Elf Jahre ist es nun her, dass Ungarn, zusammen mit neun weiteren Ostmittel- und Südeuropäischen Staaten, der Europäischen Union beigetreten ist. Doch die politischen Entwicklungen und der öffentliche Diskurs der vergangenen Jahre haben in Ungarn maßgeblich dazu beigetragen, dass das einst Unvorstellbare heute eher als eine beunruhigende Alternative am Horizont erscheint. Denn die besorgniserregende Frage taucht in vielen Köpfen immer wieder auf: Stellt die Europäische Integration wirklich eine Einbahnstraße für Ungarn dar? Und weiter gedacht — kann das illiberale, konservative Modell nationalistischer Prägung der ungarischen Regierung in irgendeiner Form doch zu einem Ende der EU-Mitgliedschaft des Landes führen?
Die politischen Statements und Diskurse des rechtspopulistischen Lagers, „der Freiheitskampf gegen die EU“, tun dabei ihr Übriges, haben sie doch diese negative Entwicklung maßgeblich beeinflusst. Da ist es auch kein Wunder, wenn man sich von einfachen Versprechen aus denselben Quellen nicht so einfach beruhigen lässt. Die Liste der diskursiven Großangriffe gegen die EU ist lang — sie reicht von den Orbán-Reden vom März 2011 (der berüchtigte Vergleich von Brüssel mit Moskau) bis hin nach Tusnádfürdő im Juli 2014 oder nach Kötcse in diesem September. Bedeutende Signale der Versöhnung sind dabei im Vergleich eher schwierig zu finden. Doch egal wie alarmierend und bedenklich die Entwicklungen seit 2010 im Allgemeinen und aktuell in Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise im Einzelnen sind, es lohnt sich, die Argumente unter die Lupe zu nehmen, die gegen einen EU-Austritt Ungarns sprechen.
Erstens…
— jedweder Austritt oder Ausschluss muss als unwahrscheinlich gelten, da die europäischen Institutionen während der vergangenen Jahre mehrmals systematisch bewiesen haben, dass die EU auf strategischer Ebene auf keine Konflikte mit der ungarischen Regierung eingeht und eben deshalb über kein strategisches Drohpotenzial gegenüber der Politik aus Budapest verfügt. Ungarn ist mindestens seit dem April 2013, seit der vierten Veränderung seines Grundgesetzes „Artikel-7-reif“. Die europäischen Institutionen könnten also wohlbegründet das so genannte Artikel-7-Verfahren anwenden, um schwerwiegende Verletzungen der EU-Grundwerte auf ungarischer Seite festzustellen. So weit ist es aber nie gekommen. Und das trotz der Tatsache, dass der Fidesz während der letzten fünf Regierungsjahre mit Hilfe seiner Zweidrittelmehrheit alle Verfassungs- und gesetzlichen Rahmen, alle Regeln des politischen Wettbewerbes einzig und allein nach seinem partikularen Machtinteresse verändert und dabei institutionelle Stellen und Machtpositionen mit loyalen Leuten besetzt hat. Ungarn ist heute am Rand eines „captured states“, sowohl verfassungsrechtlich als auch humanpolitisch. Denn selbst wenn die Opposition die Wahlen 2018 oder 2022 gewinnen könnte — mit aller Wahrscheinlichkeit wird sie nicht über eine nötige Zweidrittelmehrheit verfügen, die wiederum die Änderung der Verfassungsregeln oder die Abschaffung der von Fidesz besetzten Positionen ermöglichen könnte. Die EU konnte dabei dieser systematischen Untergrabung der liberalen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nichts Strategisches gegenüberstellen. Die Europäische Kommission hat einzelne, partikulare Vertragsverletzungsverfahren eingeführt, die der Regierung in Budapest bis zum aktuellen Paks-Verfahren keine großen Sorgen bereitet haben. Die ungarische „Zwei Schritt nach vorne, ein Schritt zurück“- Strategie hat makellos funktioniert und maßgeblich dazu beigetragen, dass man die liberale Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn ohne größere europäische Intervention abbauen konnte. Und das gilt auch für die Zukunft: Solange die Regierung in Budapest keine der wenigen roten Linien überquert — siehe der Fall der Todesstrafe — muss man Seitens der EU mit keinen strategischen Sanktionen rechnen. Wenn also die Europäische Union keine wirklichen Konsequenzen zieht, wieso sollte die Orbán-Regierung dann Ungarn aus der EU raussteuern wollen?
Zweitens…
— die EU-Mitgliedschaft ist finanziell unentbehrlich für das Überleben der Orbán-Regierung. Während den letzten Jahren hat sie zwar die Haushaltszahlen stabilisiert und ein gewisses Wachstum generiert; von einem nachhaltigen Kurs ist Ungarn aber noch weit entfernt. Den Schlüsselbranchen Bildung und Gesundheitswesen werden ständig Finanzquellen entzogen; die Entwicklung unter dem Gesichtspunkt „Human Ressource“ erscheint ebenfalls wenig zukunftsfähig. Demgegenüber erhielt das Land jedes Jahr 3-4% seines Bruttoinlandproduktes durch die Finanztransfers der europäischen Kohäsionspolitik. Diese Kohäsionstransfers ergeben die einzigen wahren Entwicklungsquellen für öffentliche Infrastrukturinvestitionen. Die Suspendierung von diesen Auszahlungen würde die Orbán-Regierung in zweierlei Weise schwächen. Erstens: Die Investitionsebene der ungarischen Ökonomie ist auch heute nicht ausreichend und nachhaltig. Ohne die europäischen Finanzquellen würde dabei die öffentliche Infrastruktur innerhalb einiger Jahre wegen Abnutzung und Verschleiß zusammenbrechen. Zweitens: Genau diese Entwicklungsquellen verteilt die Regierung in Ungarn im Rahmen der öffentlichen Anträge für Firmen politischer Gefolgsleute oder befreundeter Oligarchen als eine Art institutioneller Korruption. Ohne die Europäischen Finanztransfers würde also auch das wirtschaftliche Hinterland von Fidesz inklusive einem großen Teil seiner Parteifinanzierung zusammenbrechen.
Drittens…
— Ungarns EU-Mitgliedschaft hat auch makroökonomisch keine Alternative; das Land ist eindeutig abhängig von den europäischen Märkten. Rund 70% seines Handelsverkehrs tätigt Ungarn mit anderen Mitgliedsstaaten auf dem europäischen Markt. 80% der ausländischen Direktinvestitionen stammt aus der EU. Deutschland allein übernimmt durchschnittlich ein Viertel des gesamten ungarischen Exports; Alternativen sind kaum in Sicht. Die östliche und auch globale Öffnung der ungarischen Außenpolitik könnte ein Mittel sein, um zusätzliche Exportmärkte zu erschließen. Doch Russland, China, die Türkei oder Aserbaidschan werden als Ersatzhandelspartner nie in der Lage sein, den Stellenwert der EU zu erreichen. Mit Ausnahme des Energieimports und der Paks-Investition ist z.B. Russland ein kaum existierender Handelspartner für Ungarn, der grundsätzlich nur 2,5 % des ungarischen Exports übernimmt. Und daran hat auch die „östliche Öffnung“ nicht viel verändert, denn unabhängig vom großen diplomatischen Aufwand konnte sie unter wirtschaftlichem Gesichtspunkten keine messbaren Ergebnisse liefern. Wenn also die ungarische Wirtschaft so tief im europäischen Markt verankert ist, warum sollte man dann diese engen und alternativlosen Verbindungen zerreißen? Das käme einem wirtschaftlichen und politischen Selbstmord gleich.
Viertens…
— die Mächte, die heute in der ungarischen Politik als Alternativen zur europäischen Integration dargestellt werden, wie z.B. Russland, würden Ungarns EU-Austritt auch nicht befürworten. Und nicht nur deshalb, weil sie die wirtschaftliche Rolle der EU gegenüber Ungarn nicht übernehmen könnten oder wollen. Die ungarische Politik ist durch Fidesz und Jobbik mit russischen Interessensnetzwerken verknüpft. Doch Moskau ist in erster Linie an Ungarn interessiert, um so die EU- und die NATO-Politik beeinflussen zu können. Ohne die Mitgliedschaft in diesen Integrationsformaten hat Ungarn in den Augen seines neuen Partners kaum eine weiterreichende Bedeutung. Das müssen auch diejenigen im Hinterkopf behalten, die ihren Blick heute wieder nach Osten werfen. Und nicht zuletzt: Ein EU-Austritt ist keine Einzelentscheidung, sondern ein mehrjähriger Verhandlungsprozess, der jederzeit abgebrochen werden kann, wenn das Land vom Austrittswunsch zurücktritt. Die Austrittsverhandlungen könnten sich also auch bis in die nächsten Legislaturperiode erstrecken. Das könnte die ungarische Bevölkerung dann vielleicht doch aufrütteln, wenn es also wirklich darum geht: Raus oder Drinbleiben?
Daniel Hegedüs
associate fellow, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin
Vermutlich ab Oktober 2016 können Türken visafrei in die EU. Natürlich auch nach Ungarn, auf der Suche nach einem neuen Land und Leben. Viele Türken ( bzw Einwanderer mit türkischen Papieren ) werden bleiben . Das Land wird sich in wenigen Jahren genau so entwickeln wie die Parallelgesellschaften in Westeuropa – zu moslemischen Slums mit vielen Moscheen. Gute Nacht Ungarn !
Alpträme muss man doch nicht haben, oder?
Es gibt einige Dutzend islamische Staaten auf dieser Welt, in welchem würden Sie gern freiwillig leben ? Zur Entscheidungsfindung gibt es massenhaft Videos, Nachrichten, Magazine, Internetseiten …
Wenn ich diesen Unsinn schon höre: „Keine Alternative“. Hätten unsere Urahnen so gedacht, würden wir noch in Höhlen leben und uns überlegen, ob wir morgen wohl Viecher jagen oder gejagt werden.
Zum Thema eine akutelle Mitteilung des Europäischen Parlaments von heute:
„Ungarn: Parlament fordert Überwachung der Lage der Demokratie
PLENARTAGUNG Pressemitteilung – Grundrechte − 16-12-2015 – 15:14
Die EU sollte unverzüglich mit der Überwachung der Lage der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn beginnen, fordern die Abgeordneten in einer am Mittwoch angenommenen Entschließung. Die EU-Kommission sollte bewerten, ob die kombinierten Auswirkungen einer Reihe von Regierungsmaßnahmen zu einer „systemischen Gefährdung“ geführt haben, die ähnliche Entwicklungen in anderen Mitgliedstaaten zur Folge haben könnte, wenn die Kommission hier nicht eingreift.
In der Entschließung, die mit 327 Stimmen bei 293 Gegenstimmen und 61 Enthaltungen angenommen wurde, wiederholt das Parlament seine Forderung an die Kommission, „unverzüglich einen umfassenden Überwachungsprozess zur Lage der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte in Ungarn in Gang zu bringen“, als Teil der Anwendung des „Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“, ein Instrument der EU-Kommission, das dazu dient, gegen sich abzeichnende systemische Gefährdungen der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat vorzugehen.“
http://www.europarl.europa.eu/news/de/news-room/20151210IPR06854/Ungarn-Parlament-fordert-%C3%9Cberwachung-der-Lage-der-Demokratie
Von einer Anwendung des Artikel 7 ist Ungarn noch weit entfernt, aber die Institutionen der EU, der Ungarn als Mitglied angehört, schauen ab jetzt genauer hin. Federführend für den entsprechenden Antrag im EP war übrigens die EVP, zu der auch der Fidesz gehört. http://www.eppgroup.eu/de/press-release/Human-Rights%3A-time-for-the-EU-to-use-its-full-weight
Es sind also nicht nur Linke und Liberale, sondern auch die konservativ-bürgerlichen Parteien sind nicht mehr bereit, der ungarischen Regierung alles durchgehen zu lassen.
Ergänzung zu meinem Kommentar:
Entschließung des EP v. 10.06.2015 zur Lage in Ungarn
http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P8-TA-2015-0227+0+DOC+XML+V0//DE
„Es sind also nicht nur Linke und Liberale, sondern auch die konservativ-bürgerliche Parteien usw.“
Wenn diese „Konservativen“ ebensolche Eunuchen sind, wie die CDU-CSU-Maulhelden, deren Zwergenaufstand gegen Mutti der Angst vor dem Verlust ihrer Pfründe zum Opfer fiel, hat Ungarn wahrlich nichts zu befürchten.
Wenn Konservative aufhören Konservative zu sein, sind sie einfach nur überflüssig und werden sich im Einheitsbrei der Zeitgeistparteien auflösen. In Deutschland und Frankreich zeichnet sie der Trend ab zu „Ganzgroßkoalitionen“, in denen sich die schrumpfenden Altparteien von rot über grün, rosa und gelb bis schwarz zusammenschließen, was letzlich zu neo-weimarischen Verhältnissen führen wird.
Ich habe zu meinern Kindern immer gesagt, „Wenn ihr Mist gebaut habt, bekennt euch rechtzeitig dazu, bevor das Problem zu groß für eine Lösung wird“. Heute könnten mir meine Sprößlinge mit Verweis auf die europäische Politik widersprechen. Die EU wird sich verjüngen oder sie wird dem Ostblock auf dem Weg in die historische Vergangenheit folgen.Schade, es „hätte“ was werden können…
Die Grundwerte sind wirklich in Gefahr, da die Zahl derer, die hinter Orbán stehen, in den vergangenen Monaten sehr gewachsen ist, so dass Fidesz seine zuletzt verloren gegangene 2/3 Mehrheit in eine 3/4 Mehrheit ausbauen könnte. Ein wahrer Fall von Demokratiegefährdung !!
Zur Demokratie nach Brüsseler Art gehören grundsätzlich steigende Staatsverschuldung, chaotische Verhältnisse und eine spezielle Art von Pommesliberalismus – ganz wie in Belgien. Eben fettig.
Lärm
Was war den der Grund für den Lärm- Organs gestiegene Umfragewerte ?
Sonst war doch in den letzten Wochen nicht viel passiert in Ungarn. Ist es der ungarische Virus, den auch Sie in sich tragen, der anstecken könnte ? Wieviel Lager und Häuser sind eigentlich in Ungarn (0) und wieviele in D (hunderte) in den letzten Monaten in Brand geraten ?
Manch BRAUCHT Ungarn als Sündenbock. Bis zur Großen Wahl in Frankreich in 2017 will man irgendwo in Europa ein Exempel statuieren. Ungarn bietet sich an und man erwartet, dass Orbáns Pragmatismus am Ende wieder gewinnt, er in der Quotenfrage einknickt. Wenn allerdings Feymann droht, so dürfte es er ein Lacher in Budapest werden, zumal Österreich auf dem Wege ist Ungarn rechts zu überholen.
Auch Ich erwarte von Orbán mehr Kompromissbereitschaft, Kooperation und europäischen Geist – jedoch wird es wohl darauf hinauslaufen, dass wiedermal bei der Einzelbetrachtung von Anklagepunkten gegen die Regierung in Budapest die Regel der “zweierlei Maßstäbe” festgestellt wird. Wie heißt es doch so schön: Es ist die Summe der Vergehen, die Orbáns Politik so gefährlich macht. Es wird also wieder ein Gehacke und Nachtreten geben.
Ich vermute: Ungarn hat bessere Chancen die Anwürfe von Außen zu überstehen als Deutschland, welches den Alleingang gewählt hat. Die Medien vermitteln noch ein anderes Bild. Sollte im nächsten Jahr Millionen Flüchtlinge kommen ohne spürbare Besserung der Umstände, in denen sich Gemeinden und Flüchtlinge in D, A, S, NL, … heute noch befinden, besteht die Gefahr eines Rechtsrucks in ganz Europa bei gleichzeitigem Chaos und Gewalt unter Flüchtlingen und gegen Flüchtlinge. Mit Orbán hat das dann wenig zu tun.