
Nationalbankpräsident Dr. György Matolcsy: „Wir haben nicht nur gute Ideen, sondern auch die notwendige politische Unterstützung, diese umzusetzen.“
Während sich Dr. György Matolcsy bei seinem ersten Besuch beim DWC im Frühjahr 2013, also kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident der Ungarischen Nationalbank, eher aktuellen Fragen widmete, legte er seinem aktuellen Vortrag eine gänzlich andere Struktur zugrunde: So beleuchtete er am vergangenen Mittwoch im Gundel die vergangenen 25 Jahre aus volkswirtschaftlicher Sicht und wagte – was noch viel spannender ist – eine Prognose der kommenden 25 Jahre.
Beim Blick zurück kam er sogleich zur ernüchternden Feststellung, dass Ungarn bei zahlreichen Parametern heute praktisch wieder wie am Anfang der Periode, also 1990, dastehe. Nicht nur die Vernichtung von 1,5 Mio. Arbeitsplätzen in den 1990er Jahren sei eine „Sünde“ gewesen, sondern auch die Privatisierung insbesondere von Versorgungsunternehmen in Monopolposition. Ebenso die Verschuldung Ungarns. Trotz einiger guter Jahre sei das Wirtschaftswachstum insgesamt nicht berauschend gewesen: Im Schnitt ist die ungarische Volkswirtschaft im vergangenen Vierteljahrhundert um jährlich nur ein Prozent gewachsen.
„Immer wieder vom rechten Weg abgekommen“
Dabei waren die vergangenen 25 Jahre alles andere als monolithisch, insbesondere waren sie geprägt von der Wechselwirtschaft der beiden bestimmenden politischen Lager Ungarns, also der bürgerlichen Seite, der sich auch Matolcsy zugehörig fühlt, und der sozialistischen. Beide verfolgten und verfolgen recht unterschiedliche wirtschaftspolitische Konzepte. Vereinfacht gesagt sei das Regieren der sozialistischen Seite stets darauf hinausgelaufen, dass sich Ungarn verschuldete, die Devisenreserven schrumpften und insgesamt weniger nachhaltig gewirtschaftet wurde, während das Gegenteil der Fall war, wenn die bürgerliche Seite wieder das Sagen hatte. Trotz ihres Etiketts „sozialistisch“ machte Matolcsy die ungarischen Sozialisten für den Aufbau eines „wilden Kapitalismus“ während ihrer ersten Regierungszeit (1994-1998) verantwortlich. Ein besonderer Tiefpunkt sei dabei für ihn das Bokros-Paket gewesen, ein Austeritätsprogramm des damaligen Finanzministers Lajos Bokros, mit dem nach der Intention seines Namensgebers Ungarn gerettet werden sollte, nach der Einschätzung von Matolcsy das Land allerdings noch weiter vom richtigen Weg und weg von der Sozialen Marktwirtschaft gedrängt wurde.
Ungarn wieder dorthin zurückzubringen wurde dann die Aufgabe der ersten Fidesz-Regierung (1998-2002). Die Wiederherstellungsarbeiten mussten jedoch 2002 unterbrochen werden, als die Wähler erneut die Sozialisten ans Ruder brachten. Deren Wirken hatte dann unter anderem zur Folge, dass sich die Staatsverschuldung in den acht sozialistischen Jahren gewaltig erhöhte, Hunderttausende Ungarn auf den verhängnisvollen Weg der Aufnahme von Devisenkrediten geschickt wurden und sich Ungarn im Zuge der Weltwirtschaftskrise zu einem regelrechten failed state entwickelte, das 2008 nur durch eine mächtige internationale Finanzspritze vor dem finanziellen Kollaps bewahrt werden konnte. Erst 2010 konnte die bürgerliche Seite wieder daran gehen, Ungarn auf einen nachhaltigen Weg zurückzubringen.
Nachhaltige Konsolidierung der Staatsfinanzen
Dabei kam unter anderem die von Beobachtern als „unorthodox“ bezeichnete Wirtschaftspolitik des damaligen Wirtschaftsministers (2010-2013) Matolcsy zum Einsatz und vollbrachte schließlich das von klassischen Ökonomen als unmöglich Angesehene, nämlich die Wirtschaft zu beleben und Arbeitsplätze zu schaffen, ohne dass die Staatsfinanzen aus dem Ruder liefen. Im Gegenteil: Dieser Wirtschaftspolitik ist es unter anderem zu verdanken, dass recht bald nach Beginn der zweiten Regierung Orbán (2010-2014) die Staatsfinanzen soweit konsolidiert waren, dass die Maastrichter Drei-Prozent-Latte nicht mehr gerissen wurde und gegen Ungarn das jahrelang laufende Brüsseler Defizitverfahren eingestellt werden konnte. Außerdem konnte die Volkswirtschaft auf einen soliden Wachstumspfad gebracht werden.
Im Laufe seines Rückblicks würdigte Matolcsy an mehreren Stellen die deutschen Investoren und ihr Engagement in Ungarn. Ein Schlüsselmoment sei dabei das Jahr 1993 gewesen, als die Audi AG auch mit Unterstützung des damaligen deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl sich dafür entschied, in Győr zu investieren. Um die überragende Bedeutung dieses Schritts vollends zu illustrieren, zitierte Matolcsy seinen „Freund“ Mihály Patai (ein namhafter ungarischer Banker, derzeit CEO der Unicredit Bank und Vorsitzender des ungarischen Bankenverbandes), demzufolge Ungarn erst durch diese „Vertrauensentscheidung“ – und nicht bereits durch die politische Wende von 1989/90 – zu einem Teil des Westens wurde. Der Name von Kohl kam in Matolcsys Rückblick auch noch einmal im Zusammenhang mit Premier Viktor Orbán vor, dessen Verhältnis zu Kohl mehr als nur von Respekt geprägt sei. „Zwischen beiden besteht eine echte Freundschaft“, ist sich Matolcsy sicher. Auch der aktuelle deutsche Finanzminister kam in Matolcsys Rückschau positiv vor: „Wolfgang Schäuble hat uns in kritischen Momenten immer geholfen“, würdigte er.
Ideengeber Ludwig Erhard
Auf eine Frage der Budapester Zeitung nach seinen wirtschaftspolitischen Vorbildern fällt schließlich auch noch ein weiterer großer deutscher Name, nämlich der von Ludwig Erhard, einem der Väter des Konzeptes der Sozialen Marktwirtschaft und als Wirtschaftsminister (1949-1963) auch des „deutschen Wirtschaftswunders“. Dessen Werteordnung habe weitgehend der europäischen entsprochen. Als weiteren maßgeblichen Ideengeber führte er den Briten John Maynard Keynes an. Generell seien die Elemente der ungarischen Wirtschaftspolitik ab der zweiten Fidesz-Regierung nicht komplett neu gewesen. Die besondere Leistung habe nur darin bestanden, diese Elemente zusammenzugruppieren und mit der notwendigen politischen Unterstützung zu versehen.
Bei der Behandlung der nächsten 25 Jahre äußerte sich Matolcsy recht zuversichtlich. So hielt er es unter anderem für wahrscheinlich, dass die ungarische Volkswirtschaft deutlich dynamischer wachsen werde als im vorangegangenen Vierteljahrhundert. Auf eine genaue Prozentzahl wollte er sich zwar nicht festlegen, immerhin prognostizierte er, dass das ungarische Wirtschaftswachstum zwei bis zweieinhalb Prozent über dem Österreichs liegen werde. Sogleich zählte er mehrere Gründe für diese positive Annahme auf. An vorderster Stelle nannte er die politische Stabilität, die er insbesondere als eine Stabilität der Grundfesten der Wirtschaftspolitik verstanden wissen wollte. Weiterhin würde die Staatsverschuldung kontinuierlich sinken. Werde sie im kommenden Jahr noch bei 75 Prozent am BIP liegen, so solle sie zwei Jahre später nur noch 70 Prozent betragen. Zur Erinnerung: Im ersten Jahr der zweiten Fidesz-Regierung betrug sie noch 85,4 Prozent. Die Devisenreserven stiegen wieder, und die Regierung verfolge eine disziplinierte Budgetpolitik. Die Makroparameter und nicht zuletzt die Investitionsrate seien in Ordnung. Am Arbeitsmarkt sei eine entscheidende Wende eingetreten, seit 2010 steige die Beschäftigungsrate kontinuierlich.
„Bedrohung wird uns zusammenschweißen“
Dass sich Ungarn auf ein deutlich besseres Vierteljahrhundert als das erste nach der Wende freuen könne, hätte aber auch etwas mit einem gewachsenen Nationalbewusstsein und vorhandenen Talenten zu tun. In diesem Zusammenhang zeigte er bezüglich der Abwanderung keine große Besorgnis. Abwanderungen habe es im Verlauf der ungarischen Geschichte immer wieder gegeben. Früher oder später kämen die Ungarn aber wieder zurück, nicht zuletzt, weil für die Magyaren Ungarn das wahre Zuhause sei. Auch hinsichtlich der anderen großen Migrationswelle, also der arabischen, die seiner Meinung nach organisiert sei, hielten sich seine Sorgen in Grenzen. Diese neue Bedrohung werde nach einer Phase der Konfrontation die West- und Ost-EU-Länder zusammenschweißen, ein entsprechendes Vorzeichen sei bereits das Treffen von Premier Orbán mit dem CSU-Vorsitzenden Seehofer gewesen.
Zur günstigen Entwicklung der ungarischen Volkswirtschaft werde auch die Nationalbank nach Kräften beitragen. So etwa durch eine Weiterführung des Wachstumskreditprogramms, das mit dazu beiträgt, die Unternehmen über die Handelsbanken mit preiswerten Krediten zu versorgen. An der Belebung der Kreditierung werde sich aber auch die Regierung beteiligen, etwa indem sie die Bankensteuer, die bisher in erster Linie die Haushaltskonsolidierung unterstützte, mit einspannt. So sollten Banken, die sich durch eine dynamischere Kreditvergabepraxis gegenüber anderen Banken hervortun, hinsichtlich der Bemessung der Bankensteuer positiv diskriminiert werden.