Das Bruttoinlandsprodukt ist doch wieder etwas dynamischer gewachsen, die Industrieproduktion erlebt einen zweiten Frühling, der Arbeitsmarkt lotet neue Grenzen aus und mit der lästigen Preisstabilität ist es demnächst auch wieder vorbei. Ungarns Wirtschaft ist vielleicht nicht gleich ein Modellfall, doch dürfen immer mehr andere Länder neidisch auf uns sein. Oder auch wieder nicht, wenn man den aktuellen Wachstumsbericht der Notenbank hinzunimmt.
In den ersten neun Monaten des Jahres ist Ungarns Wirtschaft um 2,8 Prozent gewachsen. Im III. Quartal waren es – wie das Zentralamt für Statistik (KSH) am vergangenen Freitag meldete – auf Jahresbasis nur noch 2,4 Prozent. Dabei hatte das verarbeitende Gewerbe seinen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) wieder um 5,9 Prozent gesteigert, die Industrie insgesamt 5,2 Prozent draufgepackt, doch fielen das Baugewerbe leicht (um 0,5 Prozent) und die Landwirtschaft dramatisch (um 18 Prozent) zurück. Mit einer um 3,7 Prozent erhöhten Wertschöpfung stieg der Dienstleistungssektor zum erstrangigen Wachstumsmotor auf. Wuchs dieser Sektor im Herbst 2014 noch um 1,1 Prozent und im Winter um 1,8 Prozent, waren es Anfang 2015 bereits 2,1 Prozent, im Sommerquartal 2,7 Prozent und nunmehr 3,7 Prozent. Im Handel und Gastgewerbe fällt diese Konjunkturdynamik mindestens doppelt so intensiv aus. Aber auch die IT-Kommunikationsbranche sowie Speditionswesen und Logistik zeigen eine solide Entwicklung.
Dienstleistungssektor aktiver als Automotive
Die Regierung hat mittlerweile erkannt, dass die „Reindustrialisierung“ Ungarns ganz schön und nett ist, wegen des VW-Dieselskandals aber weiche Knie bekommen und eingesehen, dass die Automobilindustrie ein sehr starkes, aber auch kein felsenfestes Standbein darstellt. Nun tönt die Kommunikationsmaschinerie – wie gestern wieder bei Unterzeichnung einer strategischen Vereinbarung mit der IT Services Hungary (ITSH) Kft. in Budapest – von der hohen Wertschöpfung, die im Dienstleistungssektor generiert wird. Eigentlich ist nicht neu, dass Dienstleister überwiegend hochqualifizierte Arbeitskräfte mit Hochschulabschluss suchen, die für hierzulande satte Gehälter anständig Werte schaffen sollen. Aber erst jetzt stellte sich heraus, dass die Dienstleistungsbranche im vergangenen Jahr bereits mehr neue Jobs als die Automobilindustrie einrichtete! Allein die DT-Tochter ITSH beschäftigt mehr als 4.000 Mitarbeiter in Budapest, Debrecen, Pécs und Szeged und plant für 2016, weitere 400 Fachkräfte einzustellen. Solche Unternehmen zeigen eine Alternative zu dem noch weit verbreiteten Dilemma der billigen ungarischen Arbeitskräfte auf.
Von denen mehr als 200.000 der Staat selbst kreiert hat, indem er die öffentlichen Arbeitsprogramme erschuf. Dort werden Personen, denen der primäre Arbeitsmarkt aus verschiedensten Gründen verschlossen bleibt, zu Löhnen angestellt, die noch unter dem gesetzlich fixierten Mindestlohn liegen. Dabei sichert der Mindestlohn netto (denn auch hier gelten die staatlichen „Versicherungs“-Abzüge) nicht einmal eine Existenz.
Auf Volkswirtschaftsebene belief sich der durchschnittliche Bruttolohn in den ersten neun Monaten auf gut 250.000 Forint, netto verblieben davon annähernd 160.000 Forint. Auch die Industrie steht nicht für herausragende Löhne, weshalb die Politik den Erfolg ihrer Industriepolitik lieber aus der Anzahl der geschaffenen Arbeitsplätze abliest. Zwischen 50.000 und 100.000 neuen Arbeitsplätzen schwanken die jüngsten Schätzungen – wenn die Industrieproduktion zweistellig wie im Oktober durch das KSH gemessen steigt, werden es in der Tendenz natürlich mehr. Zwischen Januar und Oktober legte der Industrieausstoß um 7,1 Prozent zu; mit einem kräftigen Endspurt könnten die im Vorjahr erzielten 7,7 Prozent vielleicht doch wieder erreicht werden. Die Beschäftigungsquote ist derweil auf 65 Prozent geklettert, mittlerweile 4,27 Mio. Ungarn gehen einer geregelten Arbeit nach. Hinsichtlich der männlichen Beschäftigten hat das Land die Vorgaben der EU-Beschäftigungsstrategie für 2020 bereits erreicht, bei den Frauen bleibt noch allerhand Überzeugungsarbeit zu leisten.
Wettbewerbsfähigkeit, Wertschöpfung, Produktivität
Die ungarische Wirtschaft bewegt sich zweifellos auf einer stabilisierten Bahn, doch sind ihr mit der großen Krise von 2008 scheinbar auch die großen Ambitionen abhanden gekommen: Die Ungarische Nationalbank (MNB) gibt das potenzielle Wachstum mittelfristig jedenfalls mit 2,5 Prozent im Jahr an. Damit lässt sich der durch verfehlte Weichenstellungen der Wirtschaftspolitik seit 2001 selbstverschuldete Rückstand zu den regionalen Wettbewerbern kaum aufholen, geschweige denn ein Modernisierungssprung wagen, um noch in diesem Leben Wohlstandsgesellschaften wie Österreich oder Deutschland das Wasser zu reichen. Im MNB-Urteil hat die abflauende globale Konjunktur ihren Anteil an den gedrückten Wachstumsaussichten (was angesichts des offenen Charakters der ungarischen Wirtschaft nur allzu plausibel ist), doch profitiert das rohstoffarme Land zur gleichen Zeit von Rohölpreisen um 40 Dollar fürs Barrel. Denn es tobt neben dem heißen Krieg in Syrien ein „kalter“ Krieg um Marktanteile auf dem Ölmarkt, wo OPEC, Amerikaner, Russen und der den Bann der Wirtschaftssanktionen ablegende persische Staat die Karten mischen – für eine Weile sehr zum Vorteil der Ölkunden.
„Dieses Auto rollt, weil sie es schieben, dabei fehlt ihm der Motor.“
Balázs Romhányi, Geschäftsführer des Instituts für verantwortliche Haushaltsplanung (KFI), zu den Wachstumsaussichten, die einzig und allein von den EU-Geldern abhängen.
Wettbewerbsfähigkeit, Wertschöpfung und Produktivität sind bei der MNB Schlagwörter, mit denen Ungarns nachhaltige Wachstumsbahn zu ebnen ist. Wenn beispielsweise die Exportdynamik abzustützen sei, lässt sich erahnen, dass sich der Forint auch in der Folgezeit nicht von seiner starken Seite präsentieren wird. Die demographische Entwicklung wird für die Angebotsseite des heimischen Arbeitsmarktes Herausforderungen bereithalten, weshalb einer gesteigerten Aktivität gewisser Randgruppen und insbesondere einer qualitativen Aufwertung des Humankapitals das Wort geredet wird. Ungarn hat in den vergangenen fünf Jahren nur jeweils 4-5 Prozent des BIP in sein Bildungswesen gesteckt, ungefähr einen Prozentpunkt weniger, als im OECD-Durchschnitt investiert wurde.
Bezüglich der Produktivität sind die ungarischen Unternehmen im letzten Jahrzehnt hinter der Region zurückgeblieben. Die bereits vor 2008 ausgeprägte Schuldenkrise bremste die Inlandsnachfrage; die Dualität zwischen den internationalen Großunternehmen bzw. den einheimischen Kleinfirmen und Mittelständlern ist im globalen Maßstab beträchtlich. Die katastrophale Situation im Gesundheitswesen ist ein weiterer Faktor, der längst auf die Wettbewerbsfähigkeit des Landes durchschlägt. Dass weniger Auslandskapital nach Ungarn floss und die Investitionen auf ein niedriges Niveau fielen, macht selbst der MNB-Bericht an der allgemeinen wirtschaftspolitischen Unsicherheit und dem gestiegenen Risikoaufpreis fest.
Preise steigen, Defizit sinkt
Wenigstens kehrt die Inflation zurück: Im November maß das KSH einen Anstieg der Verbraucherpreise zum Vorjahr um 0,5 Prozent, die mittlere Jahresinflation könnte letztlich bei null ankommen. Dabei hat die Regierung Tabakwaren und Spirituosen drastisch verteuert und auch Anteil am Preisanstieg bei Dienstleistungen; dass die Benzinpreise um ein Achtel in den Keller fielen, ist wirklich nicht auf ihrem Mist gewachsen. Beredter ist da, dass sich der Warenkorb für Rentner im November im Jahresvergleich um 1,0 Prozent verteuert hat, während die von saisonalen Einflüssen bereinigte Kerninflation 1,4 Prozent erreichte.
Und noch eine gute Nachricht zum Schluss: Der Staatshaushalt wird auch 2015 im Lot bleiben. Zwar kam im elften Monat ein auf den ersten Blick verblüffendes Defizit zusammen, doch hat die Regierung knapp 500 Mrd. Forint an EU-Fördermitteln für Ausschreibungssieger vorgeschossen, die der Staat später von der Kommission zurückerhält. Wenn das Wirtschaftsressort erklärt, das Defizitziel von 2,4 Prozent am BIP sei nicht in Gefahr, darf man dieser Aussage getrost Vertrauen schenken. Die Wirtschaftsakteure dürfen daraus ableiten, dass sich die Haushaltsstrenge ab 2016 lockert und sich mehr Spielraum für Steuersenkungen ergeben könnte.