Noch bevor Hollywood zum Nabel der internationalen Filmwelt wurde, war es Europa, dem wir die Geburt sowie die erste Blütezeit des Films zu verdanken haben. Neben Frankreich, Deutschland, Italien und Skandinavien gehörte vor allem Ungarn zu den Vorreitern des neuen Genres. Namen wie die von Filmemacher Michael Curtiz oder Sir Alexander Korda gingen in die Geschichte ein. Beinahe in Vergessenheit geraten ist hingegen der ungarische Filmpionier Jenő Janovics. Im Gedenken an seinen 70. Todestag sprachen wir mit dem Filmhistoriker Péter Muszatics.

„Leider ist Janovics heutzutage nicht so berühmt wie viele seiner Kollegen,
Mitarbeiter und Studenten“, bedauert Muszatics. (BZT-Fotos: Nóra Halász)
Als die Geburtsstunde des Films gilt die Vorführung des heute ikonischen Kurzfilmes „Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“ der Brüder Lumière vor beinahe genau 120 Jahren in Paris. Schon bald darauf begann sich in ganz Europa eine blühende neue Filmindustrie den Weg zu bahnen. Für einige Jahre gehörte ausgerechnet das verschlafene Siebenbürgen zu einem der Zentren des europäischen Filmes. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Jenő Janovics.
- Herr Muszatics, als Filmhistoriker haben Sie sich intensiv mit Janovics auseinandergesetzt. Was machte gerade ihn zu einer zentralen Figur der ungarischen Filmgeschichte?

Bereits im Alter von 33 Jahren übernimmt Janovics die Leitung
des Nationaltheaters in Kolozsvár – einem der wichtigsten Theater
des Landes. „Er war eine herausragende Persönlichkeit
seiner Zeit“, sagt Filmhistoriker Péter Muszatics.
Was man über Janovics wissen muss, ist, dass er eigentlich ein Mann des Theaters war. Um die Jahrhundertwende kam der im Nordosten Ungarns geborene Janovics nach Kolozsvár (deutsch: Klausenburg, rumänisch: Cluj-Napoca) in Siebenbürgen, wo er vom Schauspieler über den Regisseur zum Intendaten des Nationaltheaters aufstieg. Das war insofern etwas Besonderes, als Kolozsvár zur damaligen Zeit eine hervorgehobene Rolle in der ungarischen Kulturlandschaft spielte. Während die meisten Theater dieser Zeit sich in Privathand befanden, war das Nationaltheater in Kolozsvár eines von nur drei königlich-staatlichen Theatern in Ungarn. Im Gegensatz zur hauptsächlich deutschsprachig geprägten Kulturlandschaft war es ein kreatives Zentrum für das ungarische Theater. Das aristokratisch geprägte Milieu der Stadt war der kreative Nährboden für viel Literaten, Künstler und Intellektuelle.
In diesem Umfeld beginnt Janovics, der seit 1905 das Nationaltheater leitete, mit Film zu experimentieren. Er erkannte sofort, welche vielfältigen Möglichkeiten das neue Medium bietet. In einem Theaterstück, das 1907 zur Aufführung kam, setzte er erstmals bewegte Bilder als Stilelement ein. Man darf nicht vergessen, auch wenn diese neue Technik bereits seit mehr als 10 Jahren bekannt war – Siebenbürgen war damals Provinz. Für die Leute dort war es eine Revolution!
- Wie wurde aus dem Theatermann schließlich ein Filmemacher?
Auf seinen vielen Reisen durch Europa machte Janovics mitunter Halt in Paris. Damals das Zentrum des neuen Genres. Von hier lud er einen französischen Kameramann ein, ihm nach Kolozsvár zu folgen. Gemeinsam mit der französischen Distributionsfirma Pathé produzierte Janovics 1913 seinen ersten Spielfilm „Sárga csikó“ (deutsch: Das gelbe Fohlen). Der Film wurde nicht nur in Österreich-Ungarn, sondern weltweit zu einem Erfolg. 1914 gründete Janovics Proja Film – Ungarns erste Produktionsfirma. Im Verlauf von knapp zehn Jahren produzierte Janovics insgesamt 70 Filme. Der wirtschaftliche Erfolg dieser Produktionen machte ihn damals zu einem der reichsten Bürger Kolozsvárs.
Obwohl Janovics immer in erster Linie Theatermacher blieb, hatte er sehr ehrgeizige Pläne für den ungarischen Film: So träumte er beispielsweise davon, ein Filmstudio in Kolozsvár bauen zu lassen. Für eine kurze Zeit wurde die Stadt im verschlafenen Siebenbürgen dank Janovics zum Zentrum des ungarischen Films. Durchkreuzt wurden seine Pläne allerdings vom Ersten Weltkrieg und den Verlust Kolozsvárs an Rumänien. Danach brach für Janovics eine sehr schwere Zeit an: Sein filmisches Schaffen kam zu einem abrupten Ende. Eine in dieser Zeit entstandene ungarisch-rumänische Koproduktion war nur von mäßigem Erfolg gekrönt.
- Was wurde aus Janovics?
Er blieb in Kolozsvár, um das ungarische Theater zu erhalten. Obwohl ihm nun als Gebäude das viel kleinere Sommertheater zugewiesen wurde, konnte sich Janovics relativ schnell an die neue Situation anpassen. Als Folge des Zweiten Wiener Schiedspruchs wurde Siebenbürgern – und damit Kolozsvár – jedoch wieder an Ungarn angeschlossen. Bereits 1941 konnte daher das ungarische Theater in seiner alten Spielstätte feierlich wiedereröffnet werden. Aber hier beginnt eine tragische Geschichte – Janovics war nicht mehr dabei. Er war Jude und als solcher durch die Judengesetze mit einem Berufsverbot belegt. Es war absurd: 20 Jahre hatte er das Nationaltheater geleitet, jeder musste seine Leistungen anerkennen und trotzdem konnte man ihn nicht als Intendanten präsentieren. Man versuchte dann noch, einige Ausnahmen für ihn zu schaffen. So gab es eine Regelung, dass er zwar in einer Loge den Proben beiwohnen, aber nicht hinter der Bühne sein durfte. Auch versuchte man ihm ein Charakterzeugnis auszustellen, dass obwohl er Jude, trotzdem ein aufrechter Ungar mit nationaler Gesinnung sei – Es war ein unmoralisches Spiel. Als schließlich deutsche Truppen nach Kolozsvár einmarschierten und begannen, die jüdische Bevölkerung der Stadt in die Konzentrationslager zu deportieren, musste Janovics nach Budapest fliehen.
- Janovics konnte den Holocaust überleben und sogar für kurze Zeit nach Kolozsvár zurückkehren. Sein Ableben im Jahr 1945 bietet jedoch noch heute Stoff für Legenden. Warum ist das so?
Das ist richtig. Janovics starb am 17. November vor genau 70 Jahren während der Proben zu seiner letzten Inszenierung Bánk Bán. Man erzählt sich, dass er – und das ist symbolisch für einen richtigen Theatermenschen wie Janovics – seinen letzten Atem auf der Bühne ausgehaucht hat. Er war eine richtige Persönlichkeit. Es ist bedauerlich, dass trotz all seiner Hinterlassenschaften und dem Einfluss, den er auf andere ausgeübt hat, Janovics‘ Name heute nicht so bekannt wie der einiger seiner Zeitgenossen und Schüler ist.
- Was wissen wir heute noch über die Persönlichkeit und den filmischen Stil Janovics‘?
Über die Persönlichkeit wissen wir nicht zu viel. Er war ein sehr intelligenter Kosmopolit: Er sprach neben Ungarisch auch fließend Deutsch und Französisch. Auch Rumänisch lernte er sehr schnell. Er war fähig, sich gut an neue Umstände anzupassen. Für viele war er ein Mentor: Beispielsweise hat er den jungen Mihály Kertész als seinen Schüler nach Kolozsvár geholt. Später zeichnete Kertész in Hollywood unter dem Namen Michael Curtiz für Welterfolge wie „Casablanca“ verantwortlich. Auch Sándor Korda (Anm.: später Sir Alexander Korda), der später zu einer der wichtigsten Figuren der britischen Filmindustrie wurde, zählte zu den Schülern Janovics‘. 1918 übernahm dieser sogar Proja Film und holte die Produktionsfirma unter dem neuen Namen Corvin Film nach Budapest.

In seiner Doktorarbeit beschäftigt sich Filmhistoriker Péter Muszatics mit der Frage,
welchen Beitrag Österreich-Ungarn zur Geschichte des Films geleistet hat.
Janovics hatte diese später sehr erfolgreichen Filmemacher stark geprägt: Was Korda von Janovics übernahm, ist beispielsweise eine Neigung zu opulenten Literaturverfilmungen. Beide hatten ein Faible für Literatur. Mit Kertész wiederum teilte Janovics die Liebe für malerische Naturaufnahmen. Die Aufnahmen, die die wilde Landschaft Siebenbürgens zeigten, waren damals auch bei dem internationalen Publikum sehr beliebt. Leider sind von den Filmen, die er damals produzierte, nur noch ungefähr zehn bis 15 teils in Fragmenten erhalten. Tatsächlich wurden viele Zelluloidkopien eingestampft, um als Werkstoff für Kosmetikprodukte genutzt zu werden. Sein 1914 gedrehter Film „A tolonc“ (deutscher Titel: Das Exil) hat allerdings überlebt und wurde letztes Jahr in einer restaurierten Fassung bei der ungarischen Filmwoche gezeigt. Auch wenn wir heute nicht mehr alle Filme kennen, die Janovics produzierte, können wir doch anhand des wirtschaftlichen Erfolgs und des Einflusses, den er auf andere hatte, ablesen, dass er einer der innovativsten Filmschaffenden seiner Zeit war. Auf einer vor Kurzem stattgefundenen Konferenz in Szolnok, die zu Ehren von Janovics veranstaltet wurde, waren sich jedenfalls alle Experten einig: In gewisser Weise ist Janovics der „Vater des ungarischen Films“. Denn dessen Grundelemente, wie sie auch heute noch Gültigkeit haben, gehen auf Janovics zurück.
Péter Muszatics ist Filmhistoriker und stellt derzeit seine Promotion fertig. In seiner Doktorarbeit mit dem Titel „The human touch“ widmet er sich der Frage, inwieweit Österreich-Ungarn die Filmindustrie Hollywoods geprägt hat. Muszatics ist Mitorganisator des Miskolcer CineFest-Filmfestival und Kurator des Programms „CineClassics“.
Katrin Holtz