Korruption handelt heute nicht mehr von Nokia Schachteln, Briefumschlägen und ein paar Millionen – so Dávid Jancsics. Laut dem Korruptionsforscher, muss der, der jetzt staatlich beauftragt wird oder nicht zurückzuerstattende Förderungen in Milliardenhöhe erhält, im Gegenzug bestimmte Sportvereine finanzieren oder ausgewählte Firmen zum vielfachen des Marktpreises beauftragen.
Zum Jahresende hat das Parlament ein Gesetz erlassen, damit sich auch Verwandte von Politikern bei Ausschreibungen bewerben dürfen, dafür müssen sie nur ihre Wohnsitzkarte austauschen. Hat Sie das überrascht?
Wir können sagen, dass die Vetternwirtschaft gesetzlich eingeführt wurde. Im Grunde unterscheiden sich moderne Demokratien von bisherigen Feudalsystemen, indem sie versuchen, Privates von Geschäft und Amt zu trennen. In zivilisierteren Ländern ist es unvereinbar, dass zwei Parteien einer Ausschreibung verwandt sind, damit sie nicht in Versuchung geraten. In Ungarn wurde diese Trennung jetzt offiziell abgeschafft.
Halten Sie es für möglich, dass dieses Gesetzt vor dem Verfassungsgericht noch scheitert?
In den USA ist Ungarn mit der Flüchtlingskrise viel leichter auf die Titelseiten gekommen, als z.B. mit dem denkwürdigen Hausverbot. Allerdings hat es einen bestimmten Nachrichtenwert, wenn die amerikanische Botschafterin in Budapest fordert, korrupte Figuren vor Gericht zu bringen. Ich sehe es so, dass die Korruption in Ungarn umfangreich und systemisch ist, was nicht nur bedeutet, dass sie von der Ausnahme zum Alltag wurde, sondern dass schon die Gesetze den Interessen korrupter Protagonisten angepasst werden. Das beste Beispiel ist der Trafik-Skandal, bei dem pragmatische Journalisten hunderte persönliche Kontakte, Freundschaften, Verwandtschaften, sogar Nachbarschaften zwischen den Staatsleuten und den Privatpersonen, die eine Konzession erhielten, feststellten. Es handelt sich wohl kaum um Zufälle. Die Tatsache, dass all das praktisch durch die staatliche Maschinerie gerutscht ist und weder von der Polizei, noch von der Staatsanwaltschaft, dem Gericht oder dem Verfassungsgericht aufgehalten wurde, zeigt, dass das System an jedem Punkt grünes Licht gegeben hat.
Sie wollten in Ihrer Dissertation demonstrieren, welche Ressourcen die einzelnen Gesellschaftsschichten nutzen, welche Beziehungen sie spielen lassen. Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
Vor allem in Osteuropa, in postsozialistischen Ländern, nutzt man mit Vorliebe in der Gesellschaft verflochtene, informelle Netzwerke zum Austausch. Ich helfe dir mit dem Bau deines Wochenendhauses, dafür bringst du mein Kind in der Schule unter. Es sind einerseits die sozialistische Vergangenheit, andererseits oft der Zwang der Wirtschaftsordnung, die die Menschen dazu bringen, kleinere oder größere Spitzbübereien zu begehen. Es ist aber etwas ganz anderes, wenn diese Netzwerke bewusst dazu genutzt werden, um dem System Geld zu entwenden. Sie beginnen formelle Vereine und Firmen zu korrupten Zwecken zu gründen, benutzen professionelle „Broker“, deren einzige Aufgabe ist, professionell und hauptberuflich korrupte Netzwerke zu knüpfen. Das sind häufig Anwaltskanzleien: Ihre Aufgabe ist es, vertragliche Strukturen zu kreieren, durch die sie das Geld aus dem System ziehen können.
Ist das ausschließlich dem Machtüberschuss der aktuellen Regierungsmehrheit zu verdanken?
Es gibt einen Unterschied zu früher. Die Korruption ist bereits eine Institution, gehört zur täglichen Routine, wir reden nicht von vereinzelten Fehltritten. Es geht nicht mehr um Nokia-Schachteln, Briefumschläge und einige Millionen. Heute manipulieren sie mit wesentlich subtileren Mitteln, als der direkten Geldrückverteilung. Heute bekommst du einen staatlichen Auftrag oder eine nicht zurückzuerstattende Förderung in Milliardenhöhe, dafür musst du bestimmte Sportvereine oder Clubs finanzieren. Oder du bekommst einen Auftrag für Investitionen in Milliardenhöhe, musst aber zum vielfachen des Marktpreises ausgewählte Firmen für Schulungen, Beratungen und Softwareentwicklungen beauftragen. So lassen sie die Gelder hin und her fließen, was sie schwer greifbar macht; Obendrein werden praktisch vorschriftsgemäß Unmengen an Ressourcen abgezapft. Über die Beträge kann man nichts sagen. Es laufen riesige Programme mit einem Aufpreis von 20-30-40 Prozent. Man sieht auch, dass diese Programme und Investitionen im Gegensatz zu früheren Regierungsprogrammen tatsächlich verwirklicht werden. Es gibt keine 1,5 Meter hohen Aussichtstürme, Autobahnen, die ins Nichts führen – das bedeutet, dass die Methoden raffinierter und professioneller sind. So kann man nicht behaupten, dass sie die Gelder für völlig falsche Dinge ausgeben. Wenn ein acht Milliarden Plan aus 9,5 Milliarden verwirklicht wird, dann wird keiner etwas damit anfangen können und die Einrichtungen die prinzipiell zur Kontrolle dienen, wollen damit nichts anfangen. Der unerklärliche finanzielle Zuwachs derer, die aus staatlicher Bezahlung leben und die Reichtümer in Höhe mehrerer Hundertmillionen sind besonders interessant, weil wir nicht von vereinzelten Abteilungsleitern und leitenden Beamten des Ministeriums sprechen, sondern von der Spitzenelite der Politik.
Laut Schätzung der Organisation Transparency International werden bei mindestens 90 Prozent der Ausschreibungen die Preise erhöht oder direkt angepasst. Stimmen Sie überein?
Es ist tatsächlich typisch, dass der Plan bereits an jemanden angepasst ist. Mit den Unionsgeldern ist das größte Problem, dass bei ihrer Verteilung auch nicht-korrupte Beteiligte unter enormen Druck stehen, dass die immensen Summen rechtzeitig ins Land kommen und das BIP, die Einkommen und die Beschäftigungszahlen erhöhen. Durch diese Prioritäten schreiben sogar nicht-korrupte Teilnehmer ihre Pläne teurer aus. Schließlich kommt es darauf an, das Geld irgendwie ausgeben zu können. Das ist immer noch besser, als wenn das System ins Stocken gerät und kein externes Geld eintrifft. Deswegen ist jeder daran interessiert zu Wort zu kommen, sich schnell zu bewerben und das Geld zu verteilen. Dass es keinen echten Wettbewerb gibt, erhöht das Risiko der Korruption enorm.
Wie könnte man die wirklich großen Fische zu Fall bringen?
Die korrupten Systeme, die von oben gelenkt werden, brauchen sehr viele Finanz-Strohmänner. Sie sind laut Papier saubere Firmen und Eigentümer, mit denen man Verträge schließen kann. Ihre Hauptfunktion ist die Privatisierung öffentlicher Gelder. Da es zwischen den korrupten Mitspielern und den Strohmännern offiziell keinen Kontakt gibt, ist es sehr schwer, solche Strukturen aufzudecken und zu Fall zu bringen.
Was weiß man über die Rolle der multinationalen Firmen in diesen Strukturen?
Multinationale Firmen sind sehr gründlich und sind höchst selten direkt in solche Fälle involviert – sie lassen Ratgeber und Distributoren quasi die Drecksarbeit für sich erledigen. Der Siemens-Skandal ist so gesehen eine Ausnahme. Es ist aber auch eine großkalibrige Firma und es ist in niemandes Interesse sie zu ruinieren. In solchen Fällen zahlen sie ein paar Millionen oder Milliarden Dollar Bußgeld, lassen ein paar Führungskräfte zurücktreten, unterstützen hier und da ein paar Antikorruptionskonferenzen und damit hat sich´s. Offiziell endet Korruption bei der Bestechung mittlerer Beamten – das spiegelt sich auch in den aufgedeckten Fällen und in der Antikorruptionsstrategie. Der Oberste Staatsanwalt Péter Polt, ist an sich schon problematisch, denn er ist Mitglied der aktuellen Regierungspartei und war Wahlkandidat, was ebenfalls den Gedanken bekräftigt, dass die Politik auch dort im Spiel ist, wo sie es nicht sein sollte. Obendrein fungiert die Staatsanwaltschaft als paramilitärische Organisation. Die Staatsanwälte sind wahrscheinlich befehlsausführende Soldaten. Die Politik versucht auch die Gerichte und deren Entscheidungen zu beeinflussen, aber ich denke dennoch, dass die Gerichte nicht direkt kontrolliert werden. Mit guten Regelungen könnte man eine Einrichtung für ein Antikorruptionssystem ins Leben rufen, welche Abweichungen herausfiltert. Aber bei uns kämpft niemand wirklich gegen die Korruption und wir können von den Regelungen nicht erwarten, dass sie uns helfen. Das bedeutet auch, dass der Kampf gegen Korruption an die Zivilsphäre, die gesellschaftlichen Bewegungen und die Presse übergeht.
Und was hat es geholfen, dass die Presse den Trafik-Skandal aufgedeckt hat?
Etwas erreichen kann man in den Fällen, die wirklich Verlierer haben, wie auch im genannten Trafik-Skandal. Wahrscheinlich konnte man die Verlierer auf Grund der Impotenz der Opposition nicht so weit bewegen und aktivieren, dass man wirklich großen Druck auf die Regierung hätte ausüben können. Wenn Sheldon Silver, einer der einflussreichsten demokratischen Politiker des Staates New York wegen Korruption verhaftet wird, zeigt das, dass die amerikanische Staatsanwaltschaft von der Politik unabhängig ist. Kann sich heute jemand in Ungarn vorstellen, dass die Staatsanwaltschaft einen der Minister oder einen leitenden Regierungsbeamten abführt?
Aus dem Ungarischen
von Laura Páll
Das Interview erschien am 3. Januar in der linksliberalen Wochenzeitung hvg.
Der Beitrag ist anscheinend allen egal!
Ist ja auch wirklich eine Nebensächlichkeit, was Herr Jancsics so über Ungarn zu berichten hat. Vor allem angesichts der Tatsache, dass in diesem Winter schon über 70 Menschen erfroren sind.
Sicherlich sind Korruption, Subventionsbetrug uä. schwerwiegende Probleme. Der Artikel wäre allerdings glaubwürdiger, wenn sich hvg auch 2002-2010 bei der Aufdeckung von Korruption derart ins Zeug gelegt hätte. So lange das Land seine wirtschaftliche Position verbessert und sich dies langsam beim Lebensstandart und dem Erscheinungsbild der Städte bemerkbar macht, scheint die Mehrheit der Magyaren die Korruption als üble, aber unvermeidbare Nebenerscheinung zu akzeptieren. Korruption ist historisch leider Bestandteil sowohl der kapitalistischen als auch sozialistischen Wirtschaft, besonders in den Expansionsphasen. Die Begründer der amerikanischen und auch so mancher europäischer Nabob-Dynastien waren juristisch gesehen schlicht und einfach Verbrecher. Über die Aussage, dass die amerikanische Staatsanwaltschaft politisch unabhängig ist, können sicherlich auch viele Amerikaner herzlich lachen. Von wo stammt die Zahl der 70 Wintertoten?