„Wir sind jung. Wir sind stark.“ könnte angesichts der momentanen Flüchtlingskrise in Europa nicht aktueller sein: Der Film thematisiert die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im Jahre 1992. Im Rahmen des Sehenswert Festivals wurde das Drama um Ausgrenzung und Fremdenhass auch einem Budapester Publikum vorgestellt. Die Budapester Zeitung sprach mit Drehbuchautor Martin Behnke über die Aktualität seines Filmes.
Der 128 Minuten lange Spielfilm beschreibt in unangenehmer Klarheit und Genauigkeit die Geschehnisse des 24. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen. Die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber ist völlig überfüllt. Die Asylbewerber selbst werden Zielscheibe für rechtsradikalen Ausschreitungen. Eine von Langeweile geplagte Gruppe deutscher Jugendlicher steht im Zentrum der Erzählung. Tagsüber lungern sie in einem Kleinbus herum, abends mischen sie sich unter die Protestierenden vor dem „Sonnenblumenhaus“, wie das Asylbewerberheim aufgrund der Wandbemalung auch genannt wird. Die Polizei hat sich vor dem wütenden Mob bereits zurückgezogen. Als der Jugendliche Stefan einen Brandsatz in ein Fenster des Wohnheims wirft, eskaliert die Situation. Das Haus wird von den Demonstranten gestürmt. Die Vietnamesin Lien und ihre Angehörigen bringen sich auf dem Dach des Gebäudes in Sicherheit. Erst als die Polizei wieder zum Sonnenblumenhaus zurückkehrt, wird die Lage unter Kontrolle gebracht.
Große Parallelen
„Dass der Film bei seiner Erscheinung politisch derart relevant sein würde, konnten wir nicht ahnen, als wir mit der Planung anfingen“, erzählt Martin Behnke. Nachdem der Film 2013 gedreht wurde, feierte er Ende 2014 seine Premiere. Zu dieser Zeit feierte auch die stark fremdenfeindliche Bürgerbewegung Pegida ihren Höhepunkt. Nicht nur, dass sowohl die Pegida-Bewegung als auch die Ausschreitungen im August 1992 vom einfachen Bürger ausgingen: Zwischen den Situationen 1992 und heute bestehen starke Parallelen. So wie Anfang der Neunzigerjahre das Sonnenblumenhaus in Rostock, brennen auch heute wieder Flüchtlingsheime. „Dass die Flüchtlingsunterkunft in Heidenau ebenfalls am 24. August […]“, dem Jahrestag der Anschläge von Rostock-Lichtenhagen, „[…] angezündet wurde, ist ja kein Zufall“, so Behnke. Anfang der Neunzigerjahre kamen die Flüchtlinge hauptsächlich aus dem jugoslawischen Raum und versuchten dort dem Bürgerkrieg zu entfliehen. „Die wiedervereinigte Bundesrepublik Deutschland war damals noch sehr jung“ und dieser Aufgabe nicht gewachsen. Die Deutschen hatten sich selbst noch nicht vollständig eingelebt.
Martin Behnke wurde selbst 1978 in Ost-Berlin geboren und erlebte die Anschläge in Rostock 1992 als Angehöriger derselben Generation wie die Täter hautnah mit. Behnke kennt die Einstellung der Rostocker gut: Aufgewachsen als Pioniere der DDR, mussten sich die Menschen plötzlich an die Regeln und Gesetze des Kapitalismus halten. Das führte zu Verwirrung, denn „in den Köpfen der Ostdeutschen lebte immer noch der jahrelang eingebläute Sozialismus“. Die Menschen entwickelten eine Trotzhaltung gegenüber der neuen Politik. Das Ventil der Jugend, ihre Aggressionen zu zeigen: Bomberjacken und Glatzen. Obwohl Behnke die gleiche kulturelle Entwicklung erlebte wie seine Freunde, war sein Weg jedoch ein anderer. Sein eigenes Elternhaus war sehr liberal, „aber sag niemals nie“. Viele Jugendliche vertraten, trotz liberaler Erziehung eine fremdenfeindliche, rassistische Meinung. Viele Freundeskreise sind in dieser Zeit zerbrochen, obwohl die Einstellung der eigenen Freunde eher toleriert wurde als die Fremder. „Da hat man schon mal eher gesagt: ‚Ey, man sagt nicht Fidschi oder Kanacke‘“, erzählt der Autor. „Aber wo genau man die Grenze zwischen den Leuten zieht, mit denen man dennoch weiterhin befreundet sein wollte und denen, die man abgelehnt“ kann auch Behnke nicht erklären.
Eine junge Generation
Der Film zeichnet das Selbstbild der Jugend um 1990 nach: man fühlte sich „jung“ und „stark“. Insgesamt war die die DDR sehr jung. In Rostock lebten zur Zeit des Pogroms rund 20.000 Menschen, von denen waren 40 bis 50 Prozent Jugendliche. Diese hatten große Schwierigkeiten, wie der Film zu verdeutlichen versucht. Die Menschen „hatten nur ihre Jugend, aber keine Jobs, keine Perspektiven, keine Anerkennung, keine Zukunft“. Das führte zu Frustration, die in Gewalt umschlug. Das Hauptproblem sieht Behnke im sozialen Umfeld der Jugendlichen: „Es gab keine Durchmischung der Schichten, keine Jobs, dafür aber viel Migration“. Für die jugendlichen Generationen heute schätzt der Autor die Situation schlimmer ein. Im Rahmen der Schulkinowochen wurde der Film bereits in Niedersachsen, Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern gezeigt. Die Schüler reagierten dabei sehr unterschiedlich: Manche waren sehr offen. Andere erkannten sich selbst wieder und reagierten ablehnend und aggressiv. „Genau wie diese Clique im Film“, fügt Behnke hinzu. Im November läuft der Film außerdem in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Berlin und leistet einen erheblichen Beitrag hinsichtlich Aufklärung und Jugendbildung. Der Film wurde von Anfang an gegen das Vergessen der Ereignisse gemacht, „daher war klar, dass er einen Bildungsauftrag haben würde“.
Die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und ganz Europa ist heute wieder allgegenwärtig: Noch nie haben so viele Flüchtlingsunterkünfte gebrannt wie in den letzten Monaten. Die Unterschiede zwischen 1992 und heute sind jedoch „von viel größerer Bedeutung“. Die Nationen sind gespalten. Gewalt und Hass stehen heute einer bemerkenswert engagierten Gegenbewegung gegenüber. Nicht nur die Bevölkerung, auch „Politik und Medien gehen mit der Situation heute völlig anders um“, als vor 23 Jahren. „Ich denke, die Unterschiede zwischen 1992 und 2015 sind größer, als die Parallelen“, fügt er hinzu.
Damals und heute: Gleiche Situation, andere Dimension.
Behnke spielt dabei auf die momentane Flüchtlingssituation in ganz Europa an: „Es ist die gleiche Situation wie 1992, aber in anderen Dimensionen.“ Entscheidend ist, dass die Gesellschaft heute völlig anders mit der Situation umgeht als vor 23 Jahren. Und zwar nicht nur Einzelpersonen, sondern Politik, Medien und Gesellschaft. Der Film kritisiert das Verhalten der Polizei in Rostock-Lichtenhagen. Der Grund für den Rückzug der Polizei konnte nie vollständig ermittelt werden. Trotz verschiedener Gerichtsverfahren „wurde niemand zur Rechenschaft gezogen“. Ebenfalls unverständlich: Die ersten drei der insgesamt sieben Tage andauernden Ausschreitungen hatten die Polizisten keine Ausrüstung. Das Material sei zwar vor Ort gewesen, wurde jedoch nicht ausgeteilt. Durch diese dramatische Fehlkalkulation „gab es unglaublich viele verletzte Polizisten“. In Europa werden heute viele unterschiedliche Wege gegangen. „In Ungarn schüren Politik und Medien Angst gegen Flüchtlinge“, Gewalt wird legitimiert. Auch 1992 herrschte eine große Verfremdungsangst, „Ausländer wurden als Betrüger kategorisiert.“
Im Anschluss an die Filmvorführung des Sehenswert Festivals hatten Zuschauer und Interessierte die Möglichkeit, sich mit Fragen sowohl an den Drehbuchautor, als auch an Attila Melegh, Soziologe und Wissenschaftler am Max-Planck-Institut in Budapest, zu wenden. Dieser beschreibt die ungarische Flüchtlingssituation wie folgt: „Ungarn macht keinen Hehl aus seiner Situation. […] Stattdessen wirbt es noch mit Plakaten und fragt, ob wir lieber den Flüchtlingen helfen oder den armen Ungarn.“ Er gesteht ein, dass Ungarn „nur wenige finanzielle Mittel hat“, um das Problem allein zu bewältigen. Aber „Ungarn versucht auch gar nicht erst, diese Probleme zu überwinden“, indem es beispielsweise versucht, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Zudem sieht Melegh das Internet in einer zentralen Rolle: „Meinungen verbreiten sich so sehr schnell.“ „Früher waren Migranten gern gesehen“, ob in Westdeutschland oder Ungarn, denn „es gab viel Arbeit.“ Zum jetzigen Stand sind die Flüchtlingszahlen von 2015 und 1992 in Europa ähnlich, „aber dieses Jahr werden die Zahlen noch höher steigen als damals.“
Die Täter: nette Jungs von nebenan
Martin Behnke ist persönlich stolz auf das Filmresultat, auch wenn er sich „als Autor des Drehbuches gegen Ende der Produktion zurückgezogen“ hat. Doch „weil im Film die Täter als ganz normale Menschen mit sympathischen Zügen gezeigt werden“, finden einige Kritiker den Weg der Aufarbeitung dieses sensiblen Themas falsch. „Aber genau das waren die Täter: die netten Jungs von nebenan“, fügt Behnke hinzu. Zwar sieht er selbst Möglichkeiten, „wie man den Film noch besser hätte machen können“, dennoch ist „Wir sind jung. Wir sind stark.“ ein Film, „den man hören und sehen sollte“ (ZDF Heute Journal). Der Film soll aufrütteln: Nur wenige Rostocker haben den fliehenden Vietnamesen geholfen. „Die Vietnamesen mussten sich selbst retten, das ist ja das Schlimme“, so Behnke. Ebenso dramatisch ist das Ende des Films. Die Schlussszene zeigt Kinder, die, nach einer wahren Begebenheit, die überlebende Vietnamesin Lien mit einem Stein bewerfen. Damit malt der Autor eine erschreckende Zukunft. „Der Stein fliegt gewissermaßen 20 Jahre in die Zukunft. Wenn man nicht aus der Geschichte lernt, muss sie sich eben wiederholen“, so Martin Behnke.