Ungarn hat den Titel als Wachstums-Europameister sehr schnell wieder abgeben müssen. Dennoch hält die Regierung noch an der Drei vorm Komma fest, dass es im II. Quartal etwas weniger waren, sei der Landwirtschaft geschuldet. Wenn wir uns die aktuellen Zahlen der Wachstumsträger anschauen, erinnern diese eher an eine Achterbahnfahrt, denn an Nachhaltigkeit.
Anfang September gab das Zentralamt für Statistik (KSH) einen Erklärungsversuch für die erste Schätzung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das Wochen zuvor enttäuschende 2,7 Prozent im Jahresvergleich für das II. Quartal ausgewiesen hatte. Nun haben wir es schwarz auf weiß, dass die Landwirtschaft für die jüngste Konjunkturdelle verantwortlich ist: Die Rekordernte 2014 sorgte im Vorjahr für zweistellige Wachstumssprünge, weil die Aussichten in diesem Jahr witterungsbedingt eingetrübt wurden, geht es nun mit dem Beitrag des Agrarsektors zur ungarischen Wohlfahrt wieder ähnlich rasant bergab. (Immerhin bleibt die Hoffnung, dass die Statistiker übertriebene Vorsicht walten ließen – weil die Ernteerträge erst noch erfasst werden, handelt es sich zum jetzigen Zeitpunkt lediglich um grobe Schätzungen.)
Als Wachstumsträger an der Seite der Konjunkturlokomotive Industrie kommt die Landwirtschaft 2015 jedenfalls nicht in Frage. Doch wie schneidet heute die Industrie ab, die im vergangenen Jahr nach einer tiefen Talfahrt endlich wieder ähnliche Impulse wie der von der Regierung so häufig geschmähte Dienstleistungssektor beisteuern konnte?
Spätestens seit der Entscheidung des Daimler-Konzerns vom Sommer 2008, ein komplettes Automobilwerk auf der grünen Wiese inmitten der Puszta zu errichten, fühlt sich das moderne Ungarn ein wenig wie eine Industriehochburg inmitten Europas. Mochte die Gyurcsány-Regierung noch ein Glückslos gezogen haben, will die Orbán-Regierung seit 2010 nichts mehr dem Zufall überlassen: Der im Westen so umstrittene Ministerpräsident verkündete einen Kurs der Reindustrialisierung, der dem europaweiten Trend zur Dienstleistungsgesellschaft entgegensteuert. In seiner Argumentation ist am ehesten die Industrie zur Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze imstande, weshalb sie einen herausragenden Stellenwert in der Wirtschaftsentwicklung erhält, die zu einer Million neuer Arbeitsplätze beitragen soll. Wenn Ungarn erst einmal fünf Millionen Erwerbstätige wie das ungefähr gleichgroße Tschechien aufweisen kann, wäre das eine entsprechend breite Basis für die moderne Wohlfahrtsgesellschaft.
Positive Zahlen
Die Marke von vier Millionen Beschäftigten wurde maßgeblich durch die vielen öffentlichen Arbeitsprogramme gemeistert, in diesem Sommer zählte das KSH erstmals sogar 4,2 Millionen Beschäftigte. Das ist ein absoluter Rekord und bedeutet eine Steigerung der Beschäftigungsquote im Verlaufe von viereinhalb Jahren um zehn Prozentpunkte. Anders ausgedrückt stehen im Vergleich zum Krisenjahr 2009 heute ungarnweit rund eine halbe Million Menschen mehr in Lohn und Brot. Damit hat sich Ungarn von den mediterranen Schlusslichtern der Arbeitsmarktstatistik in der EU abgesetzt und bereits die Zielvorgabe aus Brüssel für 2020 erfüllt, was die wirtschaftliche Aktivität der Männer anbelangt.
Die reformierte Steuerpolitik nimmt dieses Mehr an Wirtschaftsakteuren auf, denn unter Orbán wird jedes Einkommen vom Mindestlohn angefangen besteuert, die Sozialversicherungskassen sind nach dem „Einstand“ der privaten Pensionskassen sowie dank der üppig fließenden Beiträge von mehr und mehr Lohn- und Gehaltsempfängern ausgeglichen, über (Welt-) Rekordsätze der Mehrwertsteuer und bei Verbrauchsteuern tragen die Bürger ihr sauer verdientes Geld Vater Staat mit jedem Konsum wieder zu.
Partnern wird Ausnahmestellung suggeriert
Mit der Krise war die Industrie in ein tiefes Loch gefallen. Die aus der Krise folgenden Defizite versuchte die Orbán-Regierung über Sondersteuern zu kompensieren; die über mehrere Branchen verhängten Sondersteuern schlossen die Industrie dabei explizit aus. Um das untergrabene Vertrauen der Investoren wiederherzustellen, ersann der Ministerpräsident nach der unorthodoxen Wirtschaftspolitik ein System strategischer Vereinbarungen. Über diese wurden bis heute rund 60 Partner (aus Industrie und Dienstleistungssektor) dem Wirtschaftskurs dieser Regierung verpflichtet, die 13.000 neue Arbeitsplätze schufen und ihre Investitionen um mehrere hundert Milliarden Forint ausweiteten. Wenngleich manche Partner in den Vereinbarungen nur einen Papierwisch sehen, dessen Wirkungslosigkeit immer neue Ad-hoc-Maßnahmen wie das zu Jahresbeginn unter chaotischen Begleitumständen eingeführte elektronische Frachtkontrollsystem (EKÁER) zeigen, wirkt die Partnerschaft nach außen doch positiv: Potenzielle Investoren erhalten den Eindruck, wer sich mit der Orbán-Regierung gutstelle, könne in Ungarn auf eine Ausnahmebehandlung hoffen.
Industrie punktet mit Exporten
Vermag der Dienstleistungssektor wertvolle (zumal besser bezahlte) Arbeitsplätze zu schaffen, ist doch die Industrie maßgeblich für die Exportentwicklung verantwortlich. Die Nettoexporte sind in den besseren Konjunkturjahren seit der Wende Ungarns Wachstumträger schlechthin. Im vergangenen Jahr summierte sich die Exportleistung auf stolze 84,5 Milliarden Euro, der Handelsüberschuss erreichte 6,3 Milliarden Euro. Im I. Halbjahr 2015 kamen auf der Ausfuhrseite wieder 45 Milliarden Euro zusammen; die Dynamik kratzte zeitweise am zweistelligen Bereich. Wagemutigere Analysten sehen für das Gesamtjahr einen positiven Saldorekord in der Größenordnung von 8 Milliarden Euro voraus. Damit hält das Land seine Zahlungsbilanz recht im Lot; die Anfälligkeit für Turbulenzen an den internationalen Finanzmärkten sinkt. Sollte der Trend noch eine Weile anhalten, könnte Ungarn schon mittelfristig 100 Prozent seines Inlandsprodukts in Form von Exporten realisieren. Den Hauptanteil an den Exporten trägt die Industrie, deren Flaggschiff mit allmählich einem Drittel Anteilen eindeutig die Fahrzeugindustrie ist – diese wiederum produziert zu 93 Prozent für Exportmärkte!
Hinter den Exporten steht also überwiegend die Industrie, die im Juli aber nur noch um dreieinhalb Prozent gewachsen ist. Ihr Beitrag zum Wachstum belief sich im I. Halbjahr noch auf gut sechs Prozent, doch halbierte sich diese Dynamik bereits vom I. zum II. Quartal. Auch die aktuellen Investitionszahlen unterstreichen, dass die großen Kapazitätserweiterungsprojekte (vornehmlich in der Automobilindustrie) ausgelaufen sind. So konnte es passieren, dass das im Übrigen die ungarische Wirtschaft dominierende verarbeitende Gewerbe im II. Quartal kaum mehr als die Logistik- und Transportbranche investierte. Das Gesamtbild der Investitionen stimmte zur Jahresmitte allerdings zuversichtlicher, die Dynamik erreichte 5,7 Prozent (auf der Basis der Vorjahresdaten). Dabei sind die Ausgangswerte nicht mehr lächerlich niedrig wie in den Krisenjahren – 2014 nahmen die Investitionen auf Volkswirtschaftsebene um rekordverdächtige 14 Prozent auf 5.200 Milliarden Forint zu. Das Wirtschaftsministerium sah die Investitionsquote jüngst über 21 Prozent und vertraut darauf, einen weiteren Schwachpunkt der Wirtschaftspolitik ausgemerzt zu haben.
Nun müsste endlich der Privatverbrauch auf Touren kommen. Der konsequent verfolgte Kurs steigender Realeinkommen soll die Inlandskomponente des Wachstums stärken. In den vergangenen zwei Jahren wurde diese durch die Ausgaben der öffentlichen Hand genährt, doch sind staatliche Geldausgaben nicht unbedingt Garant für eine nachhaltige Entwicklung. Die Privathaushalte ticken aber anders, als vom Lenker der unorthodoxen Wirtschaftspolitik, György Matolcsy, noch zu seiner Zeit als Wirtschaftsminister erhofft. Auf der einen Seite gab er Steuergeschenke an Familien, auf der anderen nahm er den Geringverdienern noch mehr und blutete die in die Falle der Fremdwährungskredite getappte „Mittelschicht“ mit dem vorsätzlich geschwächten Forintkurs aus.
Die Fülle an Weichenstellungen lässt dennoch hoffen, dass die ungarische Wirtschaft in den kommenden Jahren stabil 2-3 Prozent wachsen möge. Um den Rückstand zu Wohlstandsgesellschaften wie Deutschland oder Österreich abzubauen, reicht das aber nicht. Ungarn kann sich heute einzig damit trösten, dass uns jede EU-Erweiterung näher an den Durchschnittswert der Wirtschaftsleistung bringt – schlichtweg weil immer ärmere Länder in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Den ungarischen Bürgern schwebte beim EU-Beitritt eine andere Form der Konvergenz vor.