Ob von Hungersnöten und Kriegen getrieben oder von Versprechen der Herrschenden gelockt – deutsche Siedler zog es im 18. Und 19. Jahrhundert auf der Suche nach neuen Siedlungsräumen, Freiheit und Wohlstand gen Osten. Viele wurden nach dem Zweiten Weltkrieg wieder vertrieben. In Mittel- und Osteuropa leben jedoch auch heute noch Nachfahren dieser deutschen Minderheiten. Die zahlenmäßig größte Gruppe findet sich neben Russland in Polen, gefolgt von Ungarn, Rumänien, der Tschechischen und der Slowakischen Republik. Im Goethe Institut gaben György Dalos und Gerhard Seewann einen Einblick in die Geschichte der deutschen Siedler im Osten Europas.
Auch wenn bereits seit dem Mittelalter Deutsche, insbesondere als ausländische Fachleute ins Zarenreich gekommen sind, hat die Einwanderung im Anschluss an den Siebenjährigen Krieg (1756-1763) unter Zarin Katharina der Großen an Momentum gewonnen. Die russische Herrscherin aus deutschem Hause holte Tausende deutsche Bauern in das teilweise entvölkerte Land. Die Siedler, die vor allem für den deutschen „Bauernfleiß“ und ihr landwirtschaftliches Know-how hochgeschätzt wurden, lockte Katharina mit Versprechen der Religions- und Steuerfreiheit sowie Landrechten – doch auch mit „Wetter wie in Südfrankreich“. Ein Versprechen, das den ersten russischen Winter nicht überlebt hat. Die Geschichte der Russlanddeutschen, wie sie György Dalos erzählt, fesselt das Publikum. Auf die Anekdote mit dem falschen Klimaversprechen stieß der ungarische Autor bei seinen Recherchearbeiten zu seinem bereits im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Die Geschichte der Russlanddeutschen“.
„Das Schicksal der Minderheiten hat mich schon immer interessiert“, erklärt György Dalos bei der Podiumsdiskussion im Goethe Institut Budapest. Die Veranstaltung in der Reihe „Bücher, über die man spricht“ lud den renommierten Autor, der erst in diesem Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet wurde, am vorvergangenen Donnerstag ein, sein Buch vorzustellen. Die berufliche Laufbahn des studierten Historikers hat sich im Spannungsfeld zwischen der ehemaligen Sowjetunion und Deutschland entwickelt. Während seines fünfjährigen Studiums in Moskau wurde Dalos schon früh auf das Problem der Russlanddeutschen aufmerksam. Doch erst vor drei Jahren habe er sich wieder verstärkt mit dem Thema auseinandergesetzt, erzählt Dalos.
Deutsche Siedler in Ungarn
Auch Gerhard Seewann, der neben Dalos seine Veröffentlichungen vorstellt, setzt sich bereits seit 1974 intensiv mit der deutschen Minderheit speziell in Ungarn auseinander. Der Minderheitenexperte und Hochschulprofessor fasst in seinem 2011 und 2012 erschienenen zweibändigen Handbuch die Geschichte der Ungarndeutschen vom Mittelalter bis heute zusammen. Angefangen mit dem ersten ungarischen König István I., der neben einer deutschen Frau auch deutsche Ritter um sich scharte, um sich als Herrscher durchzusetzen. Unter István I., der oft mit dem Ausspruch zitiert wird: „Ein Volk von nur einer Sprache und nur einer Kultur ist schwach und arm“, seien die deutschen Siedler, so Seewann, ebenso gern gesehen gewesen wie noch 700 Jahre später unter Kaiserin Maria Theresa. Ebenso wie in Russland habe man sie auch in Ungarn für ihre Effektivität und Wirtschaftlichkeit gerühmt. Lehnherren hätten sich von ihnen eine Verwestlichung und Modernisierung der Landwirtschaft erhofft: „Tatsächlich haben sich die Ungarn viel von den Schwaben mit ihrer typischen Häuserform und ihrer Dreifelderwirtschaft abgeschaut. Noch heute sieht man viele Dörfer in Ungarn mit einem typisch schwäbischen Schnitt“, erläutert Seewann.
Mit der zunehmenden Nationalisierung Anfang des 19. Jahrhunderts habe sich jedoch die Stimmung gegenüber der deutschen Minderheit stark verändert. „Ein Staat, in dem mehr als eine Sprache gesprochen wird, ist schwach“, so Seewann, habe die neue Staatsräson gelautet. Dies sei mit der Zunahme antideutscher Ressentiments einhergegangen, deren Höhepunkt sich in der Vertreibung der Ungarndeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt habe. Auch Dalos berichtet von einem ähnlichen Stimmungsumschwung in Bezug auf die deutsche Minderheit in Russland: „Die privilegierte Situation der Russlanddeutschen endete mit dem Ersten Weltkrieg“. Plötzlich habe sich die Minderheit in Russland mit einer stark antideutschen Atmosphäre und Propaganda konfrontiert gesehen und bereits ab 1915/16 seien viele Russlanddeutsche deportiert worden, erklärt Dalos.
Sowohl Dalos als auch Seewann nehmen in ihren Werken auch die Situation der deutschen Minderheiten unter den kommunistischen Regimen des Ostblocks unter die Lupe. Insbesondere Dalos legt hier den Schwerpunkt auf die Stalinistische Diktatur, in der Russlanddeutsche von Kollektivierung, Deportationen und Zwangsarbeit betroffen gewesen seien. Doch auch in Seewanns „Geschichte der Deutschen in Ungarn“ ist nachzulesen, wie sich das Verhältnis der Ungarndeutschen zur ungarischen Mehrheitsgesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderte. Nachdem die Krisen der ersten Hälfte des Jahrhunderts das friedliche Zusammenleben empfindlich gestört hatten, habe die verbliebene deutsche Gemeinschaft die Autonomie über die eigene kulturelle Identität verloren, so Seewann: „Erst mit der Wende wurde die freie Wahl der Identität wiedererlangt.“
Frage nach Minderheiten besitzt auch heute Aktualität
Die politische Wende in Osteuropa habe für das Dasein der deutschen Minderheiten große Veränderungen mit sich gebracht, betonen beide Autoren. Laut Angaben des Bundesministeriums des Inneren haben seit 1989 rund 2,2 Mio. Angehörige der deutschen Minderheiten aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion und deren Satellitenstaaten dauerhafte Aufnahme in Deutschland gefunden. Viele sind jedoch geblieben. Ihre Lage habe sich seit der Wende, so das Bundesministerium, grundsätzlich positiv entwickelt. Dies sei das Ergebnis einer aktiveren Minderheitenpolitik in den jeweiligen Ländern und einer gezielten Förderung durch die Bundesrepublik. Auch das Goethe-Institut unterstützt deutsche Minderheiten in Mittel- und Osteuropa. Buchvorstellungen wie die von György Dalos und Gerhard Seewann sind dabei nur eine Seite aus dem reichhaltigen Portfolio an kulturellen und bildungspolitischen Maßnahmen.
Laut Dalos ist das Zusammenleben verschiedener Völker in einer Nation und die Beziehung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit damals wie heute ein Abenteuer. Eine Erfahrung, aus der wir auch für die Zukunft noch lernen könnten, findet Seewann, sei doch zu erwarten, dass heutige Einwanderungswellen erneut Lösungen für ein friedliches Zusammenleben notwendig machen. Glaubt man Dalos, müsse sich vor allem Ungarn wieder auf seine Vielvölkerwurzeln zurückbesinnen. „In Ungarn herrscht heute oft eine Hasskultur statt einer politischen Kultur“, kritisiert Dalos die aktuelle Haltung der offiziellen ungarischen Politik in Hinblick auf die Flüchtlingskrise.
Katrin Holtz
György Dalos Geschichte der Russlanddeutschen:
Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart
Verlag C.H.Beck
ISBN-10: 3406670172
Gebundene Ausgabe für 24,95 EUR
Gerhard Seewann Geschichte der Deutschen in Ungarn
Band 1: Vom Frühmittelalter bis 1860
Verlag Herder-Institut
ISBN-10: 3879693730
Gebundene Ausgabe für 39 EUR
Gerhard Seewann
Geschichte der Deutschen in Ungarn
Band 2: 1860 bis 2006
Verlag Herder-Institut
ISBN-10: 3879693749
Gebundene Ausgabe für 39 EUR