Das Schicksal der Protagonisten der Parteipolitik hängt in großem Maß von ihren Kontrahenten ab. In politologischen Analysen wird viel darüber geredet, welche Wirkung verschiedene Ereignisse und Marketingmittel auf die Wählerzahlen einzelner Parteien haben. Das ist allerdings nur eine Seite der Medaille. Über die Struktur einer politischen Situation wird eher geschwiegen. In dieser Analyse konzentriere ich mich aber genau darauf.
In der aktuellen politischen Situation ist es, als gäbe es keine Opposition. Zumindest scheinen die Parteien im Parlament diesem Anspruch nicht gerecht zu werden. Manche erklären das mit Apathie, Bestechung oder Glaubwürdigkeitsverlust. In bestimmten Fällen mag das auch stimmen, aber für den auffälligen Oppositionsmangel gibt es einen tieferen Grund.
Früher gab es immer einen Opponenten
In den sechs Legislaturperioden seit dem Wechsel bestimmte stets der Kampf zwischen Regierung und Opposition die Dynamik des öffentlichen Lebens. Dieser war zumeist gleichbedeutend mit dem Kampf zwischen Rechts und Links. Die einzige Abwechslung war, dass die Opposition die Regierung manchmal ablöste und sich innerhalb der Opposition gewisse Verschiebungen ergaben. Das Gesamtbild blieb jedoch gleich: Die Regierung hat einen Opponenten und der Kampf zwischen ihnen bestimmt die Politik. Seit 2010 hat sich das politische Feld dreigeteilt: Die Regierung hatte plötzlich eine linke und eine rechte Opposition. Dennoch hatten sich die Dinge anfangs nicht geändert. Die politische Dynamik bestand weiterhin aus dem Kampf zwischen Regierung und Opposition. Ab 2011 erwiesen sich die Linken als größerer Gegner und ab da drehte sich das öffentliche Leben um das Duell zwischen den zerstrittenen Linken und der Regierung.
Eine völlig neue Situation
Nach dem 2014-er Misserfolg der Linken tauchte die Jobbik als Hauptopponent auf. Viele dachten, dass alles so weitergeht, wie früher, nur dass die linke von einer rechten Opposition in den Hintergrund gedrängt wird. Stattdessen entstand eine völlig neue, geradezu perverse politische Situation, in der nichts so ist, wie es scheint. Die Regierung tut so, als wäre ihr Gegner gar nicht der, der er ist. Der eigentliche Gegner verhält sich hingegen nicht so. Die Rolle des Gegners wird wiederum jemandem aufgezwungen, der dazu gar nicht in der Lage ist.
Wie kam es dazu? Schauen wir uns erstmal den Fidesz an. Seit dem Flop der Linken 2014 trat die Jobbik an deren Stelle, was den Fidesz in eine ziemlich schwierige Situation brachte. Orbán hetzte sein Lager jahrzehntelang gegen die „Kommunisten“ auf. Die Medien und das intellektuelle Umfeld, wie auch die Wähler der Fidesz leben vom Kampf gegen die Linken. Man kann sie jetzt nicht plötzlich gegen die Rechten von Jobbik „umdrehen“, die noch dazu keine wesentlichen ideologischen Unterschiede aufweisen. Schließlich sagen beide Parteien in etwas dasselbe, nur mit anderen Akzenten. Als Lösung kam das Orbán-Habony-Team auf den Gedanken, die Jobbik einfach nicht als Gegner anzuerkennen und sich dafür weiterhin fleißig mit den Linken zu duellieren.
Das hat jedoch zwei Konsequenzen. Wenn man in diesem Spiel der Jobbik keine Rolle zuteilt, dann muss der Fidesz die gesamte rechte Seite Ungarns vertreten. Also muss man notgedrungen alle wichtigen programmatischen Punkte der Jobbik übernehmen, damit sich deren Existenz erübrigt. Andererseits muss der Fidesz die Linken, die in Trümmern liegen und derzeit zum Kampf gar nicht fähig sind, als Gegner aufbauen und sie in Ereignisse verwickeln, mit denen sie eigentlich gar nichts zu tun haben. Und wenn es schließlich völlig unmöglich wird, Gyurcsány oder die Sozialisten zu bezichtigen, kann man immer noch die Brüsseler Linken oder György Soros aus dem Hut zaubern.
Zwischen zwei Stühlen…
Aber warum lässt die Jobbik das zu? Sie versucht erst gar nicht, als gegnerische Kraft zu agieren. Der Grund dafür ist, dass die Jobbik gleichzeitig zwei verschiedene Wählergruppen anpeilt, was allerdings zwei, sich widersprechende Strategien erfordert. Einerseits will die Jobbik alle Anti-Fidesz Wähler für sich gewinnen. Wer vom Nationalen Kooperationssystem (NER) des Fidesz genug hat, soll sich auf ihre Seite schlagen. Dazu müssen sie sich als Fidesz-Gegner präsentieren. Gleichzeitig bauen sie auf die ernüchterten Fidesz-Wähler, was durch die identische Weltanschauung der beiden Parteien sogar realistisch ist. Um sie zu überzeugen, muss der Fidesz allerdings als rechte Alternative und nicht als Hauptoption dastehen. Die Jobbik muss also gleichzeitig Anti- Fidesz und bessere Fidesz-Variante sein. Im Endeffekt ist die Jobbik nicht daran interessiert, als Opposition aufzutreten, genauso wie der Fidesz kein Interesse daran hat, die Jobbik als Hauptopponenten zu präsentieren.
Der Rettungsring
Der bombensichere Wählermagnet der Jobbik ist ihre Antikorruptionshaltung. So muss die Jobbik nicht von ihrer Ideologie abrücken (und diesbezüglich den Fidesz bekämpfen), und wirkt gleichzeitig auf die ernüchterten Fidesz-Wähler sympathisch. Für die verarmenden, regierungskritischen Massen wiederum ist die unverschämte Bereicherung mancher Begünstigten eine große Motivation politisch aktiv zu werden. Anfang 2015 hatte sich sogar gezeigt, dass die linken Gruppierungen und Demonstranten mit ihrem Auftreten gegen die Korruption nur die Jobbik stärken.
Die Linken in einer falschen Rolle
Die Linken wurden in eine ziemlich schwierige Lage gedrängt, indem sie seit 2014 anstelle der Jobbik als Opposition auftreten sollen. Man würde meinen, dass es ihnen in ihrem schwachen Zustand gerade recht kommt, in der Regierungspropaganda pausenlos dämonisiert und überbewertet zu werden, so als könnten sie für den Fidesz tatsächlich eine Bedrohung darstellen. (Um überhaupt ausreichende „gegnerische Aktivitäten“ aufzeigen zu können, schert die Regierungspropaganda inzwischen die zivilen linken Tätigkeiten und die linken politischen Parteien munter über einen Kamm.)
In Wahrheit schadet das den Linken mehr als es ihnen hilft. Als Hauptopponent keine Chance gegen die Regierung zu haben, löst in ihren Wählern permanente Frustration aus und weckt täglich den Eindruck, dass sie völlig impotent und ungeeignet sind. Man muss folgenden Unterschied beachten: Als sich die Jobbik im Großteil der vorherigen Legislaturperiode im Windschatten der linken Parteien ausruhte, löste das bei ihren Sympathisanten keine große Ernüchterung aus, da keiner von ihnen ernsthaft erwartete, Orbán 2014 zu stürzen. Diese Verantwortung ruhte damals ausschließlich auf Bajnais und Mesterházys Schultern. Doch jetzt, da die MSZP die Jobbik ablösen muss, sorgt die Zurückhaltung der Linken für völlige Ernüchterung und Entsetzen im linken Lager, schließlich wird von den linken Parteien noch immer der Sieg über die Regierung erwartet. Ihre Unfähigkeit in dieser Situation ist offensichtlich, was zur weiteren Demoralisierung führt, wodurch sie wiederum noch unfähiger werden… Eine regelrechte Abwärtsspirale.
Wie es sonst eigentlich abläuft
Bei einer Wahl gibt es immer zweierlei Parteien: Die einen haben Einfluss bei entscheidenden Fragen, die anderen haben keinen. Die Wählerzahlen letzterer hängen Großteils davon ab, wie zugespitzt diese Fragen sind und ob die Wahlen von vornherein als entschieden gelten. Als der Fidesz 2002 nur um Haaresbreite gegen die MSZP unterlag, ging der Zuspruch der Parteien, die nichts zum Ausgang der Wahlen beizutragen hatten, also der der MIÉP und der Arbeiterpartei deutlich zurück. Im Gegensatz dazu gewannen die Jobbik und die LMP 2010 an Kraft, als die Wahlen von vornherein als entschieden galten, obwohl sie keinen Einfluss auf die Regierung hatten. Eine ähnliche Dynamik gab es auch 2014. Erst, als sich herausstellte, dass das Linksbündnis Összefogás eine Niete ist und der Fidesz erneut gewinnen wird, gingen die Wählerzahlen für die Jobbik und die LMP steil nach oben.
Aber jetzt läuft es anders
Laut bisheriger Dynamik müsste die Hilflosigkeit der Jobbik eine positive Wirkung auf die Stimmen der schwachen Linken haben. Da die Linken aber in die falsche Rolle der Gegner gedrängt worden sind, können sie jedoch von der eigentlich vorteilhaften Situation nicht profitieren. So entsteht also diese scheinbar oppositionslose, perverse Situation: Der eigentliche Gegner der Regierung, die Jobbik, will nicht als solcher erscheinen, dafür wurde diese Rolle einer Partei aufgetragen, die derzeit dazu gar nicht in der Lage ist.
Die Analyse erschien auf dem Blog von András Istvánffy, dem Gründer der eher der gemäßigten Mitte zuzurechnenden außerparlamentarischen Bewegung 4K!.
Mein Mitleid mit der in jeder Hinsicht unfähigen Linken hält sich in überschaubaren Grenzen. Daher schlage ich vor: Falls Deutschland weiterhin derart den Bach runtergeht wie in den letzten Monaten, können 100 000 deutsche Bürger (alles von tüchtigen Arbeitern bis zum vernünftigen Teil der Eliten) nach Ungarn ziehen und dafür lässt sich dann der harte Kern der ungarischen Linken in Berlin, Hamburg, Frankfurt und Leipzig nieder. So ist dann jeder da, wo er hingehört und alle sind zufrieden.
Guter Kommentar. Die linken Ungarn können dann in Köln, Stuttgart oder Hamburg Silvester feiern. Oder eines der vielen „No-go-Areas“ besuchen in denen die Sharia das Gesetz ist. Leider ist nicht klar, ob es in Ungarn überhaupt genug Arbeitsplätze für Zuwanderer gibt und wenn dann ganz schlecht bezahlt. Der Arbeitsplatz und die Familie sind ja die Hauptgründe, weshalb Menschen in Deutschland hängenbleiben
Lieber Attila, ich würde Dein Angebot gern annehmen. Tichy hat gerade festgestellt, dass „der typische Linksradikale … in Berlin zwischen 21 und 24 Jahre alt ist, Mittlere Reife hat, keinen Job und bei Mutti wohnt.“
Die ungarische Linke würde sich in diesem Biotop sicherlich geborgen fühlen. Liebe Grüße, der Renegat
Lieber Theodor, seit Marx, der sich den größten Teil seines Lebens ebenfalls von Familie und Freunden aushalten ließ, schwärmten die Linken von der Schaffung einer gleichförmigen Arbeiterklasse. Wenn man sich den zufällig in einer Fabrik arbeitenden russischen Muschick, dem ehemaligen Handwerksgesellen bei Krupp und den selbstbewußten Cockney-Proleten ansieht, weiß man, dass dies nicht geklappt hat. Doch heute kann Marx einen späten Sieg feiern: Eine wohlhabende Gesellschaft, die zu hedonistisch war, um ihren Kindern die wahren Werte beizubringen; gottlose und faule Geistliche, in jakobinischen Geiste agierende Lehrer und Publizisten und eine Justiz, welche die Bengel und Gören mit Samthandschuhen anfasst, brachte in annähernd ganz Europa den indentischen Typ gewaltätiger, der Allgemeinheit auf der Tasche sitzender Muttersöhnchen-söhnInnen hervor. Kein Wunder, dass sich immer mehr „echte“ Linke von Elsässer und co. angezogen fühlen.