Vor fünf Jahren ereignete sich in Ungarn einer der schwersten Industrieunfälle in der Geschichte Europas. 10 Menschen starben, den Steuerzahler kostete das Desaster 40 Milliarde Forint. Fünf Jahre später wollen wir wissen: wie konnte das passieren? Was hat sich seitdem verändert? Und: Kann sowas wieder passieren?
Zsolt Boldizsár steht neben einem großen Bildschirm, über den ununterbrochen unwirkliche Bilder und Filmszenen flackern: meterhohe rote Flutwellen, die Autos mitreißen und Keller fluten, Menschen und Tiere, die versuchen sich daraus zu retten, das Ausmaß der Verwüstungen und Helfer bei den schwierigen Aufräumarbeiten, von oben bis unten beschmiert mit der roten Brühe. Das kleine Museum in Devecser, das Boldizsár betreut, will die Erinnerung wachhalten an die Rotschlamm-Katastrophe: als am 4. Oktober vor fünf Jahren der Damm eines Deponiebeckens der Aluminiumfabrik MAL AG im nahen Ajka brach. Geschätzte eine Millionen Kubikmeter Rotschlamm überfluteten die Dörfer Kolontár und Devecser und insgesamt 40 Quadratkilometer Land in einer bis zu zwei Meter hohen Flutwelle. Zehn Menschen starben, mehr als 150 wurden zum Teil schwer verletzt.
„Gott hat uns gerettet“
Trotzdem sagt Boldizsár heute: „Gott hat uns gerettet. Stellen Sie sich mal vor, der Damm wäre nicht mittags gebrochen, sondern mitten in der Nacht!“ Nichtsdestotrotz waren die Folgen schwerwiegend. Denn Rotschlamm ist stark basisch, mit einem pH-Wert von circa 13. Also hochgefährlich für den Menschen. Das Tückische daran: anders als bei Verätzungen durch Säure fühlt sich die Haut erst einfach nur warm an. Die Gefahr wird nicht erkannt. „Viele Menschen, die in die Krankenhäuser gebracht und dort mit Schwämmen gesäubert wurden, verstanden zuerst gar nicht, warum die Krankenschwestern und Feuerwehrleute weinten“, erzählt Boldizsár. „Bis sie sahen, dass mit den Schwämmen ihre Haut vom Körper gewaschen wurde.“ Auch an den Gebäuden hinterließ der ätzende Schlamm irreparable Schäden. Die Dörfer
Kolontár und Devecser wurden fast komplett abgerissen und an anderer Stelle wieder neu aufgebaut.
Fünf Jahre nach der Katastrophe ist von dem Unfall tatsächlich kaum noch etwas zu sehen. Auch Benedek Jávor erkennt Kolontár kaum wieder. Er sitzt für die Grünen im Europa-Parlament und ist für eine Kranzniederlegung mit einer Delegation nach Devecser und Kolontár gekommen. Jávor war zur Zeit der Katastrophe Vorsitzender des Umweltausschusses des ungarischen Parlaments und direkt im Krisenmanagement involviert. Als Jávor damals direkt nach der Katastrophe nach Kolontár kam, sah es aus „wie auf dem Mars. Alles rot und tot.“ Alles, was vom Schlamm berührt wurde, war eingefärbt. „Die Schuhe von damals habe ich immer noch. Und sie sind immer noch rot. Das Zeug geht einfach nicht raus.“
Wie konnte das passieren?
Auch politisch lässt Jávor die Katastrophe nicht mehr los. Im Jahr nach der Katastrophe war er maßgeblich an der Abfassung des „Kolontár-Report“ beteiligt, an dem auch unabhängige Institutionen beteiligt waren. Er stellt fest, dass die Katastrophe von der Kumulation einer Mehrzahl von Ursachen ausgelöst wurde: bauliche Mängel am Damm, nachlässige Wartung durch MAL und mangelhafter Kontrolle durch die Behörden, dann extreme Regenfälle.
Allerdings hätte dies alles nicht passieren müssen und auch nicht passieren dürfen. Immerhin war die Anlage zwei Wochen vorher noch inspiziert worden. Der Greenpeace-Chemiker Gergely Simon, der Jávor begleitet, ist immer noch fassungslos: „Wie kann das sein? Es muss doch auffallen, dass statt genehmigten 700.000 Kubikmetern 1.000.000 Kubikmeter Schlamm in dem Becken sind!“ Von Korruption spricht er nicht. Es brauche keine Korruption, wenn die Ressourcen für eine echte Kontrolle und Durchsetzung der Umweltgesetzgebung schlicht nicht da sind.
Widerrechtliche Genehmigungen
Jávor sieht den größten Fehler darin, dass die Firma eine Genehmigung erteilt bekam, nach welcher der Rotschlamm als ungefährlich eingestuft wurde. Was natürlich zu ganz anderen Standards auch bei den Kontrollen geführt habe. Der Kolontár-Report stuft die Erteilung dieser Genehmigung als rechtswidrig ein – sowohl nach damals geltendem europäischen wie ungarischem Recht. Allerdings hätten alle Behörden Fehler gemacht, die eine Rolle in der Genehmigung oder Kontrolle der Anlage beteiligt waren. Und zwar nicht nur bei den ausführenden Behörden, sondern schon beim Gesetzgeber. Der Report kommt zu dem Schluss, dass eine bessere Umsetzung der geltenden EU-Richtlinien in nationales Recht und konsequente Kontrolle derselben das Unglück hätten verhindern können. Diese Einschätzung steht bis heute in krassem Gegensatz zur Position der ungarischen Regierung, welche der Betreiberfirma MAL die alleinige Schuld zuweist.
MAL ist heute verstaatlicht und befindet sich seit 2013 in der Abwicklung. Ein Chemiker der Firma zeigt der Gruppe von Benedek Jávor den gebrochenen Damm und erläutert das Drainagesystem. Die ganze Gruppe muss Schutzkleidung tragen. Arbeiter, die wir sehen, tragen keine. In dem riesigen Becken wird heute wieder Rotschlamm abgelagert. Allerdings ist er nach einem neuen Verfahren verarbeitet und viel trockener, sodass eine erneute Flutkatastrophe ausgeschlossen ist.
Was hat sich seitdem geändert?
Wir wollen wissen, was sich seit Kolontár verändert hat. Was man aus dem Desaster gelernt hat. Dazu fragen wir beim Landwirtschaftsministerium an, in dessen Zuständigkeitsbereich auch Umwelt fällt. Wir erhalten aber nur eine schriftliche Stellungnahme, in der vor allem der Hergang der Katastrophe beschrieben wird. Zu den Ursachen heißt es dort nur: „Die Tragödie zeigte einen Mangel an Klarheit in der Gesetzgebung auf, wie die Tatsache, dass Behörden, welche die Rotschlammdeponie hätten überwachen können, handlungsunfähig waren, weil die Aufteilung der Zuständigkeit unklar war.“ Das sei sofort nach dem Desaster deutlich gewesen und die Nationalversammlung habe noch im Dezember 2010 Gesetze verabschiedet, um dies zu korrigieren.
„Das ist grundsätzlich richtig“, bestätigt Jávor. Die Regierung habe in der Tat einen Schritt in die richtige Richtung gemacht – leider habe sie gleichzeitig drei zurück gemacht. Statt Kapazitäten für die stärkere Kontrolle aufzubauen, wurden die zuständigen Behörden finanziell und personell geschwächt: die bis dahin eigenständig agierenden Umweltbehörden seien zerschlagen und „unter politische Aufsicht gestellt“ worden. Personelle Konsequenzen habe es dagegen keine gegeben. Nach den Verantwortlichen für die schweren behördlichen Fehler wurde nicht einmal ernsthaft gesucht. Auch wurde nichts unternommen, damit in Zukunft nicht wieder der Steuerzahler für ähnliche Unglücke aufkommen muss, so Jávor. „Eigentlich sollte das Verursacherprinzip gelten: der Verschmutzer zahlt. In der Wirklichkeit ist dieses Prinzip leider in einer leicht anderen Weise gültig, wenn es zu Industriekatastrophen kommt: der Verschmutzte zahlt.“
EU-Recht oft wirkungslos
Seit 2010 wurden einige Richtlinien auf EU-Ebene verschärft. Wir haben dazu mit Prof. Nicolas de Sadeleer gesprochen, der an der Saint-Louis Universität in Brüssel europäisches Recht unterrichtet. Er erklärt uns, dass es verschiedene Regelwerke im EU-Umweltrecht gibt, die einerseits auf die Prävention zielen und andererseits die Haftung regeln.
Auf Prävention von Unfällen wie Kolontár zielen vor allem die Richtlinien Seveso-3 (2012/18/EU) und über den Bergbauabfall (2006/21/EG). Ihre Novellierung nach dem Kolontár-Unfall habe die Situation bereits deutlich gebessert, so de Sadeleer. „Tatsächlich sind die Standards sogar recht hoch.“ Allerdings sei die Umsetzung der europäischen Vorgaben in nationales Recht weiterhin ein großer Unsicherheitsfaktor. „Ärmere Länder fürchten um ihre Wettbewerbsfähigkeit, deshalb legen sie die europäischen Vorgaben absichtlich so weit aus wie möglich.“ Sie setzen also lieber ihre Umwelt und die Gesundheit ihrer Bürger aufs Spiel, als Arbeitsplätze zu verlieren, weil die Firmen die nötigen Investitionen in die Sicherheit scheuen. An Fällen wie Kolontár sieht man, dass das teuer werden kann. MAL hatte nur eine Versicherung über 10 Millionen Forint (circa 30.000 Euro) abgeschlossen. Die Kosten für den Steuerzahler belaufen sich auf über 40 Milliarden Forint (circa 130 Millionen Euro).
Eigentlich sollte die 2004 verabschiedete Environmental Liability Directive ELD (2004/35/EC, auf Deutsch: Richtlinie über Umwelthaftung) solche Belastungen für den Steuerzahler verhindern. Die ELD regelt die Haftung bei Umweltschäden nach dem Verursacherprinzip. Für Prof. de Sadeleer ist es aber eine große Schwäche der ELD, dass die Einführung eines verpflichtenden Versicherungsschutzes den Mitgliedsländern überlassen wurde: „Auf diese Weise wird das Verursacherprinzip in der Praxis ausgehebelt. Die wenigsten Länder haben eine Versicherungspflicht eingeführt. Die Kosten gehen bei schweren Unglücken aber schnell in die Milliarden – und kaum eine Firma kann das stemmen. Sie geht also pleite, und der Steuerzahler muss zahlen.“ An diejenigen, die mit der Firma jahrelang Geld verdient haben, kommt man nur in den allerseltensten Fällen heran.
Immerhin ist man in Kolontár selbst nochmal mit einem blauen Auge davongekommen. Die Langzeitfolgen waren geringer als erwartet. Inzwischen kann man sogar wieder Obst und Gemüse aus den Gärten essen. Die aktuellen Messwerte seien im grünen Bereich, erklärte der Gergely Simon. „Das Gebiet wurde gesäubert, der Boden ausgetauscht.“ Bleibt die Frage:
Simon meint: ja. In der ungarischen Gesetzgebung habe sich wenig verändert. Und die Zustände in den Behörden noch weniger. Als Beispiel nennt Simon die Rotschlammdeponie von Almasfüzitö. Nach dem Kolontár-Unfall begann das Betreiberunternehmen Tatai Környezetvedelmi Zrt. den Rotschlamm auszutrocknen. Das Problem der Staubentwicklung wollte man lösen, indem man eine Schicht „Rekultivierungsboden“ über dem Schlamm aufschüttete. Tatai erklärte, dieser bestehe aus verschiedenen Abfällen, vor allem Bauschutt und Klärschlamm, die dort kompostiert werden sollen. Darauf könnten dann wieder Pflanzen wachsen. Die gesamte Deponie solle so rekultiviert werden. Tatsächlich sind bereits große Teile der Deponie wieder begrünt und auf einer eigens eingerichteten Internetseite brüstet sich die Betreiberfirmer Tatai mit zurückkehrendem Leben auf der Deponie.
Die Geschichte wiederholt sich
Doch 2011 schlug Greenpeace Alarm: was dort als „Rekultivierungsboden“ auf den Rotschlamm aufgeschüttet wurde, sei selber Giftmüll! Tatai beruft sich dagegen auf eine Genehmigung der Behörden für ihre Praxis. Das Verfahren zur Kompostierung sei zertifiziert. Tatsächlich dürfen laut einem Genehmigungsbescheid der zuständigen Umweltbehörde in Győr jährlich 412.000 Tonnen Abfälle in Almasfüzitö „kompostiert“ werden. Laut Greenpeace sind 132.000 Tonnen davon aber gefährlicher Giftmüll. „Wie kann man auf die Idee kommen, dass Giftmüll auf einmal nicht mehr giftig ist, wenn man ihn mit anderen Abfällen mischt und dann ‚kompostiert‘?“ fragt Simon. Vor allem, da die giftigen Bestandteile meist Schwermetalle sind. „Schwermetalle kompostieren? Ist das ein Scherz?“ Weil die Deponie kein echtes Drainagesystem besitzt, wäscht Regenwasser diese Stoffe aus und spült sie ins Grundwasser und in die Donau. Außerdem ist in Almasfüzitö das Risiko für Hochwasser hoch, ebenfalls liegt die Deponie in einer Erdbebenzone. Ein Green-peace-Sprecher bezeichnete die Deponie daher als „tickende Zeitbombe“. Nachdem die Regierung sich jedoch auf die Seite des Unternehmens stellte, reichte Greenpeace bei der Europäischen Kommission Beschwerde ein: die erteilten Genehmigungen für Almasfüzitö widersprächen ungarischem und europäischem Recht. Der Prozess dauert noch an.
Die Parallele zu Kolontár ist unübersehbar. Auch hier wurde eine zumindest fragwürdige, wenn nicht sogar widerrechtliche Genehmigung an ein staatsnahes Unternehmen erteilt und dabei unkalkulierbare Umweltrisiken in Kauf genommen. Steckt politischer Druck dahinter? Oder doch Korruption? Den Ausgang des Verfahrens bezeichnet Simon jedenfalls als „Test“, ob Ungarn endlich den Systemwechsel schafft, „weg vom alten System, das vor allem auf Gefälligkeiten basierte hin zu einem System von geltendem Recht und wissenschaftlichen Erkenntnissen“.
Der Staat sollte zuletzt haften
Benedek Jávor hat einen Drei-Stufen- Plan entwickelt, für dessen Umsetzung er auf europäischer Ebene wirbt. Er sieht eine Versicherungspflicht für alle Betriebe vor, die mit potentiell gefährlichen Stoffen arbeiten. Diese Pflicht soll nicht mehr den Mitgliedsländern überlassen sein. Damit diese Versicherungen bezahlbar sind, sollen sie allerdings gedeckelt sein. Etwa 90 Prozent aller Unfälle sollten damit abgedeckt sein, so Jávor. Für Schäden, die darüber hinausgehen, soll ein europaweiter Fond eingerichtet werden, in den alle Unternehmen je nach Gefährdungspotential ihrer Anlagen einzahlen. Allerdings könnte auch ein solcher Fond nicht alles bezahlen. Dann, so Jávor, würde in der dritten Stufe auch wieder der Staat einspringen müssen. „Aber eben nur dann!“ Jávor erklärt, dass vor allem durch die Versicherungspflicht ein Anreiz geschaffen wird, in die bestmöglichen Technologien zur Prävention von Unfällen zu investieren. Denn geringere Risiken bedeuten geringere Prämien.
Der Plan wurde bereits vom Umweltausschuss des Europaparlaments gebilligt und am vergangenen Donnerstag in Straßburg der Europäischen Kommission vorgestellt. Der Titel: Lessons learned from the red mud disaster five years after the accident in Hungary (2015/2801(RSP)). Vielleicht wird aus Kolontár ja doch noch was gelernt.
Und wie sieht es mit den Abfállen von MOTIM aus? sind die weniger giftig? Ach, ja stimmt, da ist (in jeder Beziehung) schon Gras drüber gewachsen.
In den Parlamenten Europas sitzen genug schwarze Nullen, denen roter Schlamm bis zum Halse steht.
Dass die ungarische Schlammkatastrophe von 2010 auch ein Sinnbild ist für den schwierigen Reformprozess in Ungarn ist, bei dem „sozialistische“ Seilschaften die Hauptverantwortung tragen, ist im Westen kaum bekannt und wird auch hier im Artikel
nicht betont. Trotzdem: B. Jávor hat jedenfalls gute Arbeit geleistet.