Vergangene Woche Dienstag kam es im Foyer des Nationalen Wahlbüros (NVI) zu einer ungewöhnlichen Szene. Während knapp zwei Dutzend glatzköpfige Muskelberge den Eingang versperrten, erschien MSZP-Politiker István Nyakó vergeblich. Wer glaubt, diese Szene sei an Absurdität nicht mehr zu übertreffen, der irrt gewaltig.
Zur Erinnerung: Für diesen Tag war die Entscheidung der Kurie über eine Referendumsfrage zum Sonntagsschluss erwartet worden. Nachdem die sozialistische MSZP beim letzten Mal bereits das Nachsehen hatte (die Umstände waren ähnlich obskur, die Budapester Zeitung berichtete), wollte man dieses Mal auf Nummer Sicher gehen und im Foyer gleich neben der Stechuhr warten. Doch auch jetzt sollte die Oppositionspartei nicht zum Zuge kommen, denn eine ältere Dame und zwei Dutzend muskelbepackte junge Männer hatten ebenfalls vor Ort Stellung bezogen. István Nyakó wurde, das belegen Videoaufnahmen, letztlich daran gehindert, als erster an die Stechuhr zu treten. Seitdem hat der Fall NVI nichts an Absurdität verloren.
Kurze Zeit Hoffnung für die MSZP
Denn tatsächlich gibt es für diese Stechuhrreihenfolge keinerlei rechtliche Grundlage. Wie das Nachrichtenportal index.hu aufzeigt, ist dies lediglich eine durch Ilona Pálffy, der Leiterin des NVI eingeführte Praxis, die, je nach Bedarf, Anwendung findet, oder eben nicht. Es geschah nämlich vor nicht allzu langer Zeit, dass die Sozialisten eine Frage als erste abstempeln lassen konnten. Die Freude währte allerdings nur kurz, denn der Nationale Wahlausschuss und später auch die Kurie entschieden, dass András Litresits die Frage unrechtmäßig abgestempelt hatte. Erstens, weil nicht er der Initiator war, sondern als Bote fungierte und zweitens, weil er durch seine dauerhafte Eintrittskarte ins NVI einen unlauteren Vorteil gegenüber seinem „Kontrahenten“ Zoltán Wodicska hatte, der erst durch das Einlassverfahren musste, bevor er die Frage einreichen konnte. Im Anschluss daran entschied sich Pálffy, eine Stechuhr aufstellen zu lassen. Doch genau an dieser scheiden sich nun erneut die Geister.
Am Sonntag veröffentliche die staatliche Nachrichtenagentur MTI die Meldung, Frau Pálffy würde doch beide Fragen, also István Nyakós und Frau Lászlóné Erdősis Frage ebenso vor den Nationalen Wahlausschuss bringen. Die Leiterin des NVI hatte nach deren Eingehen fünf Tage Zeit, um die Fragen auf formelle Gesichtspunkte zu prüfen und zur Zulassung vor den Wahlausschuss zuzulassen. Das Erstaunen über diesen Schritt am Sonntag war groß, stellt das Gesetz zu Referenden doch eindeutig klar, dass zu einem Thema (Sonntagsschluss in diesem Fall) nur eine Frage anhängig sein darf. Frau Pálffy hätte die Frage des Sozialisten also vom Fleck weg ablehnen müssen. Für einen kurzen Moment sah es also so aus, als ob der zeitlich unterlegene István Nyakó doch noch zum Zuge kommen könnte.
Am Montag wurden die Erwartungen sogar noch gesteigert. Wie index.hu berichtete, sei davon auszugehen, dass die Frage von Frau Erdősi abgelehnt würde, weil sie nicht eigenhändig die Stechuhr betätigt hatte. Die Ernüchterung ließ indes nicht lange auf sich warten.
Es hagelt Anzeigen
Mit einem Ergebnis von sieben zu fünf stimmte der Wahlausschuss am Montagabend dafür, die Frage von Frau Erdősi doch durchzuwinken. Damit stellte sich die Regierungsmehrheit im Ausschuss gegen die Empfehlung des Vorsitzenden András Patyi, der seine Kollegen dazu aufgefordert hatte, die zwar zuerst, aber unter mehr als fragwürdigen Umständen eingereichte Frage nicht zuzulassen. Die Begründung für die überraschende Entscheidung fügt sich nahtlos in die Reihe der absurden Erklärungsversuche von offizieller Seite ein. So erkenne der Ausschuss durchaus an, dass Nyakó in seinem Recht behindert wurde, allerdings falle die Ahndung dieses Rechtsbruchs nicht in die Zuständigkeit des NVI und hätte damit keinerlei Auswirkung auf die Entscheidungsfindung in Sachen Zulässigkeit der Frage, denn Frau Lászlóné Erdősi hätte die Situation nicht zu ihrem Vorteil genutzt.
Zum Glück sind sich zumindest die Mitglieder des Nationalen Wahlausschusses im Klaren darüber, dass im NVI Straftaten begangen worden sind. Die am Dienstag vergangener Woche kurz anwesende Polizei sah dies jedoch anders. Index fragte bei der Polizei nach und erhielt die fast schon komische Antwort: „Die vor Ort eintreffenden Polizisten sahen sich mit keiner von Amtswegen zu ahndenden Situation konfrontiert.“ Kurz und bündig. Dass nun aber doch zwanzig Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft zu den Vorfällen im NVI eingegangen sind, dürfte der Polizei nicht nur zu denken, sondern auch zu tun geben, denn die Staatsanwaltschaft hat in allen 20 Fällen um Amtshilfe seitens der Polizei gebeten. Diese hat nun 15 Tage Zeit, um der Staatsanwaltschaft die Informationen zukommen zu lassen, anhand derer sie entscheiden kann, ob Anklage erhoben werden soll, oder nicht.
„Megapeinlich“
Dass die Opposition reflexartig den Niedergang der Demokratie herbei visioniert, ist klar. Aber, dass selbst Politiker der Regierungsparteien nicht umhin kommen, die Tragweite der Geschehnisse mittlerweile einfach nur noch als „megapeinlich“ zu bezeichnen, spricht Bände. Gegenüber dem unabhängigen Nachrichtenportal vs.hu äußerten sich Fidesz-Politiker zumeist namenlos darüber, wie sie zur Causa NVI stehen. So zitiert das Blatt ein um Anonymität bittendes Mitglied der Regierungspartei mit den Worten: „Ich kann einfach nicht glauben, dass wir so dämlich wären und Schlägertrupps auf unsere Gegner loslassen.“ Auch als „schändlich“, „nicht hinnehmbar“ und „das Allerletzte“ bezeichneten Teilnehmer der Fidesz-Fraktionssitzung am Montag die Geschehnisse im NVI.
Einer der Wenigen, der auch mit Rang und Namen bereit war, über dieses Thema zu sprechen, war Staatssekretär László L. Simon, der sich immerhin „sehr erstaunt“ über die Geschehnisse zeigte. Das Portal vs.hu schreibt weiter davon, dass zwar alle Befragten mehr oder weniger ungläubig den Kopf schüttelten, jedoch ebenso sicher darin waren, dass „die inneren Funktionsweisen des Fidesz in Betracht ziehend, wohl kaum eine Untersuchung des Ganzen zu erwarten ist“. Premier Viktor Orbán wollte auf einer Pressekonferenz nicht weiter auf eine entsprechende Frage eingehen, bemerkte aber, dass es im NVI bereits mehrfach zu „unwürdigen Zwischenfällen“ gekommen sei und deswegen die Rechtsgrundlage geändert werden müsse, womit der Justizminister auch bereits befasst sei.
Mittlerweile hat sich bestätigt, was schon vergangene Woche Dienstag vermutet worden war: Die politisch interessierten Muskelprotze sind eng mit dem stellvertretenden Fidesz-Vorsitzenden Gábor Kubatov verbunden. Dieser ist nämlich nicht nur ranghohes Fidesz-Mitglied, sondern auch Präsident des Fußballclubs Fradi, dessen Sicherheitsdienst die Akteure vom Dienstag angehören. Kubatov selbst hüllt sich zum Vorfall in Schweigen.
Derweil wartete aber Nándor Csepreghy mit einer kruden Erklärung in der Causa NVI auf. Getreu dem geflügelten Wort „Cui bono“ vermutet der parlamentarische Staatssekretär aus dem Kanzleramt ganz ernsthaft die MSZP selbst als Drahtzieher. Auf einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag antwortete er nach möglichen Verbindungen zwischen dem Fidesz und den auf Kubatovs Gehaltsliste Stehenden folgendermaßen: „Aus den politischen Entwicklungen der vergangenen Tage lässt sich erkennen, dass die Opposition von dieser Sache profitiert. Logischerweise sollte also dort nach dem Ursprung gesucht werden, wo sich der Nutzen einer Aktion zeigt.“ Auch der Fidesz-Fraktionsvorsitzende Lajos Kósa stößt in dieses Horn und nennt den vermeintlichen Ursprung beim Namen: „Den Fidesz hinter all dem zu sehen, ist eben nur eine Vermutung. Anhand des politischen Nutzens ist es wahrscheinlicher, dass die Sozialisten das Ganze so angezettelt haben, dass daraus auf jeden Fall künstlich generierter Stress wird.“
Bei diesen Äußerungen fällt es schwer, auf eine lückenlose Aufklärung der Geschehnisse zu hoffen. Es bleibt also nichts, als abzuwarten, ob die rein aus „politischem Interesse“ initiierte Frage der fidesz-nahen Frau Erdősi letztlich zum Referendum zugelassen wird, oder nicht. Bisher sind aber seitens der Initiatorin noch keine Schritte in Richtung Unterschriftensammlung bekannt geworden. Sicher ist nur, dass die Frage des Sonntagsschlusses nun erneut für Wochen, wenn nicht gar Monate für eine wirkliche Volksbefragung gesperrt ist.
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