Die Anschläge in Paris haben einmal mehr gezeigt, auch Europa ist ins Zielkreuz islamistischer Terroristen geraten. Doch was haben diese selbsternannten Gotteskrieger mit der Weltreligion Islam zu tun und wie hat sich das Leben für Muslime in Ungarn seit Paris verändert? Ein Gespräch mit Zoltán Sulok, dem Vorsitzenden der Ungarischen Muslimischen Kirche.
Herr Sulok, wie viele Gläubige gehören zu Ihrer Moschee?
Genau Zahlen haben wir nicht, wir führen auch nicht Buch darüber. Außerdem ist das eine sehr sensible Frage für viele Gläubige. Wir stehen aber mit mehreren Tausend Menschen in Kontakt landesweit, aber vorrangig in Budapest. Der Großteil der Gläubigen kommt zwar ursprünglich aus dem Ausland, aber auch die Zahl ungarischer Muslime wächst. Genaue Zahlen gibt es, wie gesagt, nicht. Auch der Zensus hat hier gänzlich irreführende Zahlen ergeben. Angeblich gibt es laut KSH (Zentralamt für Statistik – Anm.) etwa 5.700 Muslime in Ungarn. Das ist natürlich eine lächerlich geringe Zahl. In der Realität sind es deutlich mehr.
Und wie hat sich das Leben dieser Menschen seit den Anschlägen in Paris verändert?
Wir spüren keine Veränderung. Die Situation hat sich für uns aber bereits im Sommer mit Beginn der Anti-Flüchtlings-Plakatkampagne der Regierung und mit der Ankunft der Flüchtlinge in Ungarn verändert. Von da wurden wir Zeugen fragwürdiger Rhetorik. Seitdem verschlechtert sich auch die Situation für uns Muslime hier im Land.
In wiefern?
Sofort mit Beginn der Flüchtlingskrise wurde dies den Muslimen zu Last gelegt. Von höchster politischer Stelle wurde gesagt, Ungarn möchte keine große muslimische Minderheit und verzichtet auch auf heimische Politiker muslimischen Glaubens. Wie soll man dies bitte deuten? Sind meine Kinder nun nicht mehr willkommen hier im Land oder zählen sie nicht dazu, weil sie Ungarn sind? Fakt jedoch ist, dass es vor der Plakatkampagne im Sommer nie zu Übergriffen gegen Muslime gekommen ist, noch nie wurde eine Muslima auf offener Straße angespuckt, ihr das Kopftuch heruntergerissen oder sie anderweitig beleidigt. Das hat alles mit den Plakaten und der Flüchtlingswelle seinen Anfang genommen. In diese Kategorie fallen auch die Pariser Anschläge. Haben sie doch den Politikern Argumente geliefert, um gegen Flüchtlinge zu wettern. Wir halten dies aber für sehr gefährlich. Viele Muslima trauten sich am Samstag nach den Anschlägen nicht auf die Straße. Auch meine Frau nicht. Generell muss ich sagen, die Situation verschlechtert sich schon seit einer Weile, aber konkrete Auswirkungen von Paris spüren wir nicht.
Wie erleben Sie als Ungar und Muslim die Situation jetzt?
Ich leide sehr darunter. Ich versuche, meinen Pflichten als Staatsbürger so gut als möglich nachzukommen. Im Gegenzug erwarte ich aber auch, dass ich in Frieden und mit erhobenem Haupt mein Leben leben kann und mich nicht dauernd für meinen Glauben rechtfertigen muss. Natürlich verurteilen wir die Anschläge. Wir spüren aber auch, dass man von uns als Muslimen mehr erwartet, wir sollten mehr tun, als uns zu distanzieren und die Anschläge zu verurteilen.
Könnten Sie denn mehr tun?
Rein gar nichts. Wir sind weder eine Behörde, noch ein Amt. Wir sind eine Glaubensgemeinschaft, wir bieten den Menschen einen Ort, ihrer Religion nachzugehen. Wir unterrichten, wer von uns lernen möchte. Wer nicht bei uns einkehrt, den werden wir natürlich auch nicht unterrichten. Insofern ist es für uns Muslime jetzt sehr schwer, da wir jetzt en bloc mit den Attentätern vermengt werden.
Immer wieder wird von verschiedensten Stellen behauptet, der Islam sei an sich eine zur Gewalt neigende Religion. Stimmt das?
Der Islam ist seit 711 fortlaufend präsent in Europa als Religion, egal, ob auf dem Balkan oder in Andalusien. Es ist irritierend, dass er trotzdem noch als fremd und neu in Europa empfunden wird. Dabei hat der Islam sowohl kulturell als auch wissenschaftlich äußert positiv auf Europa gewirkt. Der Islam war schon immer Teil der europäischen Kultur, deswegen ist es für mich befremdlich, dass nun solche antiislamischen Töne zu vernehmen sind.
Ebenfalls irritiert es mich, dass nun ratlos auf die jüngsten Entwicklungen geblickt wird. Dabei sind diese keineswegs aus dem Nichts gekommen. Vielmehr haben sie sich schon seit langer Zeit angebahnt, haben eine Vorgeschichte, die mit Kolonialisierung und allen möglichen (militärischen – Anm.) Interventionen einherging. Schon seit langem brodelt es im Nahen Osten. Verantwortlich dafür zeichnen viele Köche und doch löffeln jetzt diejenigen, die damit am wenigsten zu tun hatten, die Suppe aus: die Europäer. Kurzum: Die Nato, sprich die USA, haben ihr Interessensüppchen im Nahen Osten gekocht und trotzdem ist es jetzt an Europa, die sich daraus ergebenen Probleme zu lösen und den Angriffen des IS etwas entgegenzusetzen.
Politiker übertrumpfen sich derzeit im Äußern von Lösungsvorschlägen, aber niemand spricht es aus: Die Nato trägt einen großen Teil der Verantwortung und mit ihr auch die USA. Hier müsste man ansetzen und Druck auf Amerika ausüben, sich am Lösen der Konflikte und auch am Lösen der in Europa entstandenen Probleme zu beteiligen. Solange im Nahen Osten keine gemeinschaftliche Lösung gefunden wird, die für alle Parteien – auch in Übersee – zufriedenstellend ist, solange werden die Konflikte anhalten. Millionen Menschen sind aus den Krisengebieten geflohen und sie werden nicht eher zurückkehren, ehe die Probleme im Land gelöst und die Situation sich verbessert hat. Wobei es hier darauf ankommt, dass die Situation für die Einheimischen wieder akzeptabel ist, denn nur dann werden sie zurückkehren. Und die meisten von den nun in Europa gestrandeten Menschen wollen auch heimkehren. Aber eben erst, wenn Frieden herrscht.
Haben Sie sich als Kirche auch an der Flüchtlingshilfe beteiligt?
Ja, wir haben das aber nie offiziell als Kirche getan. Eben weil wir nicht wollten, dass wir in Verdacht des Menschenschmuggels geraten, was mit der neuen Gesetzeslage verheerend schnell hätte gehen können. Aber wir waren vor Ort und haben auch unsere Gemeindemitglieder stets ermutigt, zu helfen. So gab es Mitglieder bei uns, die täglich 150 Pizzen an den Keleti Bahnhof gebracht haben, ein anderes Mitglied brachte 1.000 Decken. Aber wir haben immer ausschließlich mit den Zivilorganisationen vor Ort, sprich Migration Aid und MigSzol gearbeitet. Wenn sie nicht gewesen wären, wäre in Sachen Hilfe nichts geschehen. Die großen Hilfsorganisationen wie Malteser und Rotes Kreuz beteiligten sich erst dann an der Hilfe, als die EU Gelder dafür bereitstellte. Bis dahin waren sie nicht vor Ort. Das war sehr traurig zu sehen. Ich war auch draußen, habe gesehen und erlebt, dass ein großer Teil der Flüchtlinge nicht Muslime waren und trotzdem wurde es in den Medien immer so dargestellt, als ob ein Heer an Muslimen nun nach Europa gekommen wäre. So wurde eben bewusst Angst geschürt.
Wir haben zahllose Menschen aus Syrien, Afghanistan und von überallher getroffen, die nicht muslimisch waren, wir haben Hindus aus Indien getroffen, die uns mit „Salem aleikum“ begrüßten. Als wir ihnen Hilfsgüter gaben, wollten sie sie zuerst nicht annehmen, da sie ja keine Muslime waren. Aber wir waren nicht da, um Unterschiede zwischen den Hilfsbedürftigen zu machen, wir haben immer nur die Menschen gesehen. Dabei war absolut kein Gesichtspunkt, wer welchem Glauben angehört, oder wer aus welchen Gründen seine Heimat verlassen hat. Es ist schlicht kein Verbrechen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben einen Neuanfang zu versuchen. Früher sind die Menschen aus Europa Richtung Amerika ausgewandert, ebenfalls in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Migration existierte schon immer. Bisher war Europa der Ausgangspunkt, nun ist der Kontinent zum Zielpunkt von Migration geworden.
Sie sprechen von Angstmacherei. Wo spüren Sie diese am ehesten?
Vor allem in den Medien. Wenn ich heute den Fernseher oder das Radio anschalte, gleich welchen Sender, sehe ich mich mit Angstmache konfrontiert. Vielleicht erleben Nicht-Muslime das anders, aber wenn von Parallelgesellschaften beruhend auf der Scharia und dem Scheitern der Integration die Rede ist, von Segregation und den Anstieg von Gewalttaten aufgrund der Flüchtlinge im Land, dann macht das schon den Eindruck, als ob den Menschen Angst gemacht werden sollte. Geschehen dann solche Terrorattacken wie jüngst in Paris, haben Politiker auf einmal eine Zielscheibe und können sagen „Seht ihr, wir haben es ja gesagt!“.
Was genau ist die Scharia eigentlich?
Die Scharia ist das geschriebene Wort, nachdem Muslime ihr Leben gestalten. Das reicht von den zeremoniellen Reinigungen über Gebete, die Verpflichtung zum Spenden über Kindererziehung und Eheverträge. Und trotzdem wird dieser Begriff in Europa als Schreckgespenst verwendet. In Großbritannien gab es Bestrebungen, die Scharia als Rechtsgrundlage anerkennen zu lassen. Allerdings sind die Muslime dort damit gescheitert.
Worum ging es konkret?
Um einen Erbfall. Denn im Islam ist auch das Erbe geregelt. Kein Kind kann vom Erbe seiner Eltern ausgeschlossen werden. Aber auch bei Ehen gibt es immer Verträge nach der Scharia, die im Zweifel einer Scheidung in Kraft treten. Aber eben diese Verträge werden im Zivilrecht nicht anerkannt, weswegen es nur von der Gottesfurcht des Einzelnen abhängt, ob er sich letztlich an den geschlossenen Ehevertrag hält. Wer gläubig ist, und seinen Glauben ernst nimmt, hält sich an diese Verträge.
Immer wieder werden Angstbilder erzeugt wie abgeschlagene Hände als Strafe für Diebe und ähnliches. Wie stehen Sie dazu?
Das trifft mich sehr, denn hier fehlt schlicht das Verständnis für die Religion und das Interesse daran, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Im Strafrecht der Scharia beispielsweise gibt es tatsächlich die Strafe der abgeschlagenen Hand. Aber es bedarf eines Rechtsstaates, der dieses Bestrafungsmonopol innehat und durchsetzt.
Im Islam heißt es „Nur der Dieb fürchtet die Strafe.“ Und wirklich, wenn ich in ein Land fahre, in dem die Scharia gilt und schlicht nicht stehle, wird man mir auch nicht die Hand abschlagen. Und betrachten wir auch einmal die andere Seite der Medaille: Auch die Geschädigten haben Rechte. Entweder haben sie das Recht, dem Dieb zu vergeben und ihm das gestohlene Gut zu überlassen oder ihm kann die Hand abgeschlagen werden. Mehr aber nicht, das ist das Maximum und auch dies muss vor Gericht zweifelsfrei bewiesen werden. Bleibt auch nur der geringste Zweifel im Raum, ist das Urteil nicht vollstreckbar. Das Handabschlagen ist also bei weitem kein Automatismus.
Immer häufiger trifft man sowohl in Medien als auch bei Politikern die Meinung an, dass Muslime und Terroristen nahezu gleichgesetzt werden. Sind die Attentäter von Paris tatsächlich Muslime, weil sie sich auf den Koran berufen?
Freilich berufen sie sich auf den Koran. Aber berufen kann man sich auf vieles. Es gibt eine Karikatur, auf der ein Esel mit einem Mercedes-Stern auf der Stirn zu sehen ist. Darunter der Schriftzug: „Der IS gehört zum Islam.“ Ein Esel wird nicht zum Mercedes, bloß weil wir ihm einen Stern auf die Stirn heften und so sind auch die Attentäter keine Muslime, bloß weil sie sich auf den Koran berufen. Tatsächlich kann die Religion so schlicht nicht erklärt werden, wie es der IS versucht.
Was genau meinen Sie?
Für die Interpretation des Koran gibt es feste Regeln und Systematiken. Auch darf nicht jeder den Koran interpretieren, auch hierfür gibt es Anforderungen, sowohl theologische als auch in Sachen Lebensalter. Und selbst wie eine Interpretation aufgebaut ist, muss bestimmten Regeln folgen. Und diese müssen beachtet werden, ansonsten sind die Interpretationen wertlos. Schon Prophet Mohammed sagte, wer den Koran nicht anhand der Regeln erklärt, kommt in die Hölle, selbst wenn er richtige Schlussfolgerungen zieht.
Muslime wissen, dass, wer sich nicht an die Leitlinien hält, dessen Erklärungen sind nichtig. Das weiß jeder Gläubige. Es ist stark reglementiert, wer den Koran interpretieren darf und wie er interpretiert werden kann. Die Lesart der Attentäter hat damit rein gar nichts zu tun. Was aber noch wichtiger ist: Auch die Geschichte bestätigt dies: In der 1.400jährigen Geschichte des Islam gab es bisher noch nie so eine Gruppierung wie den Islamischen Staat. Wäre diese Gewalt tatsächlich glaubensimmanent, hätten dann Millionen von Muslime über mehrere Jahrhunderte hinweg schlicht falsch gelegen? Das ist ausgeschlossen. Des Weiteren haben sich auch hochrangige Theologen mit dieser Frage befasst und auch einen langen Brief an den IS verfasst, in dem sie haarklein auseinander nehmen, warum die Auslegung des Koran durch den IS falsch ist. Für viele Muslime ist der IS ein westliches Produkt.
Inwiefern?
Dort in der Region werden keine Waffen produziert, Öl wird auch nicht dort in der Region verkauft, die Ausbildung der IS-Kämpfer ist professionell. Diese Stufe an Professionalität kann dort vor Ort nicht allein erreicht worden sein. Wir Muslime sind uns sicher, dass durch den IS auch andere Interessen vertreten werden.
Politiker weltweit sagen, der IS wäre derzeit das bedrohlichste Problem. Ich denke, dieses Problem ließe sich binnen zwei Wochen lösen: Zwei Wochen dürften keine Waffen an sie geliefert werden, keine Kunstschätze und Öl von ihnen gekauft werden und sie wären finanziell am Ende und das ganze wäre vorbei.
Die muslimische Gemeinde in Ungarn wurde bisher nicht angegriffen, richtig?
Nein, bisher nicht. Aber es ist keineswegs auszuschließen. Als die Charlie Hebdo-Redaktion Opfer eines Anschlags wurde, wurden danach Gebetshäuser und Dönerbuden in Frankreich in Brand gesetzt. Auch hier kann Das geschehen.
Gibt es Gespräche mit der Regierung?
Ja, die gab es, allerdings sind diese derzeit eingeschlafen.
Worum ging es dabei?
Wir wollten auf ihre Kommunikation wirken. Politiker tragen eine besonders große Verantwortung und müssen sich über die Konsequenzen ihrer Äußerungen bewusst sein. Sie bilden die Grundlage der Meinungsbildung, sowohl in den Medien, als auch bei den einfachen Bürgern. Politiker müssen bei ihren Äußerungen an alle Bürger des Landes denken, also auch an die der verschiedensten Glaubensrichtungen. Politiker dürften sich in ihren Äußerungen nicht gegen bestimmte Gruppen innerhalb der Gesellschaft stellen. Spitzenpolitiker haben hingegen ohne jegliches Hintergrundwissen Äußerungen getätigt, die nichts anderem dienten, als Angst zu verbreiten. Und auch die Staatsmedien haben hier mitgespielt. Wer nichts über den Islam weiß und keine Muslime kennt, der hat sicher Panik bekommen nach all dem, was er dort zu hören bekam.
Zoltán Szabolcs Sulok ist diplomierter Wirtschaftswissenschaftler und Familienvater. Seit 1993 beschäftigte er sich mit dem Islam und konvertierte zwei Jahre später. Wie er sagt, habe er versucht, Angriffsfläche im Islam zu finden, scheiterte aber und lebt jetzt als seine Religion täglich ausübender religiöser Führer der 2000 gegründeten Ungarischen Kirche der Muslime. Er ist ebenso Gründungsmitglied der 2010 gegründeten European Muslims Right Council.
In diesem Punkt haben die zitierten vielen Muslime zweifellos recht.