Von Levente Sitkei
Wartet Angela Merkel nun mit offenen Armen auf alle syrischen Flüchtlinge, oder sind nur die Kindermediziner und Mikrobiologen Flüchtling genug, um in den Genuss der großen deutschen Umarmung zu kommen? Die deutsche Kanzlerin ist binnen zwei Wochen von der „Tante“, die alle mögen, zur Henkerin Europas mutiert – dafür wird sie denn auch die politische Verantwortung tragen müssen.
Hunderttausende haben den Ruf Merkels gehört, in dem das Versprechen einer lichten Zukunft, üppiger Sozialleistungen und pünktlicher Züge mitschwang. Mit diesem Blankoscheck in der Hand brachen sie auf, um über die virtuellen Grenzen Europas ins Gelobte Land zu gelangen, wo auf ihre Söhne dereinst ein Leben à la Mesut Özil wartet. Doch als sie dort ankamen, wurden sie von bewaffneten Grenzsoldaten mit folgendem Wort empfangen: „Passportkontrolle“.
Schengen ist eine der wenigen handfesten Errungenschaften der Europäischen Union, ein System, in dem alle möglichen Minderheiten in Frieden zusammenleben können. Die Grenze ist nur eine virtuelle Demarkationslinie. Wer weiß das nicht besser als wir Ungarn. Nun hat sich herausgestellt, dass die Europäische Union nur dann leidlich funktioniert, wenn es den Mitgliedsstaaten gut geht, oder anders: wenn Deutschland erfolgreich ist. Wir alle haben an der Prosperität Anteil, wir bauen Fahrradwege und Windkraftwerke, allerdings vergessen wir dabei, dass dies im Grunde nichts mit dem wahren Leben zu tun hat. Anders ausgedrückt: Mit unserem Leben schon, jedoch sind wir die wenigen Auserwählten: die Söhne und Töchter des grünen, üppigen und reichen Europa, die sich dies leisten können. Andere haben nicht diese Möglichkeiten. Auch wir können dies alles nur deshalb tun, weil die Maschinen für den Bau von Fahrradwegen in Deutschland produziert werden und die Windturbinen in Hamburg entstehen.
Nun sind aber die unzähligen Migranten da, die zum Großteil tatsächlich aus Syrien kommen und tatsächlich auf der Flucht und auf Hilfe angewiesen sind. Doch ist unter den vielen Millionen die Spreu vom Weizen schwer zu teilen. Deutschland hat vor Kurzem die Integration von einer halben Million Migranten noch als Kinderspiel erachtet, vom plötzlichen Auftauchen von 15.000 Flüchtlingen jedoch hat Berlin weiche Knie bekommen.
Risse quer durch Deutschland
Die Einheit in Deutschland hat bereits tiefe Risse bekommen. Die Regierung des Freistaates Bayern schäumt ob der Verantwortungslosigkeit der Kanzlerin und ihres Stellvertreters. Europa hat die süßen Flüchtlingskinder und Johnny, die Katze, die angeblich von Syrien bis Röszke auf der Schulter ihres Herrchens gereist ist, fotografiert. Und es hat Viktor Orbán und das ungarische Volk als „nazistisch“ gebrandmarkt, was unter den schwachen Politikern des Kontinentes eine Art Volkssport ist. Indessen sind dies alles nur Ersatzhandlungen, die darüber hinwegtäuschen, dass Europa vom Zerfall bedroht ist. Die virtuellen Grenzen werden von nun an wieder physische Gestalt annehmen, werden doch Soldaten und Polizisten wieder an den Übergangsstellen stehen. Im Geiste von Schengen, versteht sich.
Gibt es indes Probleme, können die Grenzkontrollen wiedereingeführt werden, solange Gefahr besteht. Vorerst liegt der Verdacht nahe, dass das Problem mächtig groß ist – unsere bestehenden Verteidigungssysteme funktionieren nicht, das Rezept des grenzenlosen Liberalismus ist lebensfremd und aggressiv und verschärft nur das Problem. So bleiben nur das Schießpulver, der Stacheldraht und deren abschreckende Kraft. Was natürlich keine Lösung ist. Gleichwohl ist eine Behandlung der Symptome notwendig, um von Europa noch träumen zu können. Aber nicht von jenem, das jetzt in Agonie ist. Sondern von jenem, das noch nicht umrissen ist, aber dennoch existiert. Die EU wird sich gewiss verändern, weil ihre heutige Struktur diese Krise nicht überleben wird.
Schengen lebt, solange sein Geist lebt. Das ist keine rechtliche Formel. Es ist vielmehr ein kollektiver Gedanke und Wunsch, dass wir von Budapest bis Lissabon frei reisen können, wenn uns der Sinn danach steht. Inmitten der Krise ist ausgerechnet dieses Ideal gestorben. Andererseits stellt sich auch die Frage, ob dieses Ideal jemals gelebt hat oder ob wir lediglich an eine hehre Idee geglaubt haben, die viele Nutznießer hatte, nur stand niemals ein echter Inhalt dahinter.
Der hier wiedergegebene Text erschien in der regierungsnahen Tageszeitung Magyar Idők.
Aus dem Ungarischen von Peter Bognar