Von Reynke de Vos
Man schreibt den 19. Januar 1946. In dem von sechs Hundertschaften Polizei umstellten Budaörs, einem Budapester Vorort mit deutschem Ortsnamen Wudersch, werden die „Schwaben“ aus den Betten geholt. Nur das Allernötigste dürfen sie zusammenklauben, bevor sie zum Gemeindeamt getrieben werden, wo man ihre Namen mit auf Listen rubrizierten vergleicht. Weiter geht‘s zum Bahnhof. In bereitstehenden Viehwaggons verlassen 1.058 Bewohner die Ortschaft; am 30. Januar kommen sie in Aalen, 80 Kilometer östlich Stuttgart, an. Ein zweiter Transport mit 1.054 Menschen erreicht am 1. Februar Göppingen. So geht es Schlag auf Schlag: Binnen fünf Wochen sehen sich 6.753 Wuderscher wie Vieh nach Württemberg und Baden verfrachtet. General Lucius D. Clay will sich persönlich von der Einhaltung der von der Alliierten Kontrollkommission erlassenen Bestimmungen überzeugen. „Die Ausgewiesenen“, notiert der amerikanische Oberbefehlshaber nach Ankunft der ersten Züge in seiner Besatzungszone, „wurden ohne Proviant und nur mit dem notdürftigsten Gepäck versehen, zusammengestellt; hungrig und armselig kamen sie an.“ Nicht zuletzt auf Clays Protest hin wird das
Transportund Aufteilungsregime etwas gemildert. Die Amerikaner schicken bisweilen Züge zurück, weigern sich schließlich sogar, weitere Vertriebene in ihrem Besatzungsgebiet aufzunehmen, sodass die Austreibung der Deutschen aus Ungarn ins Stocken gerät. Erst am 22. Juni und am 23. August 1947 gehen daher aus Wudersch die beiden letzten Transporte ab, nach Hoyerswerda, in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ). Hernach ist Budaörs, von dessen 9.814 Einwohnern sich 8.448 in der Volkszählung vom 21. Dezember 1941 zu ihren deutschen Wurzeln bekannt hatten, „frei von Schwaben“. So auch im benachbarten Budakeszi: In vier Transporten müssen 3.800 „Schwaben“ im März 1946 ihr Wudigeß in Richtung Süddeutschland verlassen. Dorf für Dorf, Komitat (Bezirk) für Komitat, in denen die Schwaben (ung. „svábok“ – klassische Sammelbezeichnung für in Ungarn lebende Deutsche) seit Generationen leben, leeren sich. In besagter Volkszählung hatten 477.057 Personen „deutsch“ als ihre Volks- oder Sprachzugehörigkeit angegeben; 136.847 Staatsbürger deutscher Nationalität verließen ungarischen Quellen zufolge bis zum 1. September, weitere 24.789 bis Dezember 1946 Ungarn. General Clay hielt 168.000 als Zahl der Ankömmlinge in seinem Besatzungsgebiet fest. Auf seine Anordnung hin endete am 1. Dezember 1946 die „Aussiedlung“ (ung. kitelepítés) – so der beschönigende amtliche Sprachgebrauch – in den amerikanisch besetzten Teil Deutschlands. Zwischen Frühjahr 1947 und Sommer 1948 verbrachte man daher gut fünfzigtausend Deutsche aus Ungarn in die SBZ, von denen viele bald den Weg in die Westzonen wählten. Vertriebene, Kriegsflüchtlinge und Heimkehrer aus der Sowjetunion, wohin 64.000 zur Zwangsarbeit deportiert worden und von denen 16.000 zu Tode gekommen waren, machten insgesamt 225.000 Ungarndeutsche aus, soweit sie in der Bundesrepublik als Ausgesiedelte amtlich registriert worden waren.
Fragwürdige Rolle der Alliierten
Die Vertreibung selbst war in der Verordnung Nr. 12 330 amtlich bekannt gemacht und im Ungarischen Staatsanzeiger (Magyar Közlöny) Nr. 211 vom 29. Dezember 1945 veröffentlicht worden: „Aufgrund des Beschlusses der Regierung und der Alliierten Kontrollkommission vom 20. November 1945 über die Umsiedlung der deutschen Bevölkerung Ungarns nach Deutschland wird verfügt: Zur Umsiedlung sind jene ungarischen Staatsbürger verpflichtet, die sich anlässlich der letzten Volkszählung zur deutschen Nationalität oder Muttersprache bekannt haben oder die ihren magyarisierten Namen wieder in einen deutsch klingenden umändern ließen, ferner diejenigen, die Mitglied des Volksbundes oder einer bewaffneten deutschen Formation (SS) waren.“ Die Anordnung berief sich auf die Legitimierung durch die Konferenz von Potsdam (17. Juli bis 2. August 1945). In Punkt XIII des dort geschlossenen Abkommens heißt es: „Die drei Regierungen haben die Frage von allen Seiten beleuchtet und sind zu der Ansicht gelangt, dass eine Überführung der deutschen Bevölkerung oder von deutschen Bevölkerungselementen, die in Polen, der Tschechoslowakei oder in Ungarn geblieben sind, nach Deutschland vorgenommen werden muss. Sie sind sich darüber einig, dass dies auf eine geordnete und humane Weise geschehen soll.“ Aus Sitzungsprotokollen der Alliierten geht gleichwohl hervor, dass die Vertreibung der Ungarndeutschen ursprünglich gar nicht vorgesehen war. Völlig unerwartet für Generalmajor William S. Key, den Vertreter der Vereinigten Staaten (nach dem 5. Juli 1946 Brigadegeneral George Hatton Weems), sowie für Generalmajor Oliver P. Edgcumbe, der Großbritannien vertritt, wird das Thema am 16. Juni 1945 auf die Tagesordnung gesetzt. Sowjet-Marschall Kliment Jefremowitsch Woroschilow, Leiter der Alliierten Kommission, unterbreitet das Ersuchen der ungarischen Regierung um „Repatriierung der Schwaben in ein von der Grenze des Landes weit entferntes Gebiet“. Edgcumbe will das gesamte Vorhaben genauer definiert wissen, es ähnele eher einer Deportation (Zwangsverschickung) als einer Repatriierung (Rücksiedlung). Woroschilow ist einverstanden, in späteren Sitzungen ist stets von Deportation, bisweilen auch von Vertreibung (expulsion) die Rede.
Anordnung oder Genehmigung?
Dass die „Aussiedlung der Schwaben“ somit nicht, wie in Ungarn jahrzehntelang offiziell dargestellt, eine Folge der (sie hernach gutheißenden) Beschlüsse von Potsdam gewesen, sondern von seiner damaligen Regierung in die Wege geleitet worden ist, beweist auch das alliierte Sitzungsprotokoll vom 25. Januar 1946. Demnach führte die Formulierung „auf Weisung der Siegermächte“ zum Einschreiten. Key trug vor, er habe Klagen gehört über die Auswahl der zu Deportierenden und über das Verfahren als solches. Der amerikanische General schlug vor: Da die vom späteren Staatspräsidenten Zoltán Tildy, einem reformierten Pfarrer, unterzeichnete Verordnung vom 29. Dezember 1945 behaupte, die Aussiedlung geschehe „auf Anordnung der Alliierten Kontrollkommission“, müsse der Text in „mit Genehmigung“ derselben umgeändert werden, denn die ungarische Regierung habe sie von sich aus beantragt. Woroschilow fand sich sofort zur entsprechenden Anweisung bereit und fügte an, er werde „auch in der für die ungarischen Zeitungen bestimmten Veröffentlichung klarmachen, dass die Deportation das Ergebnis eines von der ungarischen Regierung gestellten Antrags“ sei. Es sind auch nicht, wie häufig behauptet, die Kommunisten allein gewesen, die die Ungarndeutschen kollektiv büßen ließen. Alle den „Schwaben“ geltenden Maßnahmen – Enteignung, Entrechtung, Vertreibung, Umsiedlung Verbleibender innerhalb Ungarns – wurden zwischen 1945 und 1947 ergriffen, als in der Regierung überwiegend ungarisch- nationale Parteien das Sagen hatten. Am 4. November 1945 fand die Wahl zur Nationalversammlung statt. Von den 4.730.409 abgegebenen gültigen Stimmen entfielen 2.697.508 auf die Partei der Unabhängigen Kleinlandwirte (57,03 Prozent), auf Sozialdemokraten 823.314 (17,41), Kommunisten 802.122 (16,95), Nationale Bauernpartei 325.284 (6,87), Demokratische Partei 76.424 (1,62) sowie auf die Radikale Partei 5.757 Stimmen (0,12 Prozent). Von den sechzehn Ministern der ersten Nachkriegsregierung stellten die Kommunisten vier. Verschwiegen werden darf auch nicht, dass just mit Beginn der kommunistischen Alleinherrschaft im Lande (1948) nichtungarischen ethnischen Gemeinschaften erste Erleichterungen zuteil wurden. Und ausgerechnet der Stalinist Mátyás Rákosi sollte 1950 alle von Vorgängerregierungen gegen die verbliebenen Deutschen erlassenen Gesetze aufheben.
„Deutsches Gift“
Selbstredend war den aus Moskau zurückgekehrten führenden ungarischen Kommunisten der Gedanke kollektiver Bestrafung nicht fremd. Enthalten war er im Konzept für eine radikale Bodenreform, das Imre Nagy, seinerzeit Agrarreferent der „Moskowiter“, vor Bildung der provisorischen Regierung in Debrecen 1944 ausgearbeitet hatte. Es sah vor, „Vaterlandsverräter, Kriegsverbrecher, Mitglieder des deutschen Volksbunds und Personen, die in der Wehrmacht gedient haben, vollständig und entschädigungslos zu enteignen“. Andererseits propagierten nationalistische Kreise Ungarns die „Kollektivbestrafung der Schwaben“. Besonders die Nationale Bauernpartei rührte die Trommel. Generalsekretär Imre Kovács wetterte auf einer Versammlung am 7. April 1945: „Endlich kann Ungarn sein Verhältnis zu Deutschland und zu den Schwaben bereinigen. Die Schwaben haben sich selber aus dem Körper der Nation herausgerissen und in allen ihren Taten bewiesen, dass sie mit Hitler-Deutschland fühlen. Nun sollen sie auch Deutschlands Schicksal tragen. Wir werden sie aussiedeln.“ Und „Kis Újság“, Parteiorgan der Kleinlandwirte, stimmte ein: Das „deutsche Gift“ müsse „ausgeleitet, das deutsche Geschwür aus dem nun heilenden Körper der Nation herausgeschnitten“ werden, hieß es in der Ausgabe vom 18. April 1945.
Nationalisten, Turanisten
Für solcherart Nationalismus, der sich zu Kriegsende gegen die „Schwaben“ Bahn brach, hatte schon im neunzehnten Jahrhundert kein Geringerer als István Graf Széchenyi, „der größte Ungar“, die Richtung gewiesen. Sie mündete in Rassismus. Széchenyi betrachtete „die Verbreitung des Ungarntums als heiligste Aufgabe eines jeden Magyaren“. Leute wie er vermochten die nationalen Leidenschaften der Ungarn zu wecken, und bisweilen verwandelten sie sich in Hass gegen alles Deutsche. Sándor Petőfi war dagegen ebenso wenig gefeit wie andere ungarische Dichter, so József Eötvös, János Arany, Endre Ady und Dezső Szabó: Letzterem galt „der Deutsche als Feind des Ungarn schlechthin“. Die Gründe hierfür sind vornehmlich im völkischen Nationalismus zu suchen. Der fand im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert auch unter den Magyaren fruchtbaren Nährboden und seinen Niederschlag in der Propagierung des „Turanismus“, des Bekenntnisses zur Zugehörigkeit zu den turanischen Völkerschaften: der Turkvölker, Mongolen, Finno-Ugrier, Kaukasier, Mandschu, Samojeden, Tungusen, Japaner und Koreaner, die mythisch überhöht und literarisch verherrlicht wurden. Magyarentum vollendete sich in den Augen der Turanisten nicht allein in der Beherrschung der ungarischen Sprache, sondern zumal in der Zugehörigkeit zu ebendieser Rasse. Assimilierte konnten nach dieser Anschauung keine vollwertigen Ungarn werden, deshalb galt: „Wer nicht assimiliert ist, hat in Ungarn nichts zu suchen.“ Vorsitzender der „Turaner“ war Pál Graf Teleki. Der zweimalige Ministerpräsident nach dem Ersten Weltkrieg sagte von sich: „Ich bin Asiate und stolz darauf.“ Nach Teleki, der durch Selbstmord endete, führte Jenő Cholnoky die „Ungarische Gesellschaft der Turaner“ (Magyarországi Turán Szövetség), die sich vornehmlich gegen Deutsche, Juden und Zigeuner wandte. In den „Turanischen Liedern“ des Árpád Zempléni, einer Art Nachdichtung von historischen Sagen und Heldengesängen, die unter der Intelligenz Ungarns hoch im Kurs stand, galten Deutsche als „arische Teufel“. Weshalb sich Desző Szabó in Analogie zur verklärten Staatsbildung im Mittelalter für eine „neue, endgültige innere Landnahme der Magyaren“ aussprach und zu diesem Zweck als erstes Mittel „die rassische Säuberung der Umgebung der Hauptstadt“ propagierte. Und sein jüngerer Schriftstellerkollege Gyula Illyés befand, die „Schwaben“ seien „von den Habsburgern in der Absicht angesiedelt worden, die Ungarn zu unterwerfen und zu germanisieren“; daher könne man sie „getrost vertreiben“. Dies war kein Hinderungsgrund für die Alfred Toepfer Stiftung F.V.S., ihn 1970 mit dem (zwischen 1964 und 2006 stets an der Universität Wien verliehenen) Herder- Preis auszuzeichnen.
Den zweiten und letzten Teil dieses Artikels lesen Sie in unserer nächsten Ausgabe.