Ein wahrlich spektakulärer Fund: Anfang September hat eine deutsch-ungarische Familie bei Renovierungsarbeiten in der eigenen Wohnung, am Kossuth Lajos tér neben dem Parlament fast 7.000 Dokumente aus dem Jahr 1944 gefunden. Bei den Akten handelt es sich um die behördlich verfügte Erfassung der damals in Budapest lebenden Juden. Die Dokumente werden derzeit im Stadtarchiv von Budapest restauriert.

Von rechts: Dr. István Kenyeres, Generaldirektor des Stadtarchivs.
Daneben Gábor Berdefy mit seiner Frau Brigitte und ihrer Tochter. (BZT-Fotos: Nóra Halász)
Hinter der Wand einer Wohnung am Kossuth Lajos tér versteckten sich vermutlich seit über 70 Jahren Tausende Formulare aus dem Jahr 1944. Diese wurden damals an alle Bewohner der ungarischen Hauptstadt versandt und mussten von den Haus- und Wohnungseigentümern ausgefüllt werden. Der Grund: Um die Deportation vorzubereiten, wollte die Regierung die in Budapest lebenden Juden genau erfassen.
Alles begann mit einem Riss in der Wand
„Dass diese Dokumente gefunden wurden, grenzt an ein Wunder“, sagt Dr. András Sipos, Historiker im Stadtarchiv Budapest. Nicht nur, weil man dachte, dass alle derartigen Dokumente vernichtet worden sind, sondern auch, weil sie so gut versteckt waren, dass sie über Jahre hinweg unentdeckt geblieben sind und vielleicht auch noch weiter geblieben wären.
Ein langer Riss in der Wand erregte bei Renovierungsarbeiten die Aufmerksamkeit des neuen Wohnungseigentümers Gábor Berdefy und seiner Frau Brigitte. Beide wollten wissen, was die Ursache für den Makel war. Mit dem Entfernen einiger Ziegelsteine wurde das Geheimnis gelüftet. „Ich dachte schon, dass wir die Tapete des Nachbarn berühren“, sagt Brigitte Berdefy. Schließlich wurden immer mehr Ziegel der Wand entfernt, doch nicht die benachbarte Tapete, sondern eine Flut an Dokumenten kam zutage. Wie sich herausstellte, gab es hinter der Wand einen Hohlraum, in dem die Papiere versteckt waren.
Die Familie vermutete bereits, dass es sich um historische Papiere handeln könnte, und ging vorsichtig an die Bergung der Dokumente. Den Fund übergaben sie kurze Zeit später dem Stadtarchiv.

Mit Rotstift steht auf jedem Deckblatt, wie viele Bewohner ein Haus hat und wie viele davon Juden sind.
Fast 2.000 Häuser sollten von Juden „gesäubert“ werden
„Im Sommer 1944 war die Deportation der Juden in den ländlichen Gegenden Ungarns fast abgeschlossen und die Regierung begann mit den Vorbereitungen für die Deportationen in Budapest“, erklärt Sipos. Aufgrund einer neuen Verordnung wurden am 30. Mai 1944 Formulare an die Haus-und Wohnungseigentümer verteilt. Sie sollten Aufschluss darüber geben, welche Gebäude der Stadt von jüdischen Bürgen bewohnt wurden. „Die Papiere mussten von jedem ausgefüllt werden. Egal, ob in dem jeweiligen Haus Juden wohnten oder nicht“, so der Historiker. Ziel der Verordnung und der damit zusammenhängenden Datensammlung, war unter anderem die Vertreibung und Umsiedlung der jüdischen Bürger, die gesondert von der restlichen Bevölkerung leben sollten.
Binnen 24 Stunden mussten die Formulare ausgefüllt und abgegeben werden. „Die Hauseigentümer mussten dabei unter anderem angeben, wo sich die einzelnen Wohnungen befinden, wie viel Miete für sie entrichtet wird, wie viele Zimmer sie haben, wie ihre Bewohner heißen und ob diese „nach den gesetzlichen Bestimmungen“ als Juden zu betrachten sind.
21 Prozent der Budapester Bevölkerung wurden umgesiedelt
Bis Mitternacht des 21. Juni 1944 mussten die jüdischen Bürger ihre Wohnungen verlassen und in eines der Familienhäuser, die mit einem gelben Stern markiert waren, umziehen. Der sechszackige gelbe Davidstern mit einem Durchmesser von 30 Zentimetern wurde auf einem schwarzen Hintergrund an der Hausfassade angebracht. So konnte jeder in Budapest erkennen, in welchen Häusern Juden lebten. Einer vierköpfigen jüdischen Familie stand in diesen Häusern in der Regel ein einziges Zimmer zur Verfügung.
Die Häuser mit dem gelben Davidstern dienten dabei dem gleichen Zweck wie die Ghettos: Sie waren eine Vorbereitungsphase für die Deportation in die Konzentrationslager. Durch die Umsiedlung waren die jüdischen Bürger bereits in Häusern zusammengepfercht und konnten dann schneller abtransportiert werden. Insgesamt wurden 1944 rund 220.000 jüdische Personen, also knapp 21 Prozent der Budapester Bevölkerung zwangsumgesiedelt und enteignet.
„Wann genau und aus welchem Grund die Dokumente versteckt wurden, ist unklar“
Um herauszufinden, wer die Dokumente in der Wand der Wohnung am Kossuth Lajos tér 13-15 versteckt hat, wurden im Stadtarchiv bereits weitere Einzelheiten zur Geschichte des Gebäudes recherchiert. Das Haus in der Nähe des Parlaments wurde vermutlich Ende 1944 renoviert. Die Arbeiten am Ende des Krieges, bei denen auch gemauert wurde, sind jedoch kein stichhaltiger Beweis dafür, dass die Dokumente dabei eingemauert worden sind. Auch über den Grund, warum jemand die Formulare auf diese Weise vor der Vernichtung bewahren wollte, kann nur spekuliert werden.
Die im September gefundenen Dokumente stammen fast ausschließlich von Häusern im XI., XII. und XIV. Bezirk. „Es ist durchaus denkbar, dass irgendwo in Budapest noch die ausgefüllten Formulare der anderen Bezirke versteckt sind“, sagt Sipos.

Die Dokumente sind durch ihre ungewöhnliche Lagerung sehr gut erhalten
und geben den Wissenschaftlern neue Einblicke in die Geschehnisse 1944.
Die Dokumente sollen digitalisiert werden
Auch für die Mitarbeiter im Stadtarchiv war der seltene Fund eine nicht alltägliche Überraschung. Die Restauration der Dokumente hat nach Ankunft der Papiere im Stadtarchiv höchste Priorität. Derzeit werden die Papiere gereinigt und geglättet. Die Dokumente sind nicht beschädigt oder mit Wasser in Berührung gekommen, weshalb sie in sehr gutem Zustand sind. Durch die Mauer, die die Dokumente jahrzehntelang umgeben hat, waren sie auch gut vor der bleichenden Wirkung von Sonnenstrahlen geschützt – die Schrift ist deshalb noch immer sehr gut lesbar.
Für die kommenden Monate ist nicht nur die Restauration der Papiere geplant: „Nach der Restauration sollen die Dokumente digitalisiert werden“, so Sipos. Mit dem Erstellen einer Datenbank könne man jedoch allerfrühestens im kommenden Jahr rechnen.
Rund 565.000 ungarische Juden starben
Der primäre Ort des ungarischen Holocaust war nicht Budapest, sondern die ländlichen Gegenden. Von den 825.000 Juden, die in Ungarn lebten, wurden 437.00 Menschen nach Auschwitz und in andere Konzentrationslager gebracht. Insgesamt sind im Zweiten Weltkrieg 565.000 ungarische Juden in Konzentrationslagern, bei Todesmärschen oder durch Ermordung ums Leben gekommen. Die jüdischen Bürger in Budapest hatten dabei eine höhere Chance zu überleben, als ungarische Juden in anderen Teilen des Landes: Circa 260.000 von ihnen überlebten die Kriegsjahre – davon allein 119.000 in Budapest.