der wirtschaftlichen und sozialen Interessen der Pädagogen genügen (dies ist die rechtliche Definition des Streikgrundes durch das neue Streikgesetz). Natürlich kann behauptet werden, dass die Anhebung der Schulpflicht zurück auf 18 Jahre neue Stellen für Lehrer schaffen würde, aber wir alle wissen, dass dies nicht der wahre Grund hinter der Forderung ist.
Aber egal, ob sie ihr Ziel gar nicht oder nicht in Gänze erreicht, die Pädagogenbewegung ist für Orbán und die Seinen eine erschreckende Erfahrung. Die mehreren Zehntausend aufgebrachten Lehrer, die mehreren Hunderttausend mit ihnen solidarischen Eltern und die sich dem Wahlalter nähernden Schüler müssen hingegen erkennen, dass ihr Weltbild in einem entscheidenden Punkt dem des Fidesz grundlegend widerspricht. Mögen auch neue Grenzzäune und Nebenkostensenkungen kommen, auch im Wahljahr 2018 wird man sich noch daran erinnern.
Der hier wiedergegebene Kommentar erschien am 19. März in der Onlineausgabe des linksliberalen Wochenmagazins Magyar Narancs.
Aus dem Ungarischen von
Elisabeth Katalin Grabow