Zurzeit lässt sich im Mai-Manó-Haus eine umfassende Kollektion ungarischer Neoavantgarde-Fotografien aus der privaten Sammlung des international bekannten, ungarischen Theatermachers Róbert Alföldi bestaunen. Der Titel „Vergangene Freiheit“ hält, was er verspricht. Die Werke führen uns in vergessene Tage und zeigen uns Situationen, die gewöhnlich nur hinter verschlossenen Türen zu sehen sind.
Fotografie ist heute oft inszeniert und überarbeitet, jeder Winkel ist bewusst gewählt. Der Blick durch die Linse zeigt uns die perfekte Welt, die wir so fleißig versuchen zu kreieren. Künstler der ungarischen Neoavantgarde wollten das Gegenteil: Sie probierten Bildnisse zu erstellen, die möglichst authentisch und wild sind. Neoavantgarde ist ein umstrittener Begriff, in der Ausstellung meint er ungarische Fotografie ab den 60er-Jahren. „Zu dieser Zeit gab es keine Erwartungen, keine Welttrends, keine Regeln: es gab nur die Freiheit. Grenzenlose kreative Freiheit“, meint Róbert Alföldi. Der ungarische Schauspieler und Regisseur stellt seine private Sammlung im Budapester Haus der Fotografie, Mai Manó, aus. Er besitzt eine beeindruckende Kollektion von über 500 Fotografien, 180 davon werden noch bis zum 3. April zu sehen sein. Er bezeichnet seine Beziehung zu den Werken als rein sinnlich. Durch Zufall stieß er auf Fotografien der ungarischen Neoavantgarde, seit diesem Zeitpunkt ist er Sammler. Süchtig nach Neufunden, die Adrenalin durch seine Venen pumpen.
Identität, Sinnlichkeit und Verunstaltung
Die Galerie stellt drei Motive in den Vordergrund: Identität, Sinnlichkeit und Verunstaltung. Ein Mann hält Sichel und Hammer hoch, eine Frau malt einen Davidstern, jemand trägt die Ungarnfahne – mit der Kamera gewappnet begeben sich die Künstler auf den holprigen Weg der Selbstbestimmung, auf die Suche nach Identität und dem Versuch erlegen, sich selbst kennenzulernen. Die Fotografie ist für sie das Raumschiff im Weltraum der Fragen. Die Linse ermöglicht einen neuen Blickwinkel. Ein Fotoapparat ist für jeden erschwinglich und zugänglich für alle. Die Simplizität von Fotografie lässt sie zu einem universellen Instrument werden; einem Instrument der Demokratie im sozialistischen Ungarn – der Schlüssel zur inneren Freiheit. Verunstaltung findet sich beim Rundgang durch die Ausstellung auf verschiedene Weise: Manche Fotografien sind beispielsweise gar nicht mehr als solche erkennbar. Es wurde geklebt und geschnippelt, die Collage-Technik ist ein beliebtes Mittel. Auf anderen sind jedoch die abgelichteten Personen verhüllt, unscharf oder ziehen eine Grimasse. Die Experimentierfreude steht im Vordergrund, die Artisten distanzieren sich von traditioneller Fotografie. Sinnlichkeit nimmt man in Form von Nacktheit wahr. Sexuelle Lust wird dargestellt, Leidenschaft zwischen Personen. Der Körper dient als Mittel, es wird ausprobiert, gespielt. Die Künstler benutzen ihren eigenen Leib, sie werden somit ein Teil des Kunstwerks selbst. So entstehen Bilder, die nicht nur einen persönlichen Touch haben, sondern totale Intimität propagieren. Fotografien, die uns zerstören, weil sie so ehrlich sind. Die Ausstellung gewährt uns einen unangenehm tiefen Einblick in Privatsphären. Es gibt keine Tabus: Geschlechtsteile, Blut, verstellte Körper. Als Besucher begibt man sich hier auf grenzwertiges Terrain. Die Ursprungsfrage scheint sich aufzudrängen: Wo beginnt Kunst? Ist Kunst all das, was von Künstlern kreiert wird? „Die Fotografien können aus heutiger Perspektive als masochistisch, pervers, respektlos, anzüglich oder selbstverstümmelnd bezeichnet werden, aber trotzdem finde ich, ist es unschuldiges Material. Es ist echt, es ist ehrlich, es ist, was wir sind“, kommentiert Róbert Alföldi die Auswahl der Werke.
Lust auf mehr
Die Fotografien zeigen uns einen kurzen Moment einer Ewigkeit, einen Ausschnitt aus einem Leben. Vielleicht kämpften die Künstler anno dazumal mit anderen Problemen, vielleicht haben diese Fotografien keine Allgemeingültigkeit – doch erinnern sie uns, dass wir vielleicht auch unser Leben unter die Linse nehmen sollten. Sie machen Lust nach Hause zu gehen, eine Kamera zur Hand zu nehmen und den Auslöser zu drücken immer und immer wieder. Die entwickelten Fotografien zu zerschnippeln, wieder zusammenzukleben und am Schluss mit Farbe darüber zu schmieren. Es macht Lust den Fotoapparat immer bei sich zu tragen und alles festzuhalten vom Liebesspiel bis zum verschlafenen Gesicht am Morgen. Als Abschluss alle Fotografien vor sich hinzulegen und darüber nachzudenken, wer wir heute sind, was uns bestimmt und welche Ängste uns spätnachts heimsuchen.
Mehr Informationen zur Ausstellung finden Sie unter www.maimano.hu
Ausstellung: 16. Januar – 3. April
Eintritt: 1.500 Forint