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Premier Viktor Orbán informiert über den EU-Gipfel. Die Visegrád-Staaten überschätzen ihre eigenen Möglichkeiten und setzen so ihren künftigen politischen Einfluss in Europa aufs Spiel. (Foto: MTI)
Der Tweet von Donald Tusk vom vergangenen Montag über die Fragilität der britischen (oder auf europäisch: UKinEU) Reformpaketverhandlungen, über die Unzulässigkeit und historische Konsequenz eines Misserfolges verdeutlichte immens, was für dramatische Zeiten die europäische Integration heute erlebt. Zwei brennende Probleme – das oben erwähnte britische Reformpaket und die aktuellen Herausforderungen des Flüchtlingskrisenmanagements –, drohen, das Schiff der Integration an den Rand des Abgrunds zu führen. Ein Versagen im ersten Fall könnte die Chance eines Brexits dramatisch erhöhen. Im zweiten Fall wird besonders die deutsche Flüchtlingspolitik und die deutsche Führungsposition in Europa in Frage gestellt.
Im Bewusstsein, dass es sich keine Misserfolge erlauben kann, ist Europa aber anscheinend gewachsen. Nicht unabhängig von den langwierigen Vorbereitungsgesprächen, aber doch in letzter Minute, wies die Europäische Union nach, dass die europäische Integration heutzutage genau so funktioniert, überlebt und sich weiterentwickelt, wie sie es während der vergangenen sechsundfünfzig Jahre schon immer getan hat. Denn die EU verkörpert ein Europa der Kompromisse.
Obwohl die so genannten Visegrád- Staaten nicht so einheitlich in der Flüchtlingsfrage auftreten, wie es sowohl die westlichen als auch die ungarischen Medien während den letzten Tagen und Wochen behaupteten, mehr noch sich in einigen Fällen sogar ziemlich gespalten zeigen, kann man die offensichtlichen Parallelen kaum verleugnen – siehe zum Beispiel die innenpolitische Instrumentalisierung der Flüchtlingskrise. Nach der alt-europäischen Interpretation zeigen die Visegrád-Staaten zwölf Jahre nach ihrem EU-Beitritt kaum eine Bereitschaft für Kompromissfähigkeit, Solidarität und gemeinsame Verantwortung; jene Werte eben, zu denen sich der Europäische Rat mit seinen jüngsten Entscheidungen bekannt hat.
Aus westlicher Sicht bestätigte der Visegrád- Gipfel am 15. Februar den negativen Eindruck, der die individuellen und gemeinsamen Schritte und Äußerungen der tschechischen, polnischen, slowakischen und ungarischen Regierungen während den vergangenen Monaten bereits hinterlassen hat. Es lohnt sich deshalb, etwas genauer zu betrachten, wie erfolgreich sich dieser offene Konfrontationskurs der Visegrád-Staaten erwiesen hat, und ob sie dadurch ihre realen oder vermeintlich zentralen Interessen im Europäischen Rat durchsetzen konnten.
Plan B gescheitert
Die Visegrád-Staaten signalisierten ihre Konfliktbereitschaft in der Flüchtlingsfrage schon im Voraus. Ihr Plan B, also insbesondere die Ausgrenzung Griechenlands vom Schengen-Raum durch die Abschottung der mazedonischen und bulgarischen Grenzen, attackierte gemeinsam mit der vorbehaltlosen Ablehnung von Flüchtlingskontingenten aus der Türkei ganz offensichtlich die zwei wichtigsten strategischen Fundamente der deutschen Flüchtlingspolitik: die Einheit des Schengenraums und die Umsetzung des EU-Türkei- Aktionsplans. Demzufolge ist es schon mehr als verständlich, dass diese Pläne in Berlin zu einem gewissen Ungemach gegenüber den Visegrád-Staaten führten. Obwohl die gemeinsame Erklärung des Visegrád- Gipfels die Position der vier Länder zumindest stilistisch etwas abgeschwächt hat, konnten die, auch durch vorangegangene Presseerklärungen, verursachten außenpolitischen Schäden nicht mehr rückgängig gemacht werden. Umso weniger, wenn man bei dem Text zwischen den Zeilen ließt – kann man doch die Abschottung der griechischen Grenze auch hinter dem Plan B erahnen, auch wenn dies in dem Dokument, expressis verbis, nicht erwähnt wird.
Nicht überraschend lässt sich also bereits erkennen, dass die deutsche Europaund Außenpolitik die Visegrád-Staaten nicht mehr als Aufmerksamkeit und Verständnis suchende Partner, sondern als Herausforderer und Störenfriede ansieht. Es war nicht nur kontraproduktiv, sondern auch faktisch überflüssig, Berlin herauszufordern. Denn den Kontingentplan der „Koalition der Willigen“, den Viktor Orbán in seiner Rede in Lillafüred als alle EU-Staaten bindende, „deutsch-türkische Verschwörung“ bezeichnete, legte Frankreichs Premier Valls schon zwei Tage vor dem Visegrád-Gipfel wieder in die Schublade. Entweder traten die Regierungschefs der Visegrád-Staaten hier provokativ und bewusst noch einmal nach oder sie waren ganz einfach vom innenpolitischen Machtkalkül motiviert und missachteten den Schaden, den sie damit in den Beziehungen zu Deutschland und der EU verursachen.
Was erreichten die Visegrád-Staaten also in Bezug auf die Flüchtlingspolitik während des EU-Gipfels? Absolut nichts. Der Themenkomplex wurde einfach auf die nächste Sitzung des Europäischen Rates vertagt. Zwar erwähnt die Abschlusserklärung des Gipfels die Kontingent-Lösung in keiner Form, doch betont sie die Implementierung des EU-Türkei-Aktionsplans und den Zusammenhalt des Schengenraums. Neben allen existierenden Mängeln unterstreicht das Dokument die zunehmenden Erfolge der „Hotspots“. Selbstverständlich gehören diese Gesten auch zu einem gewissen Pflichtrepertoire gegenüber Griechenland. Offensichtlich ist jedoch, dass sich die Visegrád-Staaten mit ihrem Plan B nicht durchsetzen konnten. Der einzig sichtbare „Erfolg“ war die zunehmend negative Beurteilung seitens Berlin. Griechenland, wie schon absehbar, bekam einen Aufschub bis Ende April/Anfang Mai, wo man dann wieder über die Verlängerung der Kontrollmaßnahmen an den Schengen-Binnengrenzen entscheiden muss. Die Visegrád-Premierminister fuh ren den Konfrontationskurs so intensiv, dass sie die dynamischen Veränderungen der politischen Tagesordnung nicht rechtzeitig bemerkten, und ihnen so auch nicht folgen konnten. Sie investierten bemerkenswerte politische Ressourcen in einem Thema, ohne maßgebliche Erfolge aufzeigen zu können, während sie den Konflikt zwischen ihren Ländern und der europäischen Führungsmacht damit vertieften. Das führte schon in kürzester Zeit dazu, dass die Visegrád-Staaten ihre wichtigste Forderung bezüglich des britischen Reformpakets nicht durchsetzen konnten. Was wiederum anders aussehen könnte, wenn sie nicht auf zwei Hochzeiten auf einmal getanzt hätten.
Rebellion mit Konsequenzen
Entscheidend sind allerdings die langfristigen Konsequenzen. Die Lage Deutschlands ist zweifellos nicht einfach; dennoch überschätzen die Visegrád-Staaten ihre eigenen Möglichkeiten und setzen so ihren künftigen politischen Einfluss in Europa aufs Spiel. Wenn Deutschland den Fehdehandschuh aufnimmt, und einige Hinweise deuten schon in diese Richtung, kann das schnell zur Isolation des Visegrád- Bündnisses in der EU führen. Denn: Berlin ist nicht von Emotionen gesteuert. Die strategische Leitlinie deutscher Europapolitik lautet: „die Bude (verstehe: die EU) zusammenzuhalten“. Das wird die Bundesregierung wohl kaum mit kleinen politischen Rachefeldzügen gefährden wollen. Trotzdem wird die Rebellion der Visegrád-Staaten nicht ohne Konsequenzen bleiben. Was vor allem Bratislava beunruhigen sollte, da die Slowakei in der zweiten Jahreshälfte 2016 die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird. Doch aktuell sieht man kaum Anzeichen dafür, dass das Land sich auf die Rolle des „ehrlichen Maklers“ vorbereiten würde, was in dieser Position zu erwarten wäre.
Der „fair deal“ mit Großbritannien ist dabei nicht nur auf der Ebene politischer Deklarationen, sondern auch unter anderen Gesichtspunkten europarechtskonform. Das Vereinigte Königreich wird nicht mehr zur Teilnahme an einer immer enger werdenden Integration verpflichtet – so kann sie diese aber auch gleichzeitig nicht mehr blockieren oder untergraben. Dies ist ein wichtiges Ergebnis in Anbetracht der kürzlich angenommenen Römischen Deklaration der sechs Gründerstaaten, welche eindeutig signalisiert, es sind noch Kräfte und Mitgliedstaaten in der EU zu finden, die die Antworten auf die aktuellen Herausforderungen in europäischen Lösungen und in einer noch tieferen Integration sehen. Der geplante „Notbremse-Mechanismus“ beinhaltet unter anderem die Möglichkeit der Mitgliedsstaaten, Kürzungen sozialer Dienstleistungen für EU-Bürger und Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten durchzuführen. Auch die Indexierung der Kinderbetreuungsgelder auf das tatsächliche Aufenthaltsland ist Teil des Plans – beide Punkte verletzen keine erworbenen Rechte. Denn diese Maßnahmen gelten entweder nur für Neuankömmlinge, oder, wie im Fall der Indexierung von Kinderbetreuungsgeldern, erst nach dem 1. Januar 2020 für Altantragsteller. Als weiteren wichtigen Teilerfolg kann man erwähnen, dass der „Notbremse-Mechanismus“ die Auszahlung von Sozialdienstleistungen zwar für vier Jahre lang begrenzen, aber doch nicht völlig aussetzen kann. Auch nationale Kompetenzen sollen hier keine Rolle spielen, entscheidet doch nach Stellungnahme der Europäischen Kommission letztendlich der Rat der EU in dieser Frage. Die Anwendung des Mechanismus nach dem Antrag des betroffenen Mitgliedstaates ist also definitiv nicht zwangsläufig.
In dem entscheidenden Punkt, dem Geltungsbereich der Notbremse, zogen die Visegrád-Staaten eindeutig den Kürzeren. Die Regierungen in Warschau, Prag, Bratislava und Budapest hätten es gern gesehen, wenn die Notbremse nur als eine ausschließlich für das Vereinigte Königreich geltende Sonderregelung angenommen worden wäre. Nach der Entscheidung des EU-Gipfels können aber alle Mitgliedstaaten von der Notbremse Gebrauch machen. Das bedeutet, dass sogar Deutschland, Österreich oder andere EU-Mitglieder auf ihrem eigenen Staatsgebiet künftig die Sozialdienstleistungen von polnischen, tschechischen, slowakischen oder ungarischen Arbeitnehmern und Bürgern begrenzen können, wenn diese mutmaßlich eine unverhältnismäßig große Last für den öffentlichen Haushalt darstellten. Bedeutet das nun eine strategische Niederlage für die Visegrád-Staaten? Nicht unbedingt, aber sicher eine sehr schmerzhafte. Eine Niederlage, die man doch hätte vermeiden können, wenn man einer fokussierten und kompromissreifen Europapolitik statt dem innenpolitisch motivierten Konfrontationskurs gefolgt wäre – und Anstrengungen nicht zwischen der Flüchtlingspolitik und dem britischen Reformpaket verplempert hätte. Die angeblich verfallende Europäische Union hat hier erneut bewiesen, dass sie auch weiterhin fähig ist, wichtige Kompromisse zu schließen, die ihre Existenz fortlaufend sichern. Die Visegrád-Staaten hingegen sind noch weit entfernt von dieser wohlüberlegten Kompromissbereitschaft – und dieser Reifeprozess wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen.
Die gekürzte, ungarische Version des Textes erschien am 25. Februar am Seiten der Wochenzeitschrift Magyar Narancs.
Daniel Hegedüs Programmmitarbeiter, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin