
Wirtschaftsminister Mihály Varga am Mittwoch auf dem Weg zu seinem Vortrag in der Andrássy-Universität: „Selbst wenn die Produktion infolge des Skandals zurückgehen sollte, wird dies das Győrer Werk weniger berühren, als andere Konzernwerke.“ (Foto: MTI)
Die ungarische Regierung macht sich ihre Gedanken, wie es nach dem Skandal um die manipulierten Dieselmotoren des Volkswagen-Konzerns industriepolitisch weitergehen soll. Sicher ist im Moment nur, dass die Abgaspleite ein sensibles Gebiet erwischte.
In dieser Woche meldete sich Wirtschaftsminister Mihály Varga gleich wiederholt zu Wort, um die Position der ungarischen Regierung zu dem Volkswagen-Skandal darzulegen, denn die Audi Hungaria Motor Kft. ist ein Tochterunternehmen von VW. „Das wichtigste Ziel der Regierung lautet, die Arbeitsplätze in der Automobilindustrie zu erhalten“, erklärte der Minister im staatlichen Nachrichtenfernsehen M1. Die Automobilindustrie gebe Ungarn Stabilität, die unter den jetzigen Umständen unbedingt bewahrt bleiben müsse. Dazu habe man sich noch in der Vorwoche mit den wichtigsten Akteuren der ungarischen Automobilindustrie, also neben der Audi Hungaria auch mit Mercedes-Benz in Kecskemét, konsultiert. Der Skandal habe ein „sensibles“ Gebiet erwischt, denn die Automobilproduktion stellt mittlerweile mehr als 22 Prozent an der Industrieproduktion und sichert 13 Prozent der ungarischen Exporte. An anderer Stelle bezifferte Varga allein den Anteil von Audi Hungaria an den Exporten des Landes auf 7-8 Prozent.
Regierung denkt über diversifiziertere Industriestruktur nach
Die Antwort wirkt wie aus der Zauberkiste: Die Regierung habe erkannt, dass die Wirtschaft diversifiziert werden müsse. Das mittlerweile bei jeder monatlichen Meldung von der Entwicklung der Industrieproduktion angesprochene Übergewicht der Automobilindustrie sei „ungesund“, ergo in vernünftigere Bahnen zu lenken. Dazu möchte der Minister traditionelle Zweige wie die Pharmaindustrie, den medizinischen Gerätebau und die Komponentenherstellung für den Maschinenbau massiver fördern.
Der Fahrzeugbau hielt zur Jahresmitte bereits einen Anteil von knapp einem Drittel am gesamten verarbeitenden Gewerbe, im Boom-Jahr 2014 lag dieser Anteil noch bei einem Viertel! Nahrungsmittelindustrie und Elektronikindustrie steuern zusammengenommen kaum ein Viertel bei, der Maschinenbau hat sich auf 5-6 Prozent halbiert. Interessant, dass dem Wirtschaftsminister die ebenfalls traditionelle Chemieindustrie nicht einfiel, doch wohin man auch schaut, die Retter der Industriestatistik sind nirgendwo auszumachen, wenn in der Automobilindustrie der Schuh klemmt. Im Inland mag es noch angehen, doch an den Exporten halten die Großunternehmen, die wiederum überwiegend Tochtergesellschaften multinationaler Konzerne sind, rund 80 Prozent. Die ehrgeizigen Ziele, Ungarns Exportleistung auf 100 Prozent am Bruttoinlandsprodukt hochzuschrauben, um in dieser Hinsicht zur Nr. 1 in Europa aufzusteigen, wird die Regierung ohne die Multis nie verwirklichen können.
Wie sehr Ungarns Wirtschaft von der Automobilindustrie und dabei speziell vom Automobilexport abhängt, könnte sich in genau einem Monat bei der Präsentation der Zahlen zur Entwicklung der Erzeugerpreise in der Industrie herausstellen. An diesem Mittwoch präsentierte das Zentralamt für Statistik (KSH) die Angaben für den Monat August, als die Exportpreise weiter nach oben zeigten. Die Inlandspreise sind hingegen seit Jahr und Tag gedrückt; hierzulande kann die Industrie einfach keinen Blumentopf gewinnen. Sollte der Volkswagen-Konzern im Zuge des Dieselskandals die Verrechnungspreise für die von der Audi Hungaria in Größenordnungen von monatlich 50.-100.000 produzierten Dieselmotoren „wertberichtigen“, könnten die Statistiken für die Erzeugerpreise in den Herbstmonaten einen neuen, negativen Trend offenbaren.
Audi Hungaria stellt nur noch „saubere“ Motoren her
Minister Varga hatte von 2-2,5 Millionen Motoren gesprochen, die von der Audi Hungaria zum Dieselskandal „beigesteuert“ worden waren. Die Fertigung des jetzt in Verruf geratenen Motortyps EA189 soll jedoch im Vorjahr in Győr eingestellt worden sein, und der VW-Konzern beharrte in dem Skandal von Anfang an darauf, dass die Euro-6-Motoren den Umweltvorgaben an die Abgaswerte gerecht werden. Wenn dem so ist, stellt also auch die Audi Hungaria seit geraumer Zeit nur noch „saubere“ Motoren her. Wegen der Vertrauenskrise lassen sich Dieselmotoren aber momentan äußerst schlecht verkaufen; in mehreren Ländern wird an einem Vertriebsverbot für die VW-Marken überlegt, bis der Skandal aufgeklärt ist.
In Ungarn wird die soeben von der neuen VW-Führung um Matthias Müller verkündete Rückrufaktion vermutlich um Größenordnungen weniger Autobesitzer berühren, als in Deutschland (2,8 Millionen) oder in Österreich (363.000 Fahrzeuge). Das Problem schlägt sich hier also nur zweitrangig auf der Verbraucherseite nieder, dafür umso mehr auf der Produktionsseite. Bei der Audi Hungaria Motor Kft. waren zur Jahresmitte bereits über 11.300 Mitarbeiter beschäftigt, die im I. Halbjahr 1.067.525 Motoren sowie 84.888 Autos bauten – beide Zahlen bedeuten absolute Halbjahresrekorde in der Geschichte des Unternehmens. Vorläufig gibt es nach aus dem Werk durchsickernden Informationen keine vordergründige Angst um die Arbeitsplätze, denn der intensive Schichtbetrieb wird momentan beibehalten – viele müssen nach wie vor auch sonntags ran, um den hohen Auftragsbestand zu meistern.
Soll der Diesel begraben werden?
Wann die logischerweise anstehende Korrektur von Seiten der VW-Zentrale nach Győr durchgegeben wird, ist unsicher, denn in größeren Strukturen fallen die Reaktionen nun mal schwerfälliger aus. Der Wirtschaftsminister wollte den Mitarbeitern wohl zusätzlich Mut machen, als er sagte: „Selbst wenn die Produktion infolge des Skandals zurückgehen sollte, wird dies das Győrer Werk weniger berühren, als andere Konzernwerke, weil der Volkswagen-Konzern in Győr einen seiner modernsten Standorte besitzt.“ Das mag nicht nur ermutigend klingen, sondern könnte durchaus eine zutreffende Feststellung sein. Immerhin wurde das ungarische Tochterunternehmen in gut zwei Jahrzehnten für über 7,5 Mrd. Euro zum größten Motorenwerk der Welt mit „angeschlossenem“ Automobilwerk gemacht – die Verdienste des soeben, aus skandalunabhängigen Gründen nach Neckarsulm „ausgewanderten“ Thomas Faustmann bei diesem Meisterakt kann man nicht hoch genug würdigen (siehe dazu auch unser Abschiedsinterview mit dem Spitzenmanager „Wir haben uns immer wieder durch unsere Leistungen empfohlen“ im vorigen BZ Magazin).
Neben den Milliarden für die Fertigung von Motoren und Autos flossen auch zunehmend größere Beträge in die Motorenentwicklung, denn für Audi-Ingenieure lautet die Aufgabe, die Otto- und Dieselmotoren von Weltniveau immer noch ein wenig besser zu machen. Wenn diese Motoren den Umweltauflagen nicht gerecht werden, wie ist es dann um die Autos der breiten Konkurrenz in der Automobilindustrie bestellt? Bei den immer wieder von verschiedenen Institutionen oder auch Fachzeitschriften durchgeführten unabhängigen Tests weitab der standardisierten Labortests, die wegen ihrer künstlichen Modellvorgaben nichts mit der Realität gemein haben, war ja nicht nur VW mit den 1.6 und 2.0 TDI-Motoren durchgefallen, es traf auch andere Hersteller von Volvo bis Mazda.
Diese Tests werden im Straßenverkehr vorgenommen, wo ein jeder von uns selbst Erfahrungen mit rußenden Dieselautos sammeln kann – und nicht etwa nur bei Oldtimern. Wenn aber jetzt Modelle einzelner Hersteller durchfallen, bleibt es anschließend beim am Sündenbock statuierten Exempel oder wird nun zum Rundumschlag ausgeholt? Soll der Diesel begraben werden, den der ungarische Wirtschaftsminister in seinem Bemühen, die Arbeitsplätze bei der Audi Hungaria zu verteidigen, als „weiterhin effizienter“ als den Ottomotor bezeichnete? Was ist mit den anderen Marken, wenn VW bei ICCT durchfällt, wo BMW besteht, obgleich die Bayern wiederum von britischen Testern angezählt wurden? Wie soll der Kunde Tests vertrauen, die plausibel erscheinen, aber (natürlich wegen der fehlenden Standards) widersprüchlichste Ergebnisse zustande bringen? Und was ist mit den Bus- und Lkw-Flotten, hält irgendjemand diese ähnlich wie die amerikanischen Monsterautos mit ihren benzinverschlingenden Motoren tatsächlich für umweltfreundlicher als die jetzt gebrandmarkten TDI? Vor diesem Hintergrund ist es schon eigenartig, welche Blüten die Selbstgeißelung der Deutschen momentan treibt.
Zweifelhafter Ruhm des Weltersten
Dass VW zu der manipulierenden Software griff, wenn man schon ingenieurtechnisch den immer strengeren Umweltauflagen (zumindest vorübergehend) nicht mehr gerecht werden konnte, mag zwar auch mit Arroganz und Ungeduld erfolgsverwöhnter Unternehmensführer zu erklären sein. Wer ein wenig in der Industrie herumschnuppert, entdeckt jedoch zur Genüge Fälle, bei denen Ingenieure krampfhaft nachzubessern versuchen, was vom Marketing bereits längst als Istwert verkauft wird. Dass sich die Deutschen aber ausgerechnet auf dem US-Markt dieses Tricks bedienten und mit „Clean Diesel“ gleich noch als Helden gefeiert werden wollten, ist jedoch bedenklich und lässt einen gewissen Sinn für die Realität vermissen. Ebenso wie gesunden Menschenverstand, schon allein, weil es alles andere als ein Geheimnis ist, wie gnadenlos Anwälte und Justiz in Übersee beim vorgeblichen Schutz von Verbrauchern und Anlegern zu Werke gehen.
Das Abenteuer USA hat den nur für Monate zum zweifelhaften Ruhm des Weltersten gelangten Volkswagen-Konzern bislang schon Milliarden gekostet. Als Europäer fragt man sich angesichts der übersubventionierten Vertriebspolitik, ob dieses Geld – so etwa auch die großzügigen Rabatte für die amerikanischen Autokäufer – in anderen Regionen der Welt nicht besser investiert gewesen wäre.