In den vergangenen Monaten häuften sich die Meldungen aus dem Gesundheitswesen. Losgetreten von der „Schwester in schwarz“, Mária Sándor, geht derzeit unter den Mitarbeitern im Gesundheitswesen eine Protestwelle um. Die Lage scheint kritischer als je zuvor.
Anfang Dezember ging die Nachricht um, die Anästhesisten des Szent Imre Krankenhauses im XI. Bezirk planen gemeinschaftlich ihre Kündigung. Der Grund war eindeutig: Massiver Geldmangel im System. Dabei gilt das Szent Imre Krankenhaus als eines der besten der Hauptstadt, moderne Gebäude und gute Ausstattung sind gegeben. Im Interview mit dem Nachrichtenportal index.hu sprach einer der Ärzte davon, dass wegen der Schuldenkonsolidierung Überstunden einfach nicht mehr genehmigt und die anfallende Arbeit auf die verbleibenden Pfleger und Ärzte umgelegt wurde.
Höhere Risiken durch „selbstgebastelte Lösungen“
Auch beim Material musste gespart werden, heißt es. So sei darauf zu achten, dass nicht die teuren Katheter verwendet werden, schließlich sei dies auch mit günstigeren Versionen lösbar. Der um Anonymität bittende Arzt beschreibt, dass ab dann die „selbst gebastelten Lösungen“ begannen, die zwar weniger kosteten, aber eben auch ein erhöhtes Risiko für die Patienten bedeuteten.
Der Geldmangel ist tatsächlich eines der Hauptprobleme im Gesundheitssystem, das sieht auch Mária Sándor, die „Schwester in schwarz“ so: „In Zwölf-Bett-Stationen werden nur acht belegt, weil für mehr einfach kein Personal da ist.“ Die Schwester ist mittlerweile zur Galionsfigur einer zivilen Bewegung geworden, die nicht nur für die Interessen der Facharbeiter eintritt, sondern „wir wollen die Gesellschaft dazu bringen, für ihre Krankenversorgung einzustehen“. Grund hierfür gäbe es mehr als genug. Nur ein Beispiel: Für einen Ultraschalltermin liegt die Wartezeit im staatlichen Gesundheitssystem bei rund drei Monaten. Wer schneller untersucht werden möchte, kann dies in Privatpraxen geschehen lassen – zu entsprechenden Kosten wohlgemerkt. Ein Versuch, Wartezeiten zumindest bei Krebspatienten zu verringern (Ungarn hat eine der höchsten Sterblichkeitsraten bei Krebserkrankungen europaweit) sorgte im Sommer des vergangenen Jahres für viel Wirbel.
Geld regiert das System
Seit 1. Juni des vergangenen Jahres ist die Regierungsverordnung in Kraft, nach der bei Verdacht auf Krebs binnen zwei Wochen eine Diagnose gestellt werden muss. Sollten binnen dieser zwei Wochen CT und MRI-Untersuchung nicht erfolgen, sondern erst später, übernimmt die Gesundheitskasse des Landes (OEP) die Kosten nicht mehr. Auch in einem weiteren Fall verweigert die OEP die Übernahme der Kosten: Wenn sich der Verdacht auf Krebs nicht bestätigt. Zahlen, inwiefern die Zahl der diagnostizierten Erkrankungen sich seitdem verändert hat, liegen derzeit noch nicht vor. Die Befürchtung steht jedoch im Raum, dass Ärzte aus Angst auf den Kosten sitzen zu bleiben, lieber auf die teure bildgebende Diagnostik zu verzichten
Breiter Zusammenschluss für Änderungen
Ist also alles nur eine Frage des Geldes? Tatsächlich sprechen sich immer mehr Ärzte und Schwestern für grundlegende Änderungen im Gesundheitssystem aus. Mária Sándor findet drastische Worte: „Das System der Krankenversorgung in Ungarn ist eigentlich zusammengebrochen. Der einzige Grund, warum es noch halbwegs läuft, ist, dass viele Mitarbeiter ihren Beruf noch immer als Berufung sehen und mit all ihrem Herzblut ihrer Aufgabe nachgehen.“ So sei es keine Seltenheit, dass unbezahlt Überstunden geleistet würden oder Fachkräfte auch während ihres Urlaubs auf Station aushelfen – ebenfalls unbezahlt. Daran ändert auch ein erster Erfolg in den Verhandlungen mit der Regierung wenig.
Noch unter dem ehemaligen Staatssekretär Gábor Zombor wurde erreicht, dass seit dem 1. Juli des vergangenen Jahres Überstunden immer sofort am Ende des Monats ausgezahlt werden müssen. Verspätete Zahlungen über mehrere Monate sind so theoretisch ausgeschlossen. Die mittlerweile zur politischen Aktivistin avancierte Sándor sieht seit dem Weggang Zombors wenig Chancen auf eine Einigung mit der Regierung. „Herrn Zombor war klar, dass das Gesundheitssystem nur dann wieder auf die Beine kommen kann, wenn mehr Geld ins System fließt.“ Mehr Geld würde auch für das sogenannte Laufbahnmodell auf Lebenszeit gebraucht. „Es ist schlicht nicht nachvollziehbar, warum es gerade im Gesundheitssystem kein Laufbahnmodell gibt. Ein Anfänger kommt ins System, weiß aber nicht, wie sich sein Lohn im Laufe seines Lebens entwickeln wird, welche Aufstiegschancen er hat und wie er seine finanzielle Zukunft innerhalb des Gesundheitssystems planen kann.“ Mittlerweile gäbe es in vielen Bereichen solche Modelle, nur eben im Gesundheitssystem noch nicht.
Keine kompetenten Gewerkschaften
Doch auch die Interessenvertretung bemängelt die engagierte Schwester: „Es gibt zwar offiziell sogar zwei Gewerkschaften, aber diese sehen wir nicht als kompetent an. Außerdem: Welche Verhandlungsgrundlage haben wir, wenn der neue für das Gesundheitswesen zuständige Staatssekretär Zoltán Ónodi-Szűcs in seinem ersten offiziellen Statement davon spricht, in Ungarn hätte die Krankenversorgung europäische Standards.“
Doch wie soll es weitergehen? Sowohl das Bündnis hinter Tamás Dénes als auch die Zivilbewegung um Mária Sándor fordern grundlegend mehr Geld für das Gesundheitssystem als Ganzes. Denn nur so könnte der stetigen Abwanderung der Ärzte und gut ausgebildeten Pflegekräfte Einhalt geboten werden und auch die von vielen verurteilte Praxis des Dankesgeldes endlich ausradiert werden. Dabei glaubt Mária Sándor schon heute, die Zeit des Dankesgeldes ist vorbei: „Die Armut in Ungarn ist so groß, dass das zugesteckte Geld in Briefumschlägen schlicht keine Rolle mehr spielt. Die Menschen können es sich einfach nicht mehr leisten, den Ärzten zusätzlich Geld zuzustecken.“ Und auch Tamás Dénes findet klare Worte zum Thema Dankesgeld: „Vom Patienten erwarten wir Dank, vom Staat unser Geld.“
Stellungnahme der Gruppe „1001 Ärzte ohne Dankesgeld“
„(…) bei uns geht rund ein Prozent, sprich beinahe 300 Milliarden Forint weniger in das Gesundheitssystem, als bei unseren Nachbarn. Unser Ziel ist es, in der kommenden Legislaturperiode dieses Verhältnis zu verbessern. (…) Die Rolle der im Gesundheitssystem Beschäftigten ist herausragend: Wegen der fehlenden Geldmittel ist es oft nur noch ihre Aufopferung, die das System am Laufen hält. (…) Ein auf breiter Basis abgestimmter Karriereplan ist unerlässlich. (….) Eines der größten Probleme des Sektors ist das System des Dankesgeldes. (…) Unsere Ärzte und Facharbeiter benötigen sowohl gesellschaftliche als auch finanzielle Anerkennung: Wir müssen würdige Arbeitsbedingungen und Löhne sichern.“
Aus dem Gesundheitsprogramm des Fidesz 2010
Unser offener Brief vom 21. Dezember 2015 sorgte für großes Aufsehen; zahlreiche Bürger wandten sich mit den von uns aufgeworfenen Fragen ebenfalls an das HR-Ministerium. Noch am selben Tag reagierte das Ministerium und teilte den besorgten Bürgern und uns mit, die Regierung tue alles, um die Krankenversorgung zu sichern. Zu diesem Ziel möchten wir auch weiterhin beitragen, denn die Reformierung des Gesundheitssystems ist in unser aller Interesse. Leider lässt die Antwort des Ministeriums zwei elementare Punkte unberührt: Zum einen die Frage des Dankesgeldes, zum anderen die Bildung eines Experten-Rundtisches. In Sachen Lohnsteigerung wurden jedoch zwei konkrete Schritte benannt. Erstens sollen die Löhne für 43.000 Pflegekräfte erhöht werden, außerdem sollen für eine bestimmte Gruppe von Ärzten (Fachärzte) ab einem bestimmten Zeitpunkt (Januar) ein Mindestlohn (270.000 Forint netto) eingeführt werden.
Leider haben wir keinerlei Informationen dahin gehend, wie die Lohnerhöhungen und die Strukturreformen gegenfinanziert werden sollen. Dies ist, zugegebener Maßen, auch nicht Aufgabe der Ärzte, dies zu wissen, ihre Aufgaben erfüllen sie am Krankenbett. Im Sinne der Partnerschaft gehört es sich, davon auszugehen, dass die Entscheidungsträger weder die Bürger noch drei Mal in Folge die Arbeiter eines in kritischem Zustand befindlichen Berufszweigs in die Irre geführt haben. Aber demnächst erhalten wir mit den neuen Lohnbescheiden und während der durch das Ministerium initiierten Gespräche auch darüber Klarheit.
Die Bevölkerung lebt in dem Glauben, dass ab Januar 2016 kein Arzt weniger als 270.000 Forint netto Lohn erhält – was der Hälfte eines slowakischen Ärztegehaltes entspricht. Wir betonen weiterhin: Wir möchten nicht westliche, sondern lediglich anständige Löhne, die vergleichbar sind mit denen in wirtschaftlich ähnlich starken Ländern.
Wir unterstützen den Standpunkt der Vereinigung der Fachärzte und Fachärzte in Ausbildung (ReSzaSZ): Im Gesundheitswesen bedarf es einer Laufbahnplanung auf Lebenszeit und nicht ad hoc Stipendienprogramme. Daher können der Mindestlohn von 270.000 Forint und die finanzielle Unterstützung für Ärzte am Anfang ihrer Laufbahn auch lediglich als Übergangslösungen im Jahr 2016 gewertet werden. Wir bitten die Regierung mit allem nötigen Respekt die Lohnentwicklungen mit den Fachgewerkschaften und Interessenvertretern zu verhandeln und gesetzlich festzuschreiben sowie auch Mittel zur Sicherung einer Lohnsteigerung von 50 Prozent für die im Sozialbereich Arbeitenden und die Fachmitarbeiter bereitzustellen. Ohne sie könnten Ärzte selbst mit der besten Infrastruktur keine Sicherheit bei der Krankenversorgung gewährleisten. Wir sollten nicht vergessen, dass die Gruppe „1001 Ärzte ohne Dankesgeld“ und die ReSzaSz die Sicherheit der Patienten in den Vordergrund stellen und deswegen für die Durchleuchtung und Umgestaltung des gesamten Systems eintreten. Wir alle wissen, Lohnerhöhungen und das Einstellen der Schattenwirtschaft des Dankesgeldes werden nicht genug sein, um das Niveau des Gesundheitssystems zu verbessern. Die Lohnerhöhungen der Ärzte und Fachmitarbeiter sind nur die erste Stufe, auf der wir nicht stehen bleiben dürfen! Wir bitten die ungarische Bevölkerung um die Unterstützung unserer Bewegungen und Bemühungen für ein transparentes Gesundheitssystem, damit sie endlich erfahren, wo und wie wirksam die Einnahmen der Gesundheitskasse (TB) vom Staat für den Erhalt ihrer Gesundheit eingesetzt werden.
Daran krankt das Gesundheitssystem
Das konservative Wochenmagazin Heti Válasz fasste in der vergangenen Woche die grundlegenden Probleme des (ungarischen) Gesundheitssystems zusammen:
1. Die weltweite Krise des Gesundheitssystems
Dies bedeutet nichts anderes, als das es bisher kein Grundrecht auf Gesundheit und dementsprechend das höchste und bestmögliche Maß an medizinischer Versorgung gibt. Plus, dass viele Krankheiten heute zwar therapierbar, aber eben nicht heilbar sind – dies jedoch ist Erwartung vieler Patienten.
2. Das Spardiktat im Gesundheitswesen
Die Leiter der heimischen Krankenhäuser sind nachdrücklich dazu aufgefordert, keine weiteren Schulden anzuhäufen. Wie schon das Portal index.hu berichtete, brach unter anderem deswegen eine Protestwelle im hauptstädtischen Szent Imre Krankenhaus los. 2013 flossen nur 3,9 Prozent des GDP ins Gesundheitssystem. Aus diesem Betrag galt es zu haushalten.
3. Die explodierenden Löhne
Laut der Heti Válasz ist es heute nicht mehr der Staat, der die Löhne der Ärzte festlegt, vielmehr seien in Ungarn viele Ärzte auch in Privatpraxen engagiert und ihre Lohnvorstellungen richteten sich eher nach dem Markt denn nach den Möglichkeiten des Staates.
4. Das starre System kann nicht auf heutige Herausforderungen reagieren
Hierzu gehören einmal die an sich starren hierarchischen Strukturen innerhalb des Gesundheitssystems an sich und andererseits das mittlerweile fest verankerte System des Dankesgeldes, deren Nutznießer keinerlei Interesse daran haben, diese zusätzliche Geldquelle aufzugeben.
5. Der permanent gewordene Ärztemangel
Im Jahr 2014 verlängerten 38 Prozent der Ärzte nicht ihre Zulassung, entweder weil sie ausgewandert, in Rente gegangen oder verstorben waren. Oft gibt es auch keine Nachfolger mehr, weil junge Ärzte lieber direkt ins Ausland gehen, als zu ungarischen Löhnen zu arbeiten.
6. Es gibt keine wirkliche Interessenvertretung
Tamás Dénes, Initiator der Bewegung „1001 Ärzte ohne Dankesgeld“ will mittels der Facebook-Gruppe hinter der Bewegung nun eine echte, eine wirkliche Gewerkschaft ins Leben rufen, die auch der Regierung gegenüber die Forderungen der Ärzteschaft vertreten kann.
Da mach ich mir echt Sorgen, wenn ich hier in Ungarn krank werden sollte! Mein Gott, man gibt Milliarden Forint für Fussballstadions aus und das Gesundheitswesen geht den Bach ab! Liebe Fidesz, wacht endlich auf!
K.Pius: Ich will die Zustände in den ungarischen Krankenhäusern nicht schönreden, jenseits der Touristengebiete gibt es wirklich richtige Bruchbuden. Allerdings fürchte ich, dass sich nach der x-ten deutschen Gesundheitsreform und der y-ten Personaleinsparungswelle eher das BRD-Niveau den osteuropäischen Verhältnissen nähern wird als umgekehrt.
„Mein Gott, man gibt Milliarden Forint für Fussballstadions aus und das Gesundheitswesen geht den Bach ab! Liebe Fidesz, wacht endlich auf!“
Toller Slogan mit den Fussballstadien. Wieso wird eigentlich nicht hinterfragt, weshalb das Gesundheitswesen in solch einem Zustand ist? Wurde das erst in den letzten Jahren so herabgewirtschaftet?Weshalb hat man in der Regierungszeit von Gyurcsány kaum Krankenháuser renoviert? Da hat man es sich einfach gemacht und sie geschlossen (mann denke nur an das schöpf -Merei krankenhaus oder an Lipótmező (könnte noch unendlich fortgesetzt werden die Aufzáhlung) Sind die langen Wartezeiten in den staatlichen Praxen ganz zufállig? Ich würde doch behaupten:Kaum, denn was macht der Kranke , wenn es ihm zu lange dauert:Er geht privat.Man sollte mal untersuchen, wie sehr der Zulauf in den Privatpraxen zugenommen hat.Wenn man vor 5 Jahren noch 3 Tage auf einen Privattermin warten musste, muss man heute auch schon 1 bis 2 Wochen warten und das hat nix mit Árztemangel zu tun, denn Privatpraxen gibt es reichlich.Schwesternmangel hat auch viel damit zu tun, dass es an vielen Stellen mit der Organisation hapert.Beim Kiefernchirurg (ambulant/Krankenhaus ) hüpfen massig „Assistentinnen“ durch die Gegend, die sich gegenseitig auf die Füsse treten.Ist ja auch angenehmer , als auf Station die Kranken zu betüteln und mehr Eindruck macht es ausserdem.
Wáre doch mal interessant gewesen, z.B. den Verdienst eines Anästhesiearztes anzuführen. Der soll ja nun nicht so von schlechten Eltern sein. Und wie ist es mit dem Markusovszky ösztöndíj ?