Aus der Sicht der Regierung ist die ungarische Wirtschaft im dritten Quartal weiter gewachsen, die Analysten waren eher enttäuscht. Wer über den Tellerrand hinausschaut, sieht den Verlust der vorjährigen europäischen Spitzenposition.
Das Zentralamt für Statistik (KSH) meldete am vergangenen Freitag ein Wirtschaftswachstum für das III. Quartal von 2,3 Prozent. Während der Zuwachs gegenüber dem II. Quartal wieder 0,5 Prozent erreichte, 2015 in dieser Hinsicht also eine stetige Entwicklung zeigt, hat sich das Jahreswachstum seit dem Höhepunkt Mitte 2014 nahezu halbiert. Denn vor 15 Monaten konnte sich Wirtschaftsminister Mihály Varga noch über einen BIP-Zuwachs von 4,1 Prozent erfreuen, worauf das Fachressort sogleich begann, den Platz Ungarns im europäischen Wettbewerb zu bestimmen. Die Freude währte aber nicht lange – bereits im Winter reichte die ungarische Konjunkturdynamik nicht mehr für das Siegerpodest.
Deshalb kommunizierte die Regierung fortan die Wachstumszahl für das Gesamtjahr 2014, die mit 3,6 Prozent in der Tat robust ausfiel. Vor allem im Vergleich zu den bisherigen Jahren der Orbán-Regierung. So berechtigt sich die Verfechter dieser Wirtschaftspolitik, allen voran Orbáns rechte Hand György Matolcsy an der Spitze der Ungarischen Nationalbank (MNB), heute für die Stabilisierung des Staatshaushaltes feiern lassen können – in manchen hellen Momenten fällt dem Premier sogar ein, den Steuerzahlern für die brutalen Opfer zu danken –, so wenig können sie sich mit den Wachstumszahlen brüsten.
Stabilisiert ist Ungarn in der Tat
Vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise waren mehr als vier Prozent Wachstum hierzulande selbstverständlich, die aber teuer erkauft wurden, denn von Nachhaltigkeit keine Spur. Matolcsy & Co. wollten alles besser machen, dabei würgten sie im ersten Sanierungsversuch 2011/12 im Übereifer die noch brüchige Konjunktur gleich wieder ab. Denn man musste ja unbedingt den Internationalen Währungsfonds (IWF) vor die Tür setzen und ließ sich von den Ratingagenturen lieber in den Ramschstatus verbannen – unter der Fahne des Freiheitskampfes gegen IWF und EU kam die Forintabwertung wie von selbst und scheinbar ganz unverschuldet, die in Kombination mit einem „flexibilisierten“ Arbeitsmarkt (sprich: radikal gekürzter Arbeitnehmerrechte im neuen Arbeitsgesetzbuch) eine neue Standort-Wettbewerbsfähigkeit erschaffen sollte. Insbesondere Investoren aus Industrie und Dienstleistungssektor folgten dem Ruf der Orbán-Regierung, die das Engagement mit Milliardenspritzen versüßte.
Stabilisiert ist das unter den Sozialisten vollkommen überschuldete Land nun in der Tat, von Nachhaltigkeit scheint die Konjunkturrealität aber auch heute weit entfernt. Für dieses Jahr wird eine Wachstumszahl um 3 Prozent angestrebt, mittelfristig dürfte jeweils eine Zwei vor dem Komma stehen – viel zu wenig, um im Konvergenzprozess dem wichtigsten Handelspartner Deutschland näher zu rücken. Doch nicht nur der Abschied von der in einem einzigen Quartal unter Orbán/Matolcsy erreichten 4-Prozent-Dynamik macht Sorgen, beinahe noch deprimierender erscheint, wie sich die Regierung Wachstum auf Dauer vorstellt. Da hört man mal den Wirtschaftsminister reden, irgendwann müssten sich alle Bürger einen neuen Kühlschrank leisten, mal lässt der Kanzleramtsminister verlauten, Ausschreibungen für Hunderte Milliarden an EU-Fördermitteln vorzuverlegen. Das Wirtschaftswachstum wird in Ungarn à la carte heute auf die Industrie, morgen auf die Landwirtschaft, übermorgen auf den Privatverbrauch und zur Abwechslung mal wieder auf die Auszahlungen aus Brüssel gestützt.
Balkan statt Zukunftsregion?
Die Regierung bringt den europäischen Vergleich neuerdings nicht mehr ins Spiel, die Gründe sind zu verständlich: Im III.Quartal war Ungarns Jahreszahl von 2,3 Prozent bei Eurostat gerade noch für den 9. Platz gut. Alle anderen Visegrád-Staaten haben die Magyaren abgehängt, Tschechien wuchs auf Jahresbasis gleich doppelt so schnell und neben drei weiteren osteuropäischen Ländern (Rumänien, Bulgarien und Lettland) geht es auch in Spanien scheinbar gut voran, das von ungarischen Wirtschaftspolitikern in jüngster Zeit als Krisenkandidat ähnlich wie Griechenland und Portugal gerne von oben herab bedauert wird. In Budapest heißt es an die Adresse potenzieller Investoren gewandt, Mittelosteuropa sei der Wachstumsmotor und die Zukunftsregion innerhalb Europas. Wir müssen nur aufpassen, dass Ungarn nicht aus der Zukunftsregion auf den Balkan abgedrängt wird.
Um einigermaßen mitzuhalten, sollen wie bereits erwähnt die EU-Gelder schneller abgerufen, die Kreditausreichungen der Handelsbanken gesteigert, der Arbeitsmarkt (noch) flexibler gestaltet sowie Investitionen bzw. der Wohnungsbau angeregt werden. Die Herausforderungen sind groß, auch die MNB zeigte sich von der schwächeren Konjunktur im III. Quartal überrascht und machte die lahmende Auslandsnachfrage dafür verantwortlich, die sich bereits auf die Industrieproduktion auswirkte.
Konjunktur erholt sich – kurzfristig
Dabei ist die Industrie noch immer die erstrangige Wachstumslokomotive Ungarns, deren Ausstoß im bisherigen Jahresverlauf nur um 1-2 Prozentpunkte hinter dem Rekordjahr 2014 zurückbleibt. Schwächer musiziert das Baugewerbe, wo der Staat aber jederzeit Nachfragestöße generieren kann. Die Landwirtschaft hatte im Vorjahr dank Rekordernte durchaus Anteil an den im europäischen Maßstab Aufsehen erregenden ungarischen Wachstumszahlen, 2015 zieht die ungünstigere Witterung das BIP nun leider wieder nach unten.
Analysten sehen den relativ erstarkten Privatverbrauch und damit im Zusammenhang den Dienstleistungssektor als Wachstumsträger. (Das KSH hatte neben der Industrie bemerkenswerterweise Handel und Gastgewerbe hervorgehoben, wartet aber erst Anfang Dezember mit den detaillierten Angaben auf.) Selbstverständlich ist die ungebrochene Exportdynamik mit Rekordüberschüssen der Handelsbilanz Gold wert, dahinter steht wie gehabt die Automobilindustrie.
Für das Jahresende stützt sich die kurzfristige Konjunkturhoffnung auf den Inlandsverbrauch, wofür gleich mehrere Indizien sprechen. Am Arbeitsmarkt sind steigende Beschäftigung und Reallöhne zu beobachten, der Konsumklimaindex stimmt fürs Weihnachtsgeschäft optimistisch und die EU-Fördermittel aus dem vorigen Haushaltszyklus 2007-2013 müssen bis Jahresende definitiv abgerufen sein. Zudem wird die öffentliche Hand die Investitionen ausgehend von der günstigen Lage der Staatsfinanzen bereits ab dem IV. Quartal beleben können. Aber das ist halt wieder nur kurzfristig gedacht…
OECD verstrahlt Zuversicht
Anfang November hat die OECD Ungarn in ihrer aktuellen Prognose viel zugetraut: Die Wirtschaft wird in diesem Jahr um 3 Prozent, 2016 um 2,4 Prozent und 2017 wieder um 3,1 Prozent wachsen – mit dieser Zuversicht stellt die Organisation selbst die ungarische Regierung in den Schatten. Getragen wird das Wachstum in erster Linie durch Zuwachsraten beim Privatverbrauch von stabil über 3 Prozent, wie sie die Ungarn seit einem Jahrzehnt nicht mehr erlebten, und durch mehr Beschäftigung (die Erwerbslosenquote dürfte 2017 unter 6 Prozent fallen!), während auch die sukzessive auf 72 Prozent am BIP zurückgehenden Staatsschulden den Spielraum der ungarischen Wirtschaftspolitik Stück für Stück ausweiten. Obgleich das Außenhandelsvolumen in den folgenden Jahren weniger dynamisch zulegt, versprechen die Nettoexporte einen steigenden Beitrag zum BIP.
Das Geschwafel über die kurzfristige Konjunktur und die mangelnde Nachhaltigkeit hören wir seit Jahren. Irgendwann wird sich das Wachstum verlangsam, irgendwann kommt die nächste Wirtschaftskrise, sei es selbstverschuldet, sei es durch die Eseleien und Gier anderer. Für diesen Tag können ja unseren linken und liberalen Freunde ja schon einmal den Sekt kaltstellen.
Tatsache ist, dass die ungarische Wirtschaftspolitik trotz ihrer Fehler die wirkungsvollste seit der Ära Horthy ist.