Ministerpräsident Viktor Orbán hat dieser Tage die Weisung ausgegeben, das Wirtschaftswachstum müsse unter allen Umständen auch in diesem Jahr wieder drei Prozent erreichen. Ungarn braucht die Konjunktur mindestens aus zwei Gründen: Das Land will endlich ausdrücklich der Schuldenfalle entweichen, perspektivisch wird zudem viel Geld für gigantische Vorhaben wie die Olympischen Spiele von 2024 benötigt.
Eigentlich sind sich nicht nur alle Experten dies- und jenseits des Regierungslagers einig, dass die Konjunktur 2016 an Schwung verliert. Die Regierung hatte selbst die Zielmarke von 2,5 Prozent ausgegeben. Nachdem sie die für 2015 anvisierten drei Prozent haarscharf verfehlte. Das Quartalswachstum war nach Angaben des Zentralamtes für Statistik (KSH) bereits Mitte 2015 einigermaßen unverhofft unter 2,5 Prozent abgetaucht, doch wurde im IV. Quartal ein Endspurt von 3,2 Prozent hingelegt, der das Jahreswachstum mit 2,9 Prozent doch noch nahe an den Zielwert hob. Tatsächlich hatte die Regierung alle Reserven mobilisiert, um beim Abrufen der EU-Fördermittel unglaubliche Rekorde aufzustellen und auf diese Weise den Investitionssaldo auszugleichen. Denn die Privatwirtschaft wandte sich von Ungarn als Investitionsstandort nach dem erfrischenden Lichtblick 2014, als die Investitionen um ein kräftiges Siebtel in die Höhe schossen, schon wieder ab. Ohne die öffentliche Hand, die in Grenzzäune, Krankenhäuser auf dem Lande, Schwimm- und Turnhallen, Kanalisationsanlagen und die Verwaltung investierte, wäre 2015 ein böser Einbruch erfolgt. Das verarbeitende Gewerbe investierte nämlich sechs, der Immobiliensektor sogar sieben Prozent weniger – die Investitionsquote fiel erneut auf dürftige 16,5 Prozent zurück.
Keine Neuschulden mehr
Woher nimmt Ministerpräsident Viktor Orbán also die Zuversicht, die Wirtschaftsführung auch für dieses Jahr wieder auf drei Prozent Wachstum einzustimmen? Vielleicht hat ihm ja sein alter Freund György Matolcsy das Zauberwort zugeflüstert. Der gehört demnächst zu den bestbezahlten Notenbankern Europas, was er mehr als verdient habe, denn der einmalige Einklang zwischen der Wirtschaftspolitik der Regierung und der Ungarischen Nationalbank (MNB), die gewissermaßen auf einer Wellenlänge reiten, lasse sich in barem Geld ausdrücken. Matolcsy zeigte sich also erkenntlich und verriet das Geheimnis des Erfolgs, das sich in vier Wendungen festhalten lässt. Die erste, maßgebliche Wende war natürlich die in der Wirtschaftspolitik, die mit dem Unwort „unorthodox“ abgestraft wurde, dafür aber umso bahnbrechender wirkte. Auf dieser Basis ließ sich die Wachstumswende vollziehen. Zunächst musste Matolcsy hier aber noch den Rückschlag einer „Mini“-Rezession hinnehmen, die 2012/13 über fünf Quartale andauerte, über die er heute jedoch geflissentlich hinwegsieht. Seit Mitte 2013 wächst Ungarn aber ungebrochen; vielleicht sogar im Zusammenhang damit, dass Matolcsy als Notenbankpräsident eine geschicktere Hand aufweist, als der naiv-optimistische Wirtschaftsminister Matolcsy. Faktisch parallel wurde die Wende an der Front der Auslandsschulden vollzogen, die das Land auf einem Niveau von 80 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) und einem jährlich rund vier Prozent des BIP verschlingenden Schuldendienst weitgehend handlungsunfähig machten. Am Jahresende 2015 war Ungarn bei 75,3 Prozent angelangt, stand also prozentual ungefähr fünfeinhalb Prozentpunkte besser als auf dem Tiefpunkt 2011 da. Nun möchte Orbán den nominalen Schuldenstopp, also einmalig für einen ungarischen Politiker keine Neuschulden mehr machen. Dabei helfen ihm die vollzogenen Wenden am Arbeitsmarkt und in der monetären Politik: Der Rekordstand von 4,2 Millionen Beschäftigten lässt die Staatseinnahmen bei Steuern und Abgaben sprudeln, der rekordniedrige Leitzins reduziert nochmals die Zinslasten für den Fiskus. Das neue Matolcsy-Zauberwort aber lautet: Wende in der Wettbewerbsfähigkeit. Die Notenbank wird eine Wirtschaftspolitik unterstützen, die gleichzeitig Gleichgewicht und Wachstum gewährleistet, was in diesen Breitengraden an sich schon für Zauberei gehalten wird.
Überschuss trotz Kopflastigkeit
Als Stabilitätsanker darf inzwischen die Haushaltsplanung der Orbán-Regierung angesehen werden. Für dieses Jahr ist ein Defizit von maximal zwei Prozent am BIP geplant, der noch im Frühjahr vors Parlament gelangende Haushaltsplan für 2017 könnte dem Vernehmen nach erstmals mit einem Nullsaldo erstellt werden. Im Moment liegen die Zahlen für die ersten beiden Monate vor, und die geben reichlich Anlass zu Selbstbewusstsein. Denn Ende Februar ergab sich ein historischer Überschuss von 15 Mrd. Forint. Vor einem Jahr hatte sich um diese Zeit bereits ein Defizit von 310 Mrd. Forint angehäuft, 2011 waren es nach zwei Monaten sogar schon 560 Mrd. Forint. Der bisherige „Bestwert“ rührt aus dem Krisenjahr 2008, als Ende Februar ein Minus von „nur“ 180 Mrd. Forint zu Buche schlug. Von einem positiven Saldo aber war selbst das noch weit entfernt. Doch nicht nur die üppige Differenz zwischen den früheren und den jetzt vorgelegten Zahlen lässt auf Gutes hoffen. Zwar bezeichnete Wirtschaftsminister Mihály Varga den ungarischen Staatshaushalt als „kopflastig“, also mit anfänglich höheren Ausgaben und zeitanteilig bescheideneren Einnahmen, was wiederum Überschüsse vor der Jahresmitte eigentlich nicht möglich machen würde. Bisher kommt es jedoch anders. Hinter dem kleinen Wunder stehen unter anderem die Steuereinnahmen, die in den ersten zwei Monaten um 130 Mrd. Forint (!) höher als eingeplant ausfielen.
Industrie wird gepäppelt
Als zentrales Element für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit hat die ungarische Regierung die Industrie ausgemacht. Deren Anteil am BIP soll im Rahmen des Irinyi-Plans von heute 24 Prozent bis 2020 zielstrebig auf 30 Prozent gesteigert werden. Damit würde Ungarn zu den am stärksten industrialisierten Mitgliedstaaten in der Europäischen Union aufsteigen. Im vergangenen Jahr legte die Industrieproduktion wieder um 7,5 Prozent zu und war einmal mehr ein maßgeblicher Wachstumsmotor der Wirtschaft. Im Januar trat freilich Ernüchterung ein, da die Automobilwerke die Weihnachtsferien offensichtlich etwas länger streckten und die hohe Basisleistung bei den Ausfuhren nicht wiederholen konnten. Die Aussichten für die kommenden Monate trübt zudem, dass Audi in Győr und Mercedes in Kecskemét im vergangenen Jahr an ihre Kapazitätsgrenzen stießen – selbst wenn Suzuki in Esztergom und Opel in Szentgotthárd auch in diesem Jahr noch zweistellig wachsen sollten, werden sie den Ausfall der beiden größten Akteure der Automobilindustrie in Sachen Wachstumsdynamik nicht kompensieren können. Die Regierung will der geliebten Industrie jedenfalls mit einer modernisierten Berufsausbildung, gestärkten Strukturen der dualen Ausbildung und Bürokratieabbau entgegenkommen. Neben der Industrie verspricht die angeschlossene Logistikbranche eine weitere Erfolgsgeschichte. Heute sorgen allein die Straßenspediteure für fünf Prozent der Haushaltseinnahmen. Diese Erlöse kommen bei weitem nicht nur auf dem heimischen Markt zustande; binnen zehn Jahren konnten diese Unternehmen ihre internationalen Frachtleistungen auf das Zweieinhalbfache steigern. Will die Logistikbranche den gleichen Stellenwert einnehmen, wie in modernen westlichen Ländern mit einem Beitrag zum Inlandsprodukt von 10-12 Prozent, müsste sie ihre heutige Wertschöpfung nahezu verdoppeln. Da tut sich ein weites Feld auf…
Cafeteria-Leistungen besser in bar ausgezahlt?
Ganz aktuell verspricht der Umbau des Cafeteria-Systems neue Chancen für die private Wirtschaft. Eigentlich veranlasste Brüssel auf Betreiben geprellter französischer Firmen nur die Rückkehr zu Wettbewerbsstrukturen bei der Kanalisierung von geldwerten Leistungen. Orbán ist aber offenbar entschlossen, die Flucht nach vorne anzutreten. Angedeutet hat er schon einmal, dass es mehr Sinn machen würde, den Arbeitnehmern die Cafeteria- Leistungen in bar auszuzahlen. Damit würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Der Nettolohn könnte 2017 auf einen Schlag deutlich zulegen, ohne das staatliche Monopol bei Erzsébet- und Szép-Karte aufs Spiel zu setzen (diese würden für Spezialbereiche wie Kinder und Urlaub verbleiben). Wie die Umstellung im Detail ausfallen soll, muss sich bis zum Sommer erst noch herauskristallisieren. Der Umgang mit dem Thema bescheinigt aber einmal mehr, worin eine Stärke der Orbán-Regierung besteht, die hier mal wieder aus der Not eine Tugend macht. Sich flexibel Ad-hoc-Maßnahmen zu bedienen, mochte häufig ungehobelt und nicht durchdacht erscheinen, mit den Jahren kommen die Wirtschaftslenker um Viktor Orbán, Mihály Varga und György Matolcsy aber in Übung, ihr Handeln lässt immer deutlicher einen stimmigen Generalplan erkennen.