Das Jahr neigt sich dem Ende, viel ist geschehen, viel wurde diskutiert. Die Budapester Zeitung sprach mit dem Politologen und Publizisten Gábor Török über das politische Jahr 2015 und darüber, was Ungarn im kommenden Jahr erwartet.
Herr Török, zusammengefasst, was waren in diesem Jahr die wichtigsten politischen
Geschehnisse in Ungarn?
Selten ist so eindeutig feststellbar, wie in diesem, was das wichtigste und einflussreichste Ereignis war. Ich denke, wir sind uns einig: 2015 war sowohl in der europäischen als auch in der ungarischen Politik die Flüchtlingskrise und die darauf gegebenen politischen Reaktionen das bestimmende Thema. Ich denke nicht, dass uns dieses Thema ewig begleiten wird, aber es kann lange Schatten werfen: Was im Sommer 2015 in diesem Bereich geschehen ist, ist auch bis zu den Familien, „bis in die Wohnzimmer“ gedrungen. So gut wie jeder hat sich mit diesem Thema beschäftigt, hat sich eine Meinung gebildet. Daher wird dieses Thema noch lange in den Erinnerungen der Wähler präsent sein.
.Auch für die Parteien war es ein bewegtes Jahr, die Jobbik ist weiterhin stark und setzt ihre Wandlung zur Volkspartei fort. Was waren die entscheidendsten Stationen auf diesem Weg bisher? Und wie hat sich derweil deren Verhältnis zur Regierungskoalition entwickelt?
Im Frühjahr 2015 erreichte die Jobbik bei Umfragen Rekordwerte, noch nie wurden so hohe Unterstützerwerte für die Partei ermittelt. Im Anschluss daran jedoch – vermutlich durch die Flüchtlingskrise und die darauf gegebenen politischen Antworten der Regierung – stagnierte das Wachstum der Jobbik. Mehr noch, in allen Umfragen fiel sie um einige Prozentpunkte zurück. Meiner Meinung nach ist das Schicksal der Jobbik eng mit dem des Fidesz verbunden: Nachdem der Fidesz 2014 begann, die Rhetorik der Jobbik zu kopieren, übernahm die Jobbik immer mehr den Duktus des Fidesz. Die beiden Parteien besetzen derzeit sehr ähnliche Themen in der ungarischen Politik. All dies bedeutet, die Jobbik kann nur dann weiter erstarken, wenn der Fidesz einen Fehler begeht und schwächelt.
.Wie haben sich die linken oppositionellen Parteien in diesem Jahr präsentiert? Sowohl im Parlament als auch auf der Straße?
2015 war eine wichtige Station in der Krise der Linken: Während der Flüchtlingskrise hat sich erneut gezeigt, dass sie weder personell noch strategisch der Rechten derzeit etwas entgegenzusetzen hat. Nicht die Zersplitterung der Linken ist es, die ihr Erstarken verhindert, sondern das Fehlen der zwei genannten Elemente.
Was werden im kommenden Jahr die bestimmenden politischen Themen sein?
Ich glaube nur bedingt daran, dass sich Politik voraussagen lässt. So, wie vor einem Jahr niemand hätte voraussagen können, wie sehr die Flüchtlingskrise die ungarische Politik aufwirbeln wird, so ist es auch jetzt nicht wirklich sinnvoll, darüber zu reden, was 2016 bringen wird. Heute lässt sich aus der Perspektive eines Analysten nur so viel sagen: das Wahljahr 2018 ist noch sehr weit weg.
.Sehen Sie schon jetzt ein Thema, das im Wahlkampf eine überragende Bedeutung bekommen wird? Wenn ja, welches und wie werden sich die Parteien dazu positionieren?
Ich glaube, große Überraschungen wird es nicht geben. Vor den Wahlen werden normalerweise Bewertungen der Ergebnisse der Regierungsarbeit, die Frage der Korruption und die Versprechen der Opposition aufgearbeitet. Dies kann bei den kommenden Wahlen noch durch internationale, europäische Themen ergänzt werden. Aber auch hier gilt: 2018 ist noch sehr lang hin, bis dahin können noch zahllose Dinge geschehen.
„Auf der gestrigen Pressekonferenz in Wien hat sich Premier Viktor Orbán in der vielleicht besten Form seiner politischen Karriere gezeigt. Er sprach konzentriert, klar, verständlich und folgerichtig. Er stützte sich nicht wie gewohnt auf Slogans und Textbausteine, sondern auf eine eindeutige, logische und nachvollziehbare Argumentation. Ganz offensichtlich äußerte er nicht das, was ihm sein Kommunikationsteam vorher auf der Goldwaage abgemessen hat. Stattdessen hatte er – vielleicht, weil er jetzt daran glaubt, was er tut – den Mut, zu denken, zu vergleichen und abzuwägen. Bezüglich dieser Beobachtung gibt es sicher keinen Konsens unter den Analysten. Meiner Meinung nach ist das aber eine neue Erscheinung, die man sehen und interpretieren muss.“
So der Politologe am 26. September bezüglich der Wiener Pressekonferenz von Premier Viktor Orbán, auf der sich dieser einmal mehr sehr deutlich zur Flüchtlingsfrage geäußert hatte.