Dass der Fidesz während der zweiten Orbán-Regierung (2010-2014) in Sachen Ausbau der „materiellen Basis“ der Partei voll durchstartete, entbehrte nicht einer gewissen ethischen Rechtfertigung. Immerhin ging es darum, den historischen Rückstand zum Erzrivalen, den Sozialisten wettzumachen und endlich eine Art Chancengleichheit in der politischen Arena herzustellen. Während die Sozialisten bis dato über ein riesiges Netz an wohlgesonnenen und daher spendenwilligen Firmen, an Auslandskonten und internationalen Förderern verfügten, sah die materielle Basis beim Fidesz bis 2010 vergleichsweise bescheiden aus. Und was nützen die schönsten Ideen, wenn man am Ende etwa seine Rechnung für Großplakate nicht bezahlen oder gewisse Wählergruppen nicht mit kleinen Gefälligkeiten an die Wahlurne locken kann!
Die Jahre 2010 und 2014 handelten daher von einer radikalen Aufholjagd des Fidesz in Sachen Finanzen. Nicht noch einmal sollte eine Wiederwahl an zu klammen eigenen Kassen, oder halt an zu üppig gefüllten der Gegenseite scheitern. Gleichsam zum Synonym für die wirtschaftliche Konsolidierung der Partei wurde der Name des gerissenen Fidesz-Kassenwarts István Simicska. Selbiger machte seinen Job so gut, dass die Finanzen des Fidesz bei den Parlamentswahlen 2014 kein Thema mehr waren und die Partei aus dem Vollen schöpfen konnte. Ein ungewollter Nebeneffekt von Simicskas erfolgreichem Kurs war jedoch dessen proportional dazu gewachsenes Selbstbewusstsein. Als am Ende die Gefahr bestand, dass er möglicherweise verkennt, von wessen Gnaden sein Firmenimperium derart prosperieren konnte, und er seinem Gönner Orbán über den Kopf zu wachsen begann, wurde er kurzerhand abgesägt. Vor einem Jahr fand der krachende Showdown der beiden Kontrahenten statt. Über die genauen Gründe dafür wird seither eifrig gemutmaßt.
Orbán hat aus seinem Fehler gelernt. Statt nur auf einen Simicska zu setzen und sich damit eine entsprechend große Abhängigkeit, sprich Erpressbarkeit ins Haus zu holen, lässt er seitdem mehrere „Simicskas“ hochkommen – logischerweise mit einen entsprechend geringeren Pro-Kopf-Erpressungspotenzial. Das Problem ist nur, dass sie allesamt mindestens ebenso hungrig sind wie der ursprüngliche Simicska, Ungarn aber nicht reich genug ist, gleich eine ganze Truppe an neuen Oligarchen auszuhalten. Außerdem will sich in diesem System der Günstlingswirtschaft keiner in falscher Bescheidenheit üben. Denn beim Kampf um staatliche Aufträge zurückzustecken und nicht jede erdenkliche Möglichkeit der Bereicherung schamlos auszunutzen, hieße Schwäche zeigen, sprich sich als nächster Abschusskandidat zu empfehlen. Dies führt wiederum zu einem Automatismus, der sich immer mehr verselbständigt und sich in einem immer maßloseren Abgreifen von Staatsgeldern niederschlägt.
Das Problem ist nur, dass es in Ungarn freie Medien gibt und diese sich durchaus für die Bereicherungen der neuen Emporkömmlinge interessieren. Die Bevölkerung hat also vom Treiben im Hinterhof des Fidesz mehr als nur eine vage Ahnung. Ein weiteres Problem ist, dass immer mehr Ungarn partout nicht einsehen wollen, dass der Machterhalt des häufig als gar nicht so unsympathisch empfundenen Fidesz unbedingt mit dem kometenhaften Aufstieg von immer mehr neuen Fidesz-Oligarchen einhergehen müsse. Gleichzeitig kommen hingegen immer mehr Ungarn auf den Gedanken, dass es etwa zwischen den Zuständen im Gesundheits- und im Bildungswesen und den klingelnden Kassen bei den neuen Fidesz-Günstlingen einen gewissen Zusammenhang geben könnte.
Der anfangs zu Recht als notwendige Bedingung für den Machterhalt des Fidesz geltende Aufbau einer loyalen Wirtschaftselite könnte sich langsam als kontraproduktiv erweisen und vielleicht sogar die Macht des Fidesz schmälern. Die beiden maßgeblichen und in Sachen Korruption sauberen Fidesz-Widersacher LMP und Jobbik werden sicher keine Gelegenheit ungenutzt lassen, den Fidesz permanent an seiner momentan verwundbarsten Stelle zu treffen. Die Idealisten innerhalb des Fidesz dürften die gegenwärtige Entwicklung mit Grauen verfolgen – siehe dazu auch unser Interview mit dem ehemaligen Fidesz- Kommunalpolitiker Ákos Hadházy. Allein auch sie haben es in der Hand, die Sicherung der wirtschaftlichen Basis ihrer Partei wieder in geregelte, nachhaltige Bahnen zu lenken. Das nachhaltigste wäre es freilich, wenn der Fidesz so weit wie möglich auf die nie ganz uneigennützige Hilfe von Oligarchen verzichten würde. Immerhin ist jeder von ihnen eine tickende Zeitbombe. Doch Oligarchen gestützt auf Oligarchen entmachten? Vielleicht gelingt Orbán ja auch dieses Kunststück!
Aus den Erfahrungen mit 70 Jahren parlamentarischen Demokratien in €uropa muss man zu dem Schluss kommen, dass JEDE Partei ihre Klientelpolitik betreibt und das häufig gegen den Mehrheitswillen der eigenen Bevölkerung. Die einzigste Überlebenschance für die Demokratie ist die direkte Demokratie wie sie in der Schweiz praktiziert wird. Nur wenn das Volk direkten Einflass auf (fast) ALLE Sachentscheidungen bekommt, kann es die gravierendsten Fehlentwicklungen verhindern. €uropa hätte heute weniger Probleme, wenn es demokratischer wäre. Im Moment bestimmen die Banken und die Großinvestoren alleine über das Schicksal €uropas.