Das Vorhandensein von verfügbaren qualifizierten Fachkräften ist eine Grundbedingung für nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Doch immer mehr in Ungarn aktive Unternehmen beklagen, dass sie nicht mehr genügend finden. Erste Auswirkungen auf das Wachstum sind schon festzustellen. Ein wesentlicher Grund für die Misere ist die massive Abwanderung.
Der Trend ist klar: Viele Ungarn verlassen das Land. Nach Daten des Zentralamts für Statistik KSH ist etwa die Zahl der in Deutschland lebenden Ungarn von 2012 bis 2014 um 70 Prozent angestiegen. Offiziell waren 80.000 Ungarn in Deutschland gemeldet. Die Überweisungen der Auswanderer tragen mittlerweile mit drei Prozent zum ungarischen BIP bei: 2014 stiegen sie auf den Rekordwert von 920 Mrd. Forint (ca. 3 Mrd. Euro), für 2015 wird ein weiterer Anstieg erwartet. Wenn man unterstellt, dass 300.000 ausgewanderte Personen regelmäßig Geld heimschicken, wären das monatlich Beträge von durchschnittlich 250.000 Forint. Weil dies recht viel erscheint, dürfte die Zahl der Ausgewanderten in Wahrheit also deutlich höher liegen.
Die Auswirkungen: Verschlechterung des Investitionsklimas
Eine Folge ist, dass immer mehr Firmen über eine hohe Fluktuationsrate in ihrem Mitarbeiterstamm klagen; wenn immer wieder neue Mitarbeiter gesucht und eingearbeitet werden müssen, leidet die Produktivität. Besonders tragisch ist, dass vor allem höher qualifizierte Ungarn ihrem Land den Rücken kehren. Das Investitionsklima hat sich dadurch spürbar verschlechtert, wie Zoltán Török, Chefanalyst der Raiffeisen Bank, gegenüber dem Nachrichtenportal napi.hu erklärte. Einige ausländische Firmen hätten sogar schon Greenfield-Investitionen zurückgestellt oder bereits ganz fallen gelassen. Gerade im produzierenden Gewerbe sind vorgesehene Kapazitätserweiterungen nicht verwirklicht worden – wegen mangelnder Fachkräfte. Bisher seien die um 15-20 Prozent niedrigeren Löhne ein Wettbewerbsvorteil in der Region gewesen, doch die träge Lohndynamik rächt sich jetzt teilweise mit einem massiven Arbeitskräftemangel.
Bisher kommen die Klagen vor allem aus dem Mittelstand, aber auch die großen Unternehmen betrachten die Entwicklung mit Sorge. Um mehr Jugendliche zur Aufnahme eines Ingenieurstudiums zu ermuntern, haben Schwergewichte wie Audi, Mol und Continental die „Alliance for Future Engineers” ins Leben gerufen. Ihr Präsident László Ábrahám schlägt Alarm: „Nach einer von uns in Auftrag gegebenen Studie gibt es zurzeit etwa 4.000 offene Stellen für Ingenieure. Nach der moderatesten Schätzung könnten diese 4.000 Ingenieure einen jährlichen Umsatz von mindestens 50 Mrd. Forint generieren.“
Unter Berufung auf Daten des Wirtschaftsministeriums schätzt Ábrahám, dass von Unternehmen im produzierenden Gewerbe 21 Prozent nicht genug Fachkräfte finden. In eine ähnliche Richtung deuten die Daten des jährlichen Konjunkturberichts der Deutsch-ungarischen Industrie- und Handelskammer DUIHK. Nach diesen seien 46 Prozent der Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe mit der Verfügbarkeit von Fachkräften unzufrieden oder sogar sehr unzufrieden.
Lösungen: Mehr Arbeiter oder höhere Produktivität?
„Ungarns Bevölkerung schrumpft schon heute“ sagt Dirk Wölfer von der DUIHK. „Wenn dann noch qualifizierte Arbeitskräfte abwandern, dann reduziert das das Wachstumspotenzial noch weiter. Mittelfristig ist das ein wachstumshemmender Trend.“
Und eine Trendwende ist nicht in Sicht. Vor allem nicht über die Demografie. Alle Bemühungen der Orbán-Regierung zum Trotz scheint sich die Geburtenrate allenfalls auf einem niedrigen Niveau zu stabilisieren. Für Wölfer keine Überraschung: „Es ist in der heutigen Zeit eine Illusion zu denken, dass sich allein durch ein paar Steuererleichterungen das Reproduktionsverhalten ändert. Ich glaube nicht, dass das hier das ausschlaggebende Kriterium ist.“ Außerdem würde selbst ein sprunghafter Anstieg der Geburtenrate erst sehr langfristig Entspannung bringen. Und da die Möglichkeit, die Arbeitskraft von Migranten zu nutzen, von der Regierung kategorisch ausgeschlossen wurde, ist zu erwarten, dass es mittelfristig zu einem immer stärkeren Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte in Ungarn kommt. „Das gute Wachstum der letzten Jahre ist dadurch gefährdet.“
Wenn man Wachstum nicht durch mehr Arbeitskräfte generieren kann, könnte man die Produktivität verbessern. Doch auch für weitere Rationalisierungen sieht Wölfer nicht überall größere Potenziale. „Die großen Konzerne produzieren schon auf internationalem Topniveau. Bei den kleinen und mittleren Unternehmen gibt es zwar noch große Reserven, aber auch das wäre ein eher langfristig wirksamer Prozess, und zudem setzt er voraus, dass marktfähige Produkte und Leistungen vorhanden sind.“
Bedarfsgerechtere Studiengänge
Eher könnte die Produktivität durch verbesserte Ausbildung gesteigert werden. Bei der Wirtschaftspolitik gäbe es diesbezüglich kein Erkenntnisdefizit. „Dass da mehr getan werden muss, ist allen klar.“ Die Einführung der dualen Berufsausbildung sei bereits ein wichtiger Schritt nach vorn. Denn gerade die KMU im produzierenden Gewerbe brauchen nicht nur studierte Ingenieure, sondern vor allem gute Facharbeiter. Wölfer wünscht sich aber auch bedarfsgerechtere Studiengänge. Allerdings müsse man auch akzeptieren, dass der Umbau der Hochschullandschaft nicht ohne Widerstände gelingt, und greifbare Ergebnisse daher auch hier auf sich warten lassen.
Auch über eine verbesserte Weiterqualifizierung von Erwerbslosen könnte eine Entspannung der Lage erreicht werden. Denn theoretisch kommen auf die 71.000 offenen Stellen 384.000 Arbeitslose – diese sind aber in der Regel nicht entsprechend qualifiziert. Hier könnte mehr getan werden, so Wölfer, auch wenn man „so keine Ingenieure ersetzt“.
Eine der wichtigsten Herausforderungen sei es, die Auswanderung zu reduzieren. Eine Schlüsselrolle spielt dabei natürlich das Einkommen, denn die enorme Differenz im Lohnniveau zu relativ nahen Ländern wie Österreich und Deutschland scheint der Hauptgrund für die Abwanderung zu sein. Diese Differenz wird auf absehbare Zeit sicher weiter bestehen, sie könne maximal etwas verringert werden, so Wölfer: „Heute verdienen Fachkräfte das drei- oder vierfache im Ausland. Selbst wenn sich die Gehälter in Ungarn verdoppeln würden, bliebe immer noch ein deutlicher Unterschied.“
„In den letzten Jahren ist es schwieriger geworden, qualifiziertes Personal zu finden. Die Löhne in Ungarn werden auf lange Sicht steigen. Wenn die Produktivität proportional zur Lohnsteigerung steigt, dann ist das kein Problem, jedoch ist dies fraglich. Andere Anreize außer dem Lohn werden wenig helfen, um die Auswanderung zu bremsen.“ Christian Endres, Geschäftsführer der ELSO ELBE Hungária Kft.
Gefährden höhere Löhne Ungarns Wettbewerbsfähigkeit?
Andererseits sind höhere Preise die logische Konsequenz einer Verknappung der Ressource bei steigender Nachfrage. Dementsprechend steigen seit 32 Monaten die Reallöhne. Analysten rechnen in diesem Jahr mit drei bis vier Prozent. Das dürfte jedoch längst nicht reichen, um die Abwanderung zu stoppen. Erst eine Lohnsteigerung um 40-50 Prozent könnte viele zum Bleiben bewegen, schätzt Török von der Raiffeisen Bank. Aber das würde natürlich einen erheblichen Einschnitt mit Blick auf die Profitabilität der Firmen bedeuten. Eine Steigerung der Durchschnittslöhne um 15-20 Prozent auf der Makroebene würden jedoch weder Wettbewerbsfähigkeit noch Rentabilität beinträchtigen, meint der Analyst.
Wölfer sieht das ähnlich, aber differenzierter. „Die Erwartungen an die Rentabilität sind von Firma zu Firma und von Branche zu Branche sicher unterschiedlich. Höhere Löhne schmälern sicher die Margen, allerdings in abweichendem Maße.“ Dennoch würde ein jährlicher Lohnzuwachs von vier oder fünf Prozent die Wettbewerbsfähigkeit Ungarns sicher nicht grundsätzlich gefährden, meint er. Ungarns Lohnniveau ist eines der niedrigsten in der Region, das Land bietet aber zugleich eine gute Infrastruktur und auch sonst viele gute Voraussetzungen. Zwar gebe es Nachholbedarf bei Themen wie etwa Rechtssicherheit, transparente Gesetzgebungsverfahren und Berechenbarkeit – derartige Defizite können oft gute realwirtschaftliche Voraussetzungen konterkarieren. „Aber eine Investitionsentscheidung ist immer das Ergebnis einer Abwägung zwischen Kosten und Ergebnis. Und da steht Ungarn unter dem Strich weiterhin gut da.“
Ungarn könnte sich also höhere Löhne durchaus leisten. Und sie dürften vor allem im Interesse der Regierung liegen. Sie verliert am meisten durch die Abwanderung; gleichzeitig würde sie von höheren Löhnen, das heißt steigendem Konsum und Steuereinnahmen am meisten profitieren. In diesem Kontext ist auch die Initiative „Gyere Haza“ („Komm nach Hause“) zu sehen, die 2011 gegründet wurde und von der Regierung unterstützt wird. Nach Péter Kovács, dem Vorsitzenden der Initiative, will sie allen Rückkehrinteressierten bei möglichen Fragen und Problemen helfen. „Der eine will wissen, was er beachten muss, wenn er ein Haustier mit zurückbringt. Eine ältere Dame wollte wissen, wie sie ihre Rentenansprüche aus der Schweiz mit nach Ungarn nehmen kann. Wir können nicht allen helfen, aber wir versuchen es.“ Seine Initiative erhält nach seinen Angaben etwa 10-15 Anfragen pro Monat. „Aber natürlich braucht nicht jeder Hilfe, der zurückkommt und nicht jeder fragt uns”, relativiert Kovács diese bescheidene Zahl.
Für ihn ist die Auswanderung einerseits ein natürlicher Prozess auf einem freien Arbeitsmarkt, gerade weil Ungarn „nicht das bestzahlende Land Europas ist“. Aber gerade die vielen hochqualifizierten Auswanderer suchen seiner Erfahrung nach auch die Gelegenheit zur Weiterqualifikation und persönlichen Entwicklung. Er selbst, so erzählt er, habe erst im Ausland wirklich Englisch gelernt. Kovács ist davon überzeugt, dass die meisten der im Ausland arbeitenden Ungarn vorhaben, eines Tages zurückzukommen. „Ungarn lieben es einfach, in Ungarn zu leben”, ist er sich sicher. Erst recht, wenn es an die Familiengründung geht. Auch in Deutschland reicht ein normaler Lohn schon lange nicht mehr, um eine Familie zu versorgen. „Und mit Auslandserfahrungen und guten Sprachkenntnissen bekommt man sehr leicht gute Jobs in Ungarn.“ Dann überwiegen die Argumente für Ungarn sehr schnell.
Geht es wirklich nur um Geld?
Aber auch die Unternehmen können einiges tun, um ihre Mitarbeiter in Ungarn zu halten, findet Kovács. So existieren in vielen Unternehmen immer noch „gläserne Decken“, durch die Ungarn der Aufstieg in höhere Positionen ihrer Firma verbaut ist. „Gerade für gut ausgebildete Kräfte eine deprimierende Perspektive. „Wenn sie diese Möglichkeit in Ungarn hätten, würden sie vielleicht eher bleiben.“ Aber das gilt nicht nur für Top-Kräfte, meint Kovács: „Wenn du als Firma deine Leute motivieren willst, gib ihnen die Möglichkeiten sich fortzubilden, lass sie teilhaben an interessanten, wenn möglich globalen Projekten, vielleicht auch an Austauschprogrammen. Übertrage ihnen mehr Verantwortung.“
Bei Bosch habe man sich bereits darauf eingestellt. „Wir versuchen, ein Lohnniveau zu finden, das die Bedürfnisse von Mitarbeitern und der Firma in Einklang bringt”, sagt Oliver Schatz, der das Budapester Entwicklungszentrum von Bosch leitet. Das funktioniert offenbar. Schatz ist stolz darauf, dass Bosch dafür eine Fluktuation weit unter dem Landesdurchschnitt hat.
Und das übrigens nicht nur wegen des Lohnniveaus. „Unser Gesamtpaket stimmt. Wir haben viel in neue Gebäude und attraktive Arbeitsplätze investiert. Und wir bieten interessante und verantwortungsvolle Tätigkeiten. Wir haben nämlich beobachtet, dass dort, wo die Entscheidungen in Ungarn getroffen und verantwortet werden, die Fluktuation am geringsten ist. Und sie ist dort am größten, wo alle Entscheidungen in Deutschland getroffen werden und Ungarn nur als ‚verlängerte Werkbank‘ behandelt wird.“ Für Schatz ist deshalb klar: „Das Gehalt ist ohne Zweifel ein wichtiger Faktor. Aber ich glaube, es hat nicht den höchsten Stellenwert.“ Er betrachtet Geld als „Hygienefaktor“: Das Gehalt sollte so gut sein, dass man nicht darüber reden muss, sondern sich auf die Arbeit konzentrieren kann. Geld wird meist erst zum Thema, wenn es nicht reicht. Und die Leute schauen sich dann natürlich auch nach anderen Jobs um.
Peter Kössler, der neue Vorsitzende der Geschäftsleitung von Audi Hungaria, sieht das ähnlich. In seinem Antrittsinterview für die Budapester Zeitung (erscheint in der kommenden Ausgabe) vertrat er unter anderem die Meinung, dass die Menschen gerne bleiben, wenn das Verhältnis zwischen Gehalt und Lebensqualität passt. Zur Lebensqualität gehöre es auch, in seiner angestammten Heimat arbeiten und leben zu können. „Auch die Heimat ist ein Wert.“
„Ich kann nur beurteilen, was ich sehe. Viele junge Familien haben keine oder nur ein Kind. Mit einem normalen Lohn kann keine Familie ernährt werden. Wir zahlen deshalb einen leistungsgerechten Lohn und lassen die Mitarbeiter über ein Prämiensystem am Erfolg der Firma teilhaben. Aber auch das Umfeld und die Art des Umganges mit den Mitarbeitern im Betrieb spielt eine große Rolle. Sie danken es uns mit einer niedrigen Fluktuation.“ Uwe Friese, Geschäftsführer der Alu Casting Support Kft.
Höhere Löhne sind nicht alles, aber nötig sind sie trotzdem
Es scheint im eigenen Interesse der Industrie zu sein, bei den Löhnen nicht allzu sehr auf die Bremse zu treten, auch wenn man damit kurzfristig den Gewinn schmälert. Zu niedrige Gehälter treiben vor allem qualifizierte Kräfte ins Ausland und es besteht die ernste Gefahr, dadurch langfristig die Grundlagen für weiteres Wachstum zu gefährden. Es muss schnell gehandelt werden, denn es wird schwer sein, die Auswanderer zurück zu holen – und es werden sicher nicht alle wiederkommen. Es scheint dazu unerlässlich, dass die Löhne wesentlich steigen. Eine nachhaltige Reduktion der Auswanderung hängt jedoch nicht vom Gehalt allein ab. Auch weiche Faktoren wie Arbeitszufriedenheit und ein lebenswertes Umfeld tragen dazu bei, dass Mitarbeiter ihrer Firma treu bleiben. Eigentlich nichts Neues. Aber wie bei so vielem in Ungarn scheint hier Nachholbedarf zu bestehen.