Ungarn sieht sich bei der Suche nach Antworten auf die Flüchtlingskrise außen vor. „Ungarn liegt nicht mehr auf der Route. Wir sind hier nur ein Beobachter“, sagte Ministerpräsident Viktor Orbán im Vorfeld eines Sondergipfels in Brüssel am Sonntag.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte den Gipfel von zehn EU-Staaten sowie den Nicht-EU-Staaten Serbien, Mazedonien und Albanien in der Vorwoche kurzfristig einberufen, nachdem sich die Lage auf dem Balkan, zumal in Kroatien und Slowenien, massiv zugespitzt hatte. Juncker legte beim Gipfel einen Notfallplan mit Sofortmaßnahmen vor, um das Problem anzugehen. Der Plan soll mehr Zusammenarbeit unter den betroffenen Ländern ermöglichen und verhindern, dass Flüchtlinge weiter von einem Land zum anderen „durchgewunken“ werden.
Orbán kritisiert Wortbruch einzelner Länder
Orbán erklärte in Brüssel, der wichtigste Grund für die Flüchtlingskrise liege darin, dass einzelne Staaten der Europäischen Union und des Schengen-Raums nicht in der Lage oder schlichtweg nicht bereit seien, ihr Wort zu halten. Der Premier drückte seine Hoffnung aus, dass der „Politik der offenen Grenzen, die dem Schengen-Vertrag völlig widerspricht“ ein Ende bereitet werde. Er wies ferner darauf hin, er habe in der Vergangenheit mehrfach vorgeschlagen, dass die Staaten der Europäischen Union gemeinsam die Grenzen sichern müssten, sofern Griechenland dazu nicht imstande sei, allerdings „hat niemand auf uns gehört“.
Am Freitag zuvor hatte Viktor Orbán an dem Parteitag der Europäischen Volkspartei (EVP) in Madrid teilgenommen, an dem unter anderen auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zugegen war. Er betonte dort, dass auf die Flüchtlingsfrage eine eindeutige und entschiedene Antwort gegeben werden müsse. Laut Orbán handelt es sich heute nicht um eine Flüchtlingskrise, sondern um einen Migrationsprozess, der nicht nur Einwanderer, sondern auch bewaffnete Kämpfer beinhaltet.
EU muss Verantwortung übernehmen
Der ungarische Premier warnte seine Kollegen in der EVP: In Syrien und Pakistan stehe ein „unbegrenzter Nachschub“ an Terroristen zur Verfügung. Die gesamte Dimension und der Umfang der Flüchtlingskrise hätten jedenfalls die ursprünglichen Erwartungen in Europa weit übertroffen, sagte er. Orbán rief die europäischen Christdemokraten dazu auf, „Verantwortung zu übernehmen“ und inmitten der Flüchtlingskrise „mutig“ nach neuen Lösungen zu suchen, hätten sich doch die alten als untauglich entpuppt.
Den Flüchtlingen, so Orbán, müsse dabei geholfen werden, dass sie „ihr eigenes Leben“ und „ihren Platz“ in ihren Heimatländern zurückerlangen. Die freie Wahl des Wohnortes sei jedenfalls „kein Grundrecht“, betonte er. Bei der Behandlung der Flüchtlingskrise forderte er, die „political correctness“ über Bord zu werfen und eine Debatte „ohne Scheinheiligkeit und Heuchelei“ zu anzustoßen.
In diesem Zusammenhang bedankte er sich bei den Schwesterparteien des Fidesz in der EVP dafür, ihn und seine Politik „in diesen schwierigen Zeiten“ in Schutz genommen zu haben. Zur Erinnerung: Orbán und seine Regierung wurden für ihre rigide Asylpolitik und den Bau von Grenzzäunen zu den Nachbarländern Serbien und Kroatien insbesondere aus linksliberalen Kreisen scharf kritisiert.
Vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise ging Orbán auch darauf ein, dass Europa zurzeit „reich, aber schwach“ sei. Diese Kombination, so der Regierungschef, sei besonders gefährlich. Der Premier hob schließlich hervor, dass die Türkei ein wichtiger strategischer Partner sei, um dem Flüchtlingsstrom Herr zu werden. Er warnte jedoch: Wenn Europa von anderen die Lösung des Problems erwarte, dann liefere sich der Kontinent aus.
Zur Information: Der EVP gehören 75 christdemokratische und konservative Parteien aus 40 Ländern an. Sie stellt in der EU sowohl den Rats- als auch den Kommissionspräsidenten. Im EU-Parlament ist die Fraktion der EVP am größten, 14 der 28 EU-Kommissare kommen aus ihren Reihen.

Nicht willkommen: Passaus OB Dupper schlug ein Treffen mit Staatspräsident János Áder schlicht aus. (Foto: MTI)
Staatschef Áder auf Visite in München
Während Premier Orbán also in Madrid und Brüssel weilte, stattete das ungarische Staatsoberhaupt János Áder München einen Besuch ab. Bei einer Veranstaltung zum Gedenken an den ungarischen Volksaufstand 1956 hielt Áder am Donnerstag eine Festrede vor Diplomaten, bayrischen Politikern und deutschen Auslandsungarn.
In seiner Rede bedankte sich Áder sowohl beim bayrischen als auch beim deutschen Volk unter anderem dafür, den ungarischen Flüchtlingen von 1956 Zuflucht geboten zu haben. Er betonte, es sei fürwahr ein Sieg „unserer Revolution“, dass „wir als Mitglieder der Europäischen Union und der NATO im wiedervereinigten Deutschland gemeinsam des Volksaufstands am 23. Oktober 1956 gedenken können“.
Der bayrische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) wies in seiner Festrede darauf hin, dass die bayrisch-ungarische Zusammenarbeit eine jahrhundertealte Tradition habe und eine „echte europäische Erfolgsgeschichte“ sei. Die deutschsprachige Andrássy Universität in Budapest sei ein herausragendes Symbol für das zusammenwachsende Europa.
Herrmann erinnerte daran, dass die ungarischen Flüchtlinge im Jahr 1956 unter anderem auch in Bayern Zuflucht gefunden hätten. 1989 wiederum habe Ungarn den ostdeutschen Flüchtlingen geholfen, was nicht nur der deutschen Wiedervereinigung, sondern auch der Einheit Europas den Weg geebnet hätte, betonte er.
Der bayrische Innenminister verwies ferner darauf, dass Ungarn und Bayern auch im Hinblick auf die heutige Flüchtlingskrise einer Meinung seien. Beide Seiten stimmen darin überein, dass der Flüchtlingsstrom beschränkt werden und den Asylregeln in der Europäischen Union wieder in sämtlichen EU-Staaten Geltung verschafft werden muss, so Herrmann.
Einvernehmen zwischen Bayern und Ungarn, so Herrmann, gebe es auch darin, dass Identität und Authentizität der europäischen Nationen geschützt werden müssten. Einen Tag nach dem Festakt im Schloss Nymphenburg, traf János Áder auch mit dem bayrischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden, Horst Seehofer, zu Gesprächen in München zusammen.
Affront des Passauer Oberbürgermeisters
Kein Treffen gab es für Áder indes mit dem Oberbürgermeister der Stadt Passau, Jürgen Dupper (SPD). Dupper schlug einen für Freitag geplanten Besuch Áders im Rathaus von Passau einfach aus. Der Oberbürgermeister erklärte gegenüber einer Lokalzeitung: „Der Rathaussaal war seit Langem ausgebucht und mein Terminkalender voll. Ich werde mich hierzu nicht weiter rechtfertigen – auch nicht gegenüber einem Staatspräsidenten.“ Im Amt des Staatsoberhauptes in Budapest reagierte man auf die brüske Abweisung verschnupft. Es wird vermutet, dass SPD-Politiker Dupper mit der umstrittenen Politik der konservativen Regierung von Viktor Orbán nicht übereinstimmt, deshalb der Korb für Áder.