Ungarn steuert mit Riesenschritten auf Vollbeschäftigung zu – oder zumindest auf jenen Zustand, den die Politik darunter versteht. Die Regierung bedient ein breit gefächertes Instrumentarium, um dem edlen Ziel näherzukommen. Dabei heilt mitunter schon mal der Zweck die Mittel.
Im Zeitraum September-November 2015 standen 4,273 Mio. Ungarn in Lohn und Brot. Diese Zahl teilte das Zentralamt für Statistik (KSH) am Dienstag mit. Es ist der höchste Beschäftigungsstand seit mehr als zwei Jahrzehnten, ohne den strukturellen Anpassungszwang der Nachwendezeit. Als die erste Orbán-Regierung 1998-2002 die Geschicke Ungarns in die Hand nahm, entstanden im Saldo etwa 150.-200.000 neue Arbeitsplätze. Als Viktor Orbán 2010 zur Vollendung des gesellschaftlichen Umbruchs für ein bürgerliches Ungarn antrat, gab er die Vision von einer Million neuen Arbeitsplätzen und fünf Millionen Beschäftigten aus. Das erschien nicht nur den abgewählten Sozialisten utopisch, auch viele Wirtschaftsexperten legten dies in der Kategorie fixer Ideen ab. Dabei hat der Chef des Fidesz-Bürgerbundes nur das Beispiel Tschechiens vor Augen, wo jeder zweite Bürger mit einem (mehr oder minder anständig bezahlten) Job zu prosperierenden Staatsfinanzen beiträgt und die Erwerbslosenquote gegen fünf Prozent strebt, was in der Politik seit den 90er Jahren gerne als „Voll“-Beschäftigung angesehen wird.
560.000 neue Arbeitsplätze sind entstanden
Seit 2010 wurde Orbán einmal im Amt bestätigt, so dass nach gut fünfeinhalb Jahren seiner nationalkonservativen Regierung ein Zwischenresümee gezogen werden kann: 560.000 neue Arbeitsplätze sind demnach entstanden. An dieser Stelle wollen wir ihm nicht vorhalten, dass die Weltwirtschaftskrise hierzulande ca. 200.000 Arbeitsplätze vernichtete, so dass der Fidesz von den Sozialisten neben den bekannt klammen Staatsfinanzen auch sehr niedrige Basiswerte der Jahre 2008/09 am heimischen Arbeitsmarkt erbte. Von null lässt sich bekanntlich leichter etwas aufbauen, wenngleich manch ungewollte Querschläger der berüchtigten unorthodoxen Wirtschaftspolitik für einen eiskalten Winter 2011/12 sorgten, was die Beschäftigungszahlen betraf. Dieses eigentlich ohne weiteres zu erklärende, saisonal bedingte Winterloch verschwand vor zwei Jahren, sobald die Regierung die öffentlichen Arbeitsprogramme forcierte.
Die Fidesz-Regierung war mit einer Beschäftigungsquote unter 55 Prozent angetreten; den letzten Knick im stetigen Aufwärtstrend ließ sie Anfang 2013 zu. Um die Jahreswende 2013/14 waren die 60 Prozent gemeistert, Ende 2015 wurde die Marke von 65 Prozent im Sturm genommen. In den nächsten Monaten wird die Klettertour wieder etwas geruhsamer zugehen, denn die kalten Monate sind der Arbeit nun mal auch im Orbán-Ungarn nicht zuträglich. Doch schon bald wird im Galopp zu neuen Gipfeln aufgebrochen, denn längst nicht alle Register sind gezogen.
Ein Heer moderner Lohnsklaven
Ab 1. Februar wird ein Programm aufgelegt, mit dem die Regierung bis zu 25.000 Niedriglohnempfänger aus den öffentlichen Arbeitsprogrammen auf den primären Arbeitsmarkt „umlenken“ will. Dazu stellt sie 3 Mrd. Forint bereit, die sozusagen als Prämie für jene Arbeitskräfte gedacht sind, die aus eigenem Antrieb eine „richtige“ Arbeit finden. Mikro- und Kleinfirmen werden wiederum Anreize für die Anstellung junger Fachpraktikanten erhalten.
Die öffentlichen Arbeitsprogramme sind umstritten, unter anderem auch deshalb, weil kaum eine Bindung zum normal funktionierenden Arbeitsmarkt hergestellt wird. Das Heer der mittlerweile 235.000 ABM-Kräfte erhält nicht nur einen kläglichen Lohn, der sich bestenfalls an der Sozialhilfe messen lässt, aber noch keine Existenz sichert und noch dazu der zur gemeinnützigen Arbeit verpflichteten Person die Möglichkeit zu halblegalen Nebeneinkommen verbaut. Dieser Niedriglohn drückt im ländlichen Raum das ohnehin bescheidene Lohnniveau herunter, denn um die Arbeitseinsätze effizienter zu gestalten, „verborgen“ die Gemeindeverwaltungen die modernen Lohnsklaven an findige Arbeitgeber.
Der Ministerpräsident spricht stolz davon, mit den öffentlichen Arbeitsprogrammen viele Menschen überhaupt erst wieder an Arbeit herangeführt zu haben, deren Haushaltseinkommen sich ansonsten ein Leben lang auf Sozialhilfe (und Kindergeld) beschränkt hätte. Diese Menschen bereicherten früher die Statistiken als Inaktive oder bestenfalls als schwer vermittelbare (Langzeit-) Arbeitslose.
Beschäftigungswunder herbeigezaubert
Das KSH hat aber noch eine weitere neue Kategorie in seiner Arbeitsmarktstatistik eingeführt, jene der im Ausland tätigen Ungarn. In dieser Rubrik werden mittlerweile über 110.000 Personen geführt – Tendenz steigend. Der methodische Hintergrund ist unbekannt; die Zahl der ausgewanderten und regelmäßig Geld in die Heimat transferierenden Magyaren gibt beispielsweise das Wirtschaftsressort mit mindestens 250.-300.000 Personen an.
Jedenfalls gab es die beiden oben genannten Kategorien beim Amtsantritt der zweiten Orbán-Regierung noch nicht, so dass zwei Drittel des Beschäftigungswunders statistisch herbeigezaubert wurden. Wer hier einen Schwindel reklamieren möchte, der sollte sich zunächst einmal dezent in die Methodik deutscher Arbeitsmarktstatistiken vertiefen. Vielleicht tut der ungarische Ministerpräsident das ja auch, was noch manchen Spielraum für die kommenden Jahre verspricht.
Denn die Herausforderungen werden nicht geringer. Der Stellvertretende Minister des Ministerpräsidentenamtes, Nándor Csepreghy, nannte im linksliberalen Nachrichtenfernsehen ATV sehr konkrete Zahlen, welche Dimensionen der seit langem geplante Bürokratieabbau erreichen soll. Es sei klar, dass die heutigen ungarischen Beschäftigungsstrukturen nicht aufrechtzuerhalten sind, die Zahl der Mitarbeiter im öffentlichen Sektor müsse gesenkt werden. Unter zehn Millionen Ungarn sind vier Millionen aktiv, von denen wiederum eine Million für den Staat arbeitet – angefangen von den Ministerien über das Gesundheits- bis zum Bildungswesen. „Die verbleibenden drei Millionen Menschen halten im Wesentlichen die übrigen sieben Millionen aus, unter denen eine Million den Staat oder sozusagen das ganze System betreiben, während sechs Millionen inaktiv, Schüler, Rentner etc. sind“, erläuterte der Fidesz-Politiker erstaunlich offen. Und damit nicht genug, gab er gleich noch die Definition der „optimalen Beschäftigungsstruktur“ vor, die ausgehend vom skandinavischen Modell 10 Prozent der Beschäftigten dem Staatssektor und 90 Prozent der Wettbewerbssphäre zuordnet. Bei vier Millionen Beschäftigten müssten in Ungarn somit also 400.000 Mitarbeiter im öffentlichen Dienst ausreichen.
Kampfansage fordert die Wirtschaft
Scheinbar beschwichtigend fügte der Stellvertretende Minister hinzu, das heiße nicht, die Regierung wolle 600.000 Menschen auf einen Schlag entlassen. Bis 2018 ließen sich aber durchaus 100.-200.000 öffentlich Bedienstete in den Wettbewerbssektor vermitteln, während der besagte Anteil von zehn Prozent in einem Zeitintervall von 5-15 Jahren „kein irreales Ziel“ sei. Die Regierung möchte auf jeden Fall zielgerichtet Entwicklungsgelder für marktgerechte Umschulungen bereitstellen und die Verschiebungen am Arbeitsmarkt in geregelten Bahnen vor sich gehen lassen. Die Basis für eine prosperierende Privatwirtschaft sei im Übrigen ein Wirtschaftswachstum auf dem Niveau der jüngsten Jahre, flankiert von der Identifizierung einzelner Sektoren, die besonders intensiv zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen können.
Wie der Wettbewerbssektor zu dieser Kampfansage des Staates an die Bürokratie steht, wird sich erst noch zeigen müssen. Ein kleinerer Staat ist zweifelsohne begrüßenswert, darauf, dass der Wettbewerbssektor die freigesetzten Arbeitskräfte jedoch automatisch absorbiert, sollte sich die Regierung aber lieber nicht verlassen. Von den 120.000 neuen Arbeitsplätzen der letzten zwölf Monate entstanden nur 50.000 bei Unternehmen, für einen Teil davon leistet der Staat obendrein beträchtliche Transferzahlungen. Dennoch würde dieser Zuwachs genügen, wenn er sich denn über ein Jahrzehnt und mehr strecken lässt. Aber eben nur für gesündere Strukturen – für fünf Millionen Beschäftigte muss ein weiteres Wunder geschehen.