Logistik ist schön und schwer zugleich, ein Fach, das sich außerordentlich rasant verändert und wo es neben dem gründlichen Wissensschatz ebenso darauf ankommt, seelisch vorbereitet zu sein. Denn wer auf dem Weg an seinen Logistikarbeitsplatz am Morgen noch glaubt, die Welt ist in Ordnung, wird sich schnell getäuscht sehen. Das meint jedenfalls Professor Péter Földesi, Rektor der István-Széchenyi-Universität Győr und Lehrstuhlleiter des Lehrstuhls für Logistik und Speditionswesen.
Nun stelle man sich ein riesiges Unternehmen vor, das über fünf Millionen Quadratmeter Flächen verfügt, dessen 11.500 Mitarbeiter im vergangenen Jahr sage und schreibe zwei Millionen Motoren und 160.000 Autos produzierten. Logistiker bei der Audi Hungaria Motor Kft. zu sein muss wunderschön und verdammt schwer sein. Nehmen wir nur das Motorenwerk, das weltweit größte, wo 4.500 Mitarbeiter in der Produktion täglich 8.850 Motoren fertigen, die sich in 200 Motorvarianten aus 14.400 Bauteilen zusammensetzen. Dass diese Bauteile zur richtigen Zeit in der richtigen Menge an der Montagelinie eintreffen, ist nicht nur den 740 Zulieferern zu verdanken, sondern nicht minder den 250 Logistikern, die ebenso beim Wareneingang ins Werk für eine gescheite Ordnung sorgen, wie beim Warenausgang der fertigen Motoren an 30 Kunden.
Ungarisches Know-how exportiert
In Győr wird beispielsweise der auf Global Engine getaufte Motor EA888 gebaut, von dem es weltweit und jährlich zwei Millionen Einheiten gibt. Die Logistiker aus der ungarischen Industriestadt an der Raab versehen den globalen Bedarf für diese Motorenfamilie. So wurde gewissermaßen ungarisches Know-how exportiert, als binnen fünf Jahren vier neue Motorenwerke in China und ein weiteres in Mexiko entstanden, die allesamt aus Győr gesteuert werden.
Vom Automobilwerk, das erst Mitte 2013 in Győr eingeweiht wurde, könnte man gerne sagen, es stecke noch in den Kinderschuhen. Nur dass die Kapazitätsgrenze von 160.000 Einheiten im abgelaufenen Jahr im Dreischichtbetrieb bereits erreicht wurde. Auf Flächen von zwei Quadratkilometern verteilen 173 Logistikingenieure (sogenannte indirekte Mitarbeiter) und 49 physisch tätige Logistiker täglich 12.000 Teile aus dem Einkauf in einem Volumen von 15.250 Kubikmetern, die von 888 Serienzulieferern eintreffen. Zwanzig Zulieferer „atmen gemeinsam mit uns“, sagen die Audi-Logistiker über jene Partner, die just in time anliefern. Ganz und gar nicht gleichgültig ist, ob die Bauteile per Lkw oder auf dem Schienenweg eintreffen – am Ende des Tages sollen jedenfalls 640 Pkw der vier Modelle A3 Limousine, A3 Cabriolet, TT Coupé und TT Roadster versandfertig sein. Um diese Volumen zu stemmen, wollen Tag für Tag 350 Lkw und 55 Eisenbahnwaggons entladen sowie 310 Lkw und 55 Waggons beladen sein.
Die erste Brücke in Privatbesitz
Mitten auf dem Werkgelände finden Rangierarbeiten statt, die sich im Umfang mit jenen am Hauptbahnhof von Győr messen können. Sogar eine eigene, 800 Meter lange Überführung für den ungehinderten Autoverkehr wurde angelegt, bei der es sich dem Vernehmen nach um die erste Brücke in Privatbesitz in ganz Ungarn handelt.
Um mit den Fahrern der am Werktor eintreffenden Lkws optimal kommunizieren zu können, wurde ein sogenanntes Telematik-System eingeführt. Mittels eines kleinen Steuergeräts, das in vielen Sprachen kommunizieren kann, wird der Fahrer mit Anweisungen in seiner jeweiligen Muttersprache durch das Werkgelände geleitet. Bei Audi sieht man alles: Wo der Lkw gerade unterwegs ist oder wie es mit der Warenverladung vorangeht. Das Telematik-System ermöglicht eine effektive Lkw-Steuerung online, die für geringere Durchlaufzeiten sorgt. An den Abladestellen hilft eine mit RFID-Technologie unterstützte Visualisierung dabei, dass der getaktete Verkehr auf der Route eingehalten wird. Die Materialverfolgung geschieht schon ab Wareneingang vollständig online, wozu RF-Scanner im Einsatz sind.
Den prozesssicheren Ablauf der Motorenfertigung im größten Motorenwerk der Welt unterstützt das neue Warenkorb-Materialversorgungskonzept in der V8/V10 Motorenmontage. Man muss sich eine Art Servierwagen vorstellen, ein diesem ähnli- ches Gefährt ziehen die Mitarbeiter an den Regalen mit den Teilen entlang. Auf dem Wagen zeigt der Monitor des integrierten Computers genau an, welche Bauteile aktuell für die Motormontage benötigt werden. Das Einsammeln der Teile fällt nicht schwer, weil eine grüne Lampe an den Teilelagern signalisiert, welches Bauteil jeweils auszuwählen ist. Wenn der Behälter mit allen benötigten Teilen gefüllt ist, geht der Warenkorb gemeinsam mit der Palette in die Fertigung – so werden Linienbestände minimalisiert, Fertigungszeiten reduziert und die Ergonomie weiter verbessert.
Hochlager, Kommissionierung, Laser-Pointer
Nicht nur in der Motoren-, sondern auch in der Automobillogistik wurden clevere Lösungen eingeführt, um die Prozesse optimieren zu können. Die Abteilung der Fahrzeugsteuerung ist für die kontinuierliche und ausgeglichene Produktion zwischen den Gewerken des Karosseriebaus, der Lackiererei und der Montage zuständig. Die Mitarbeiter überwachen durchgängig die Störfaktoren der Produktion und greifen, wo es notwendig wird, direkt ein.
Eine andere Lösung zur Gewährleistung einer effizienten und stabilen Produktion ist ein vollautomatisches Hochlager für Karossen. Die Kapazität dieses Lagers beträgt mehr als 500 Karossen und lässt eine beliebige Reihenfolge der Auslagerung zu. Um die richtigen Bauteile an die Linie liefern zu können, werden mehrere komplexe Prozesse nötig, die stabil laufen und einander unterstützen. Einer der wichtigsten Schritte dieser Prozesskette ist die Kommissionierung, eine gesteuerte Zusammenstellung von Bauteilen. Zu diesem Prozess gehört eine technische Unterstützung, die Audi-intern Pick-by-Voice genannt wird und möglicherweise einen Vorläufer zur papierlosen Fahrzeugindustrie darstellt. Das Logistiklager des Fertigungszentrums für Versuchsmotoren bietet einen Einblick in eine alternative Prozessgestaltung. Denn dort gehen nicht die Mitarbeiter die Ware abholen, sondern werden die Teile zu den Mitarbeitern gebracht – jedenfalls lautet so die genaue Definition des Güteraufzugs. Das neue Liftsystem im Sonderlager verbessert die logistische Behandlung von mehr als 1.700 verschiedenen Einzelteilen für die Kleinserienfertigung der Vorserien- und Entwicklungsmotoren. Seit der Aufzug in Betrieb genommen wurde, konnte der Platzbedarf um 130 Quadratmeter reduziert werden. Die Kommissionierung läuft dreimal schneller als zuvor ab; dank „Laser-Pointer“- System und Online-Visualisierung wurden die Prozesse zugleich sicherer gestaltet. Unter Kommissionierung versteht man in der Fachsprache den Vorgang, wenn der Aufzug die Anweisung erhält, ein gewisses Bauteil zu beschaffen.
Den nächsten außergewöhnlichen Schauplatz stellt der Steuerungsraum dar. Von diesem Raum aus sichert die Steuerung der Fahrzeugfertigung einen fortlaufenden und ausgewogenen Betrieb von Karosseriebau, Lackiererei und Montage. Auf den riesigen Monitoren an den Wänden sollten im Optimalfall überall grüne Lampen aufleuchten. Die Farbe Grün wirkt zurecht beruhigend, denn sie zeigt an, dass es nirgendwo Störungen oder Probleme gibt.
Zwei riesige Hallen zur Optimierung der Logistik
Die Logistiker operieren mit minutiösen Vorgaben: Wenn beispielsweise der Bestand an V6-Dieselkolben im Serienlager an der Montagelinie unter den Anzeigenstand von 310 Minuten gefallen ist, wird eine automatische Lieferanforderung generiert. In dem Moment setzen sich Gabelstapler im Logistikzentrum in Bewegung, um die abgerufenen Teile auf sogenannte Pendeltransporter zu verladen. Diese Transporter sind im 15-Minuten-Takt zwischen Logistikzentrum und Montagelinien unterwegs. Unter dem „Logistikoptimierungscenter“ verstehen wir tatsächlich zwei riesige Lagerhallen, LOC1 und LOC2, die außerhalb des Werkgeländes angesiedelt sind.
Das LOC2 mit 80.000 Quadratmetern Fläche wurde im September vorigen Jahres übergeben, weil das 2013 praktisch parallel zum neuen Automobilwerk eingeweihte LOC1 mit seinen 75.000 Quadratmetern bereits aus allen Nähten platzte. In den zwei riesigen Hallen sorgen 1.200 Mitarbeiter auf Flächen, die nahezu 100 Fußballfeldern entsprechen, für einen Warenumschlag von täglich mehreren zehn Millionen Euro. Das zweite Zentrum erhielt gleich noch einen direkten Gleisanschluss für Zulieferungen aus dem Stammwerk Ingolstadt, die somit ohne Umladungen auf dem Schienenweg antransportiert werden können. Die Dimensionen des permanenten Warenumschlags verdeutlicht das im LOC2 angelegte Leergutlager, das alleine 25.000 Quadratmeter in Beschlag nimmt und sowohl der Motoren- als auch der Fahrzeuglogistik dient.
Logistik bei Audi ist also ähnlich innovativ wie die Haupttätigkeitsprofile der Motoren- und Automobilproduktion. Deshalb bleibt die Entwicklung nicht bei grünen Motoren und Modellen stehen, auch die Logistik wird „grün“: Zum Jahresende startete das neue geothermische Kraftwerk bei Pér, so dass der Wärmeenergiebedarf des Logistikzentrums fortan klimaneutral gedeckt wird – immerhin sprechen wir hier von 8.000 MW Leistung jährlich. Und bereits gibt es Pläne, die Stromversorgung auf Solarenergie umzustellen. Wie sagte doch der Professor: Logistik ist ein Fach, das sich rasant verändert.