Wer längere Zeit in Ungarn lebt, stößt immer wieder auf Relikte der engen Verbundenheit von Ungarn und den deutschsprachigen Ländern, seien es österreichische Gebäude, deutsche Speisekarten oder ungarndeutsche Traditionen. In Budapest gibt es darüber hinaus einen besonders exotische Zeugen dieser Verbundenheit: deutsche Studentenverbindungen.

Ungarische Studentenverbindungen aus Ödenburg (Sopron) und Donauneustadt (Dunaújváros), die die studentischen
Traditionen der ehemaligen Bergbauakademie
in Schemnitz (Selmecbánya, in der heutigen Slowakei) pflegen.
Studentenverbindungen? Davon hat wohl jeder schon einmal gehört, aber die wenigsten wissen Genaues. Das mag daran liegen, dass Verbindungen an den meisten deutschen Universitäten keine große Rolle mehr spielen. In Deutschland gibt es derzeit noch rund 1.000 Verbindungen in denen etwa 150.000 Akademiker organisiert sind. Ihre Blütezeit hatten Studentenverbindungen allerdings unter den deutschen und österreichischen Kaisern, als in Städten wie Bonn bis zu 60 Prozent aller Studenten „korporiert“ waren. Damals gab es auch auf dem Gebiet des heutigen Ungarn zahlreiche Korporationen, die jedoch spätestens mit der Machtübernahme durch die Kommunisten allesamt untergingen. Nach der Wende gab es an verschiedenen Orten den Versuch, an die alten Traditionen anzuknüpfen.
Lebendige Tradition
So gibt es neben ungarischen Studentenverbindungen, die vor allem die bergmännischen Traditionen der ehemaligen Bergbauakademie in

Die traditionalle studentische Tracht („Wix“) wird nur bei offiziellen Anlässen wie
dem Stiftungsfest getragen. Gábor Kecskeméti (Mitte) wurde in diesem Semester
zum Senior (Vorsitzender) gewählt.
Schemnitz/Selmecbánya (heute Slowakei) pflegen, wieder deutschsprachige Verbindungen in Polen, Litauen, Lettland – und eben auch in Ungarn. In Budapest selbst gibt es zwei von ihnen, die jedoch unterschiedlicher kaum sein könnten. Sie spiegeln die Vielfalt des Verbindungswesens insgesamt wieder, wo es katholische und evangelische Verbindungen gibt, ebenso wie Corps, Landsmannschaften und Burschenschaften, Turnerschaften und Sängerschaften, und noch einige andere mehr. So sehr sie sich teilweise voneinander unterscheiden, gibt es doch Gemeinsamkeiten: Zunächst kennen sie fast alle den Convent, auf dem die Ämter – so genannte Chargen – für ein Semester gewählt und auch sonst alle Entscheidungen demokratisch getroffen werden. Die meisten zeigen ihre Zugehörigkeit zur Verbindung außerdem durch farbige Bänder und Mützen. Bei offiziellen Anlässen werden traditionelle studentische Uniformen getragen (die übrigens auf die polnischen Husarenuniformen zurückgehen – die wiederum aus Ungarn stammen – und daher große Ähnlichkeit zum ungarischen Bocskai haben). Außerdem kennen fast alle Verbindungen den Lebensbund, was die lebenslange Mitgliedschaft als „Alter Herr“ meint, nachdem man sein Studium beendet hat. Deswegen gibt es fast immer auch eine Probezeit, in der die Neulinge meist ein Jahr lang „Fuchs“ sind. Da viele nach Abschluss desStudiums in einer anderen Stadt ziehen, schließen sich Alte Herren dort oft zu Ortszirkeln zusammen, wie in Budapest im COLLEGIUM CORVINVM (siehe Infobox unten). Alle Studentenverbindungen haben außerdem gemeinsam, dass sie gemeinhin keinen guten Ruf genießen. Sie gelten vielen als Relikt einer untergegangenen Zeit, aus der sie nur das Schlechteste bewahrt haben: Saufexzesse und Seilschaften, Frauenfeindlichkeit und Obrigkeitsdenken, sowie ein übersteigerter Patriotismus mit Tendenz zum Rechtsextremismus.
Ein Corps von Medizinern
Shaahin Rahmati ist der lebende Beweis, dass zumindest letzteres keineswegs auf alle Verbindungen zutrifft. Er ist Mitglied im Corps

Wie bei vielen Studentenverbindungen entstehen auch beim Corps Nassovia
Freundschaften fürs Leben. Das durfte auch Shaahin Rahmati (unten) erfahren.
Nassovia zu Budapest, das 2009 in Szeged von deutschen Medizinstudenten gegründet wurde und seit 2012 in Budapest aktiv sowie seit 2014 im deutschen Dachverband KSCV organisiert ist. „Es gibt schwarze Schafe“, sagt er, „denen haben wir alle diesen Ruf zu verdanken.“ Damit meint er vor allem die Verbindungen der „Deutschen Burschenschaft“, die vor wenigen Jahren Schlagzeilen machten, als sie ernsthaft diskutierten, für ihre Mitglieder einen Ariernachweis einzuführen. „Gott sei Dank sind wir keine rechte Verbindung, denn alle Corps haben als erstes Prinzip das Toleranzprinzip. Das heißt: jeder kann bei uns Mitglied werden, egal mit welchem politischen, ethnischen oder religiösen Hintergrund er kommt. Nur Extremismus lehnen wir in jeder Form ab – egal ob rechts oder links. Das ist so, seit es Corps gibt, also seit mehr als 200 Jahren.“ Nur männlich muss man sein – aus Tradition. „Das hat nichts mit Sexismus zu tun“, wehrt Shaahin ab. „Frauen sind gern gesehene Gäste bei vielen unserer Veranstaltungen, wie Tanzkurse oder Opernbesuche. Unsere Mitglieder lernen im Gegenteil, Frauen mit besonderem Respekt zu behandeln.“ Er weiß genau, welche Vorurteile Verbindungen entgegenschlagen und ist offenbar gewohnt, sie zu erklären. Sein Corps ist eine der pflichtschlagende Verbindung, das heißt, die Mitglieder müssen mindestens eine „Mensur“ mit scharfen Waffen kämpfen und dabei riskieren, Narben – so genannte „Schmisse“ davon zu tragen. „Es ist einerseitsTradition“, erklärt Shaahin. Es war früher ein studentisches Privileg, Waffen zu tragen, und das Duellwesen gehörte dazu. Wenn wir heute fechten, hat das viel mit Selbstdisziplin zu tun und damit, an seine eigenen Grenzen zu gehen. Das kann man aber vielleicht nur nachvollziehen, wenn man schon mal eine Mensur gefochten hat. Aber es ist andererseits auch ein Sport – das Training macht Spaß und fördert den Zusammenhalt.“ So wie auch das gemeinsame Feiern, das wohl bei keiner Studentenverbindung zu kurz kommt. Sie stehen deshalb in dem Ruf, Druck auf ihre Mitglieder auszuüben und ungesunde Exzesse zu fördern. „Studenten trinken heutzutage so viel sie wollen“, meint Shaahin dazu, „auch bei uns. Insgesamt aber nicht mehr und nicht weniger als woanders, denke ich. Natürlich gibt es Veranstaltungen die trinkfreudiger sind, aber letztlich muss das jeder für sich selbst wissen. Und für uns ist wichtig: das Studium geht immer vor; die Leistungen müssen stimmen. Und: egal in welchem Zustand – man muss sich benehmen können – denn man repräsentiert immer die Verbindung und ein Fehlverhalten fällt auf alle zurück.“ Auch auf die Frage nach Corps als geheime Karrierenetzwerke hat er eine Antwort parat. Corps gelten nämlich als ziemlich elitär und auf Grund ihrer meist nur geringen Größe und engem Zusammenhalt als besonders karrierefördernd. „Klar sind in der großen Gemeinschaft von Corpsstudenten auch viele erfolgreiche Leute dabei. Und natürlich hilft man sich auch gegenseitig“, gibt Shaahin unumwunden zu. „Aber Networking ersetzt nicht eigene Leistung.“ Networking ist auch nicht die einzige Weise, auf welche die aktiven Studenten des Corps von ihren Alten Herren profitieren: Aus ihren Beiträgen unterhalten sie eine Wohnung auf der Alkotmány utca im V. Bezirk. Dort kann ein Aktiver wohnen, vor allem ist es aber Treffpunkt für die anderen Corpsbrüder. Dort finden ihre Veranstaltungen statt und die „Paukstunden“, also das Fechttraining für die zur Zeit sechs Aktiven und einige inaktive Studenten. Diese Solidarität zwischen den Generationen ist für Shaahin sehr wichtig: „Ich komme aus dem Iran und da kennen wir sowas nicht. Diese feste Gemeinschaft mit gegenseitiger Unterstützung hat mich von Anfang an fasziniert und das fasziniert mich immer noch.“ Er bedauert die Vorurteile, die viele gegenüber Verbindungen haben, weil sie alle in einen Topf werfen und kein eigenes Bild haben. „Dabei ist es gar nicht so schlimm“, sagt Shaahin. „Bei uns ist jeder willkommen, sich ein eigenes Bild zu machen. Unsere Türen sind offen.“

Eine Studentenverbindung besteht aus aktiven und inaktiven Studenten sowie
aus den Alten Herren, die ihr Studium abgeschlossen haben. Sie kommen bei
wichtigen Ereignissen wie dem jährlichen Stiftungsfest zusammen und erneuern
ihren Lebensbund.
Ein Verein von Ungarndeutschen
Die zweite aktive Budapester Verbindung ist der VDH Budapest. Wie das Corps Nassovia ist auch er eine recht neue Gründung: Im vergangenen Jahr konnte er 10-jähriges Stiftungsfest feiern. Mit derzeit etwa 12 Aktiven – darunter auch Frauen – ist auch er kein großer Verein, aber damit enden schon fast die Gemeinsamkeiten mit dem Corps. Sie fechten beispielsweise nicht. „Unser VDH dient der Unterstützung des Ungarndeutschtums“, erklärt Gábor Kecskeméti, der bereits seit 2008 dabei ist. Auch wenn beim VDH wie beim Corps Nassovia das Toleranzprinzip gilt und jeder Mitglied werden kann, will der VDH vor allem junge Ungarndeutsche gewinnen. „Viele junge Ungarndeutsche wachsen in gemischten Familien auf, wo oft nur ungarisch gesprochen wird. Dann geht die Sprache verloren, erst recht wenn die Freunde auch nur ungarisch sprechen. Wenn aber eine Minderheit ihre Sprache verliert, fängt die Assimilation an.“ Gábor kommt selbst aus einer solchen Familie, hat sich aber bewusst dafür entschieden, die Sprache zu lernen und sich mit der eigenen Herkunft zu beschäftigen. „Ich wusste, dass ich aus einer ungarndeutschen Familie komme. Aber ich bin in Budapest aufgewachsen und hatte hier gar nicht die Möglichkeit in Chöre, Kapelle oder Tanzgruppen einzutreten, wie das ein normaler Ungarndeutscher macht. Also konnte ich weder die Sprache noch wusste ich viel darüber.“ Als er den VDH kennenlernte, war sofort sein Interesse geweckt: „Hey! Ich bleib hier!“, wusste er bereits nach dem ersten Abend. Auch wenn er wegen seiner geringen Sprachkompetenz am Anfang gar nicht alles verstand. Der VDH ist für ihn ein Ort, „wo ich einerseits meine Sprachkompetenz entwickeln konnte, aber auch ein Zusammensein mit Leuten, welche die gleiche kulturelle Sprache sprechen. Aber wir betreiben keine Re-Germanisierung!“, betont Gabor, „die Ungarndeutschen sollen nur ihre Wurzeln nicht vergessen.“ Die Studenten des VDH sollen selbstbewusste Bürger von Ungarn und Europa werden, ihre Meinung äußern und Verantwortung übernehmen. Dazu finden sich im Semesterprogramm verschiedene Bildungsveranstaltungen. „Studentenverbindungen waren früher das Sammelbecken der traditionellen Werte des Bürgertums“, erläutert Gábor. „In Ungarn nennt man sie manchmal ‚Biedermeier-Werte‘. Aber dieses Bürgertum gibt es heute in Ungarn fast nicht mehr. Dabei täte es unserer Gesellschaft sehr gut.“
Verbindungen können begeistern
Gabor und Shaahin sind beide offensichtlich begeistert von ihren Studentenverbindungen. Dabei sind sie beide nur ganz zufällig darauf gestoßen. Shaahin hielt das Corps anfangs gar für einen „Chor“. Sie haben beide in ihnen etwas gefunden, was ihnen wichtig ist und ihr Leben bereichert. Sie haben sich mit den verbreiteten Kritikpunkten an Verbindungen auseinandergesetzt und entschieden, dass sie trotzdem dazugehören wollen. In den letzten Jahren steigt die Zahl der Verbindungsstudenten in Deutschland wieder. Das muss man nicht – aber darf man erfreulich finden.
Studentenverbindungen in Ungarn:
Corps Nassovia Budapest
Budapest, V. Bezirk, Alkotmány utca 21
VDH Budapest
Budapest, VI. Bezirk, Lendvay utca 22
OZ COLLEGIUM CORVINVM (für alle kath. Verbände)
Kontakt über den stellvertretenen Zirkelvorsitzenden Dávid Huszti: office[at]hieronymus.at oder +43 6991 930 0126
Solche „Relikte“ sind das, was Altmeister Tolkien „Tiefe“ nannte: Die Wurzeln der Dinge, Strophen eines sonst verschollenen Liedes, ein ferner Wald am hitzeflimmernden Horizont- und eben Teil sein einer Gemeinschaft, die sich nicht nur über viele Länder erstreckt, sondern über Generationen zurück in die Vergangenheit.
Gott schütze Euch, Leute!