Die Proteste der Pädagogen brachten in den vergangenen Wochen eine Welle der Zustimmung ins Rollen. Die Forderungen – anders als von Regierungsseite behauptet – drehen sich keinesfalls vordergründig um Lohnerhöhungen für Lehrer, sondern vielmehr um eine Neugestaltung des Rahmenlehrplans und den Abbau von Administration. Doch wie stellt sich die Situation für Lehrer, Eltern und Schüler im Alltag dar?
Béla (alle Namen geändert) ist einer der wenigen jungen Männer im Lehrberuf. Schon vor dem Abitur wusste er, dass er Lehrer werden will, derzeit ist er Klassenleiter einer Grundschulklasse. In den vergangenen Jahren hat sich viel verändert, sagt er: „Das Gesundheits- und das Bildungssystem sind am Boden, dabei sind das zwei der Grundpfeiler einer gut funktionierenden Gesellschaft. Ich bin froh, dass die Proteste der Pädagogen jetzt so in den Fokus der Öffentlichkeit geraten sind.“ Denn die Regierung nutze die Hingabe und den Idealismus der Pädagogen schamlos aus: „Wir Lehrer lieben unseren Beruf, in meiner Klasse sind 28 fantastische Kinder, die mir unheimlich viel Energie geben und genau darauf baut die Regierung, dass wir aus Leidenschaft einfach alles schlucken. Damit ist es jetzt aber vorbei.“
Doch was genau brachte das Fass letztlich zum Überlaufen? Béla berichtet, was ihn am meisten stört: „Klar, diese 26 Pflicht-Wochenstunden klingen super, plus noch Sommerferien und alle möglichen Feiertage, an denen nicht unterrichtet wird. Aber ein durchschnittlicher Tag beginnt morgens um 8 in der Schule und endet nicht vor 17 Uhr. Diese 26 Pflichtstunden verteilen sich bei mir auf 14 Unterrichtsstunden und 12 Stunden Aufsicht im Hort.“ Allerdings gehört zu jeder Unterrichtsstunde bei Béla auch die entsprechende Vor- und Nachbereitung, sodass sich diese Anzahl schnell verdoppelt oder gar verdreifacht.
Ressourcenknappheit so weit das Auge reicht
Doch nicht nur hier sieht der junge Pädagoge große Probleme: „Als ich (schon unter der Orbán-Regierung Anm.)
anfing zu unterrichten, gab es Gehaltszuschüsse für Vertretungsstunden. Zwar war mein Einstiegsgehalt nicht hoch, aber mit den zusätzlichen Stunden kam ich gut hin.“ Doch damit war es im Rahmen der vergangenen Bildungsreform vorbei. Jetzt müssen 26 Stunden unterrichtet werden, zusätzliche sechs Stunden muss ein Lehrer noch in der Schule sein – und muss gegebenenfalls kranke Kollegen ohne Lohnkompensation vertreten. „Das bedeutet, wir können pro Woche zu einem zusätzlichen Unterrichtstag ohne zusätzliches Geld abgestellt werden – auf Zuruf.“
Doch nicht allein die Stundenzahl belastet den Pädagogen, auch die überbordende Administration raubt ihm viel Energie: „Ich muss Buch darüber führen, wann ich die Schule erreiche und wann ich sie verlasse – genau dasselbe macht aber auch der Portier bei uns. Außerdem gibt es die sogenannten „administrativen Bögen“, die wir dreifach ausfüllen müssen, was vollkommen sinnlos ist. Dann haben wir das digitale Klassenbuch. Bisher haben wir das Magister-System benutzt. Jetzt sind wir gerade in einer einmonatigen Übergangszeit, in der nicht etwa beide genutzt werden können, sondern wir jetzt alles wieder auf Papier schreiben.“
Papier ist aber generell ein schwieriges Thema, denn der Nachschub ist ungewiss: „Die Gerüchte, dass Papier und Kreide in den Schulen fehlen, stimmen tatsächlich.“ Als die Schulen noch durch die Selbstverwaltung der Bezirke getragen wurden, und nicht durch das Schulverwaltungszentrum KLIK hatte jede Schule ein Budget, mit dem die Leitung wirtschaften konnte.“ Béla erklärt anhand eines Beispiels, mit welchen Absurditäten die Lehrer inzwischen zu kämpfen haben: „Unsere Schulleiterin war vergangene Woche im KLIK um Tafelmarker zu bestellen. Sie wollte einen Karton voll, nehme ich an. Bekommen hat sie vier Stück. Für die gesamte Schule.“ Kreide für die alten Tafeln ist keine Alternative, „außer, wenn Eltern uns welche bringen.“
Das verheerendste Urteil fällt Béla jedoch über die Lehrbücher: „Selbst zu Rákosi-Zeiten gab es zwei Bücher, zwischen denen man als Lehrer wählen konnte. Heute erlauben die finanzielle Situation und die Verstaatlichung des Lehrbuchmarktes nur ein einziges Buch pro Fach und Jahrgang. Zudem seien die Lehrbücher auch noch schlecht. Sie sind voller Rechtschreibfehler und einfach viel zu vollgestopft, wir können nicht so viel Stoff unterrichten.“
„Oft sind die Eltern gefordert“
Laura ist Mutter einer elfjährigen Grundschülerin. Ihre Einschätzung der Situation deckt sich an vielen Stellen mit der der Lehrer: Die Kinder sind schlicht überlastet. „Meine Tochter hat täglich sieben Stunden, sie ist von morgens halb acht bis nachmittags halb drei in der Schule. Sie kommt gegen drei heim, isst Mittag, weil die Schulspeisung einfach ungenießbar ist, ruht sich ein wenig aus und setzt sich dann noch einmal zwei bis drei Stunden zum Hausaufgabenschreiben hin. Zum Spielen bleibt da keine Zeit mehr, selbst nach dem Abendbrot kann sie ihr Lieblingsbuch nicht weiterlesen, weil sie mit dem Buch in der Hand einschläft.“
Lauras Tochter ist dabei eine herausragende Schülerin, dies liegt jedoch viel am Einsatz der Mutter, denn die Eltern sind immer mehr gefordert im Schulalltag: „Die Sprache der Schulbücher, ihre Logik ist einfach unter aller Kanone, das kann das Kind nicht verstehen. Also setze ich mich als Mutter mit hin, und erkläre meinem Kind die Wörter im Buch, die es vorher gelesen hat. Oft ziehe ich noch andere Bücher zu Hilfe, wir gehen in die Bibliothek, aber oft stoße ich selbst als Erwachsener an meine Grenzen, ich bin kein Pädagoge, ich kann einige Sachen nicht gut erklären, das ist auch nicht mein Beruf. Zum Glück kenne ich mein Kind so gut, dass ich um seine Schwächen und Stärken weiß und versuche dort zu helfen, wo ich kann.“
Oft fehlt auch einfach die Zeit, sich tiefer in ein Thema einzuarbeiten, „obwohl gerade in Geschichte meine Tochter oft Lust hätte, mehr zu erfahren.“ Hinzu kommt, dass die Fächer nicht aufeinander abgestimmt sind: „Warum beispielsweise lernt mein Kind Durchschnittstemperaturen, wenn im Matheunterricht noch nicht behandelt wurde, wie man einen Durchschnitt berechnet?“ Einen weiteren Kritikpunkt sieht die Mutter in vielen Lehrbüchern: Die permanenten Verweise aufs Internet. „Theoretisch finde ich diese Online-Querverweise gut und wichtig, schließlich leben wir im digitalen Zeitalter. Auf der anderen Seite wird aber von überall vor den Gefahren für Kinder im Netz gewarnt.“ Drei Lösungen sieht Laura hier: Entweder ein Filterprogramm auf dem heimischen Gerät, was aber auch die Internetmöglichkeiten anderer Nutzer einschränkt, oder die andauernde Aufsicht der Eltern während das Kind surft, oder eben ein eigenes Gerät fürs Kind. „So wirklich überzeugen tut mich aber keine der Alternativen“ gesteht sie.
„Wir schlafen im Unterricht schlicht ein“
Anna geht in die elfte Klasse eines Budaer Gymnasiums. Auch sie nimmt an den Karohemd-Protesten teil und wünscht sich grundlegende Änderungen im Bildungssektor. Sie weiß, dass es auch viel von der Persönlichkeit des Schülers abhängt, wie er den Schulalltag erlebt, doch viele ihrer Mitschüler klagen über ähnliche Beschwerden: „Wir bekommen oftmals schon nicht einmal mehr mit, wie überlastet wir sind.“ Drei Mal die Woche dauert der Schultag länger als bis 16 Uhr, zehn Unterrichtsstunden pro Tag sind keine Seltenheit in diesem Jahrgang, „und dann haben wir fakultative Stunden, Nachhilfe oder Extra-Sprachunterricht sind noch nicht mit eingerechnet“.
Ein stetiger Quell des Stresses ist beispielsweise der tägliche Sportunterricht für sie: „Wir haben 18 Klassen in der Schule, aber nur eine Turnhalle. Klar, dass wir nicht jeden Tag in der Halle sein können. Stattdessen wird die Stunde dann auf dem Schulflur oder in der Aula gehalten.“ Auch die Situation in den theoretischen Fächern ist nicht besser: „Oft können die Lehrer nicht an die Tafel schreiben, weil es keine Marker oder Kreide gibt, kopieren können sie uns aus Mangel an Papier nichts.“ Dabei ist auch die Menge an Lehrstoff schlicht zu viel, Anna ist keineswegs faul und schafft es trotzdem nicht, sich auf jede Stunde bestmöglich vorzubereiten.
Viele ihrer Klassenkameraden und auch sie selbst verbringen das Wochenende oft mit Lernen statt damit, sich zu erholen. Das zeigt sich auch im Schulalltag: „Viele von uns schlafen einfach im Unterricht ein oder verbringen die Stunde mit auf der Bank liegendem Kopf. Und nicht, weil wir uns langweilen oder weil wir nicht mitarbeiten wollen, sondern weil wir einfach zu erschöpft sind.“ Besonders dramatisch ist es im Herbst und Winter: „Viele von uns gehen selbst mit Fieber noch zur Schule, weil wir ansonsten keine Chance hätten, die Masse an Lehrstoff aufzuholen und all die Arbeiten zu schreiben, die wir verpassen würden. Wir gehen lieber mit 39 Grad Fieber zur Schule, als dass uns der Stoff über den Kopf wächst.“
Änderungen sind unumgänglich
Die anwachsenden Proteste der vergangenen Wochen haben gezeigt, bei den Lehrerdemonstrationen geht es nicht einfach nur um die Forderungen einer weiteren Berufsgruppe, sondern um die Zukunft des ungarischen Bildungssystems.
Ich ersuche Dr. Orban Viktor, ein neues, besseres Konzept für die Schulen erarbeiten zu lassen, das besser auf Lernende im Kinder- und Jugendalter abgestimmt ist. Auch bei den Lehrmaterialien sollte man Auswahlmöglichkeiten haben. Vitae, not scholae discimus. Sed scholae pro hominibus sunt. Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Aber Schulen sind für die Menschen da.
Ingmar
von/aus Österreich+Ungarn
Mag. Peitl
Orbán hat keinen Doktor. Er hat einen Schlagstock.