
Nach den bisher vorliegenden Informationen wird nur ein Bruchteil der Devisenkreditopfer dank der neuen Regelung ein wenig aufatmen können. (Foto: MTI)
Am 1. September 2015 wurde in Ungarn nicht nur das neue Schuljahr eingeläutet. Es wurde auch eine neue Institution installiert: der Privatkonkurs. Ob die von vielen nur als Profilierungsversuch des winzigen Koalitionspartners KDNP verstandene Gesetzesinitiative tatsächlich einer breiten Gesellschaftsschicht helfen wird, steht in den Sternen – im Moment liegen noch nicht einmal alle Durchführungsbestimmungen vor.
Vorläufig gilt die neue Rechtsinstitution nur für Hypothekenkreditnehmer. Damit wird gleich deutlich, worauf der kleine christdemokratische Koalitionspartner des Fidesz, die KDNP, mit dem Vorstoß im Parlament abzielte: Möglichst viele jener Familien zu retten, denen eine Zwangsversteigerung ihres Heims droht. Bis zu 130.000 Privathaushalte in Ungarn sehen sich außerstande, die monatlichen Raten ihrer Kredite zu zahlen, während ihre vier Wände durch eine Hypothek der Bank belastet sind. Die Orbán-Regierung setzte seit 2010 mit ihrem Kurs der Schuldenkonsolidierung sukzessive der liberalen Praxis ein Ende, dass alles Hab und Gut der Schuldner den Banken zufallen muss.
Diese hatten nach 2002 die konjunkturbelebende Wirtschaftspolitik der sozialistisch-liberalen Medgyessy- und Gyurcsány-Regierungen ausnutzend Kredite an Hinz und Kunz verteilt, in den Boom-Jahren unmittelbar vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise scheinbar ohne irgendwelche Brems- und Kontrollmechanismen. Da Ungarn praktisch bereits ab 2006 Pleite war, zogen die Sozialisten die Daumenschrauben für die Bevölkerung brutal an. Das geschah lange, bevor IWF und EU Ende 2008 den Rettungskredit über 20 Milliarden Euro erteilten. In jenen Jahren wurden die stabil geglaubten Existenzen mehrerer hunderttausend ungarischer Familien von einem Tag auf den anderen aus ihrer Verankerung gerissen. Es setzte ein Überlebenskampf ein, in dem sich die überschuldeten Familien von einer Monatsrate zur nächsten hangelten.
Zahlen muss immer der kleine Mann
Die Banken wähnten sich indes auf der sicheren Seite: Sie mergelten die Kreditnehmer erst so richtig aus – Langzeitanalysen belegen heute schwarz auf weiß, dass die Kreditinstitute von den ungarischen Kreditnehmern deutlich höhere Rückzahlungen als etwa von den polnischen Kreditnehmern verlangten. Das gilt im Vergleich der Fremdwährungskredite (die in erster Linie in Schweizer Franken und Euro gezeichnet wurden), doch entgegen allen demagogischen Behauptungen der Politik fuhren die Ungarn mit den CHF-Krediten am Ende sogar schlechter, als wären sie jederzeit der heimischen Währung treu geblieben. Das hat freilich bereits etwas damit zu tun, dass der Fidesz nach 2010 mit mehreren Maßnahmen die Banken zur Kasse bat, die heimlich, still und leise so viel wie möglich von ihren Verlusten auf die weiterhin zahlungsfähigen Kunden abwälzten.
Mit der Umstellung der Fremdwährungskredite auf Forint hat Ungarn den Irrweg der vergangenen Jahre Anfang 2015 endgültig verlassen; weil sich der Affront gegen die Banken nicht länger vertreten ließ, die Orbán zur Ankurbelung des Wachstums benötigt, mussten die Schuldner den Umtausch zu einem brutal schwachen Forintkurs schlucken. Das Dilemma mit den Devisen ist also demnächst aus der Welt, die überschuldeten Privathaushalte aber bleiben. Denn die Kosten verfehlter wirtschaftspolitischer Entscheidungen tragen immer die kleinen Leute.
Eine Fülle an Voraussetzungen ist zu erfüllen
Nun besann sich die KDNP auf ihre christlichen Grundwerte und machte sich für die Einführung des Privatkonkurses in Ungarn stark. Das Gesetz wurde in wenigen Monaten zusammengezimmert, denn Eile ist geboten, weil den Banken in einem langjährigen Mechanismus Spielraum für eine steigende Zahl von Zwangsversteigerungen eingeräumt wurde. Mag sein, dass das in Österreich unter Schuldenregulierung, in Deutschland unter Verbraucherinsolvenz firmierende Verfahren allerorts kompliziert ist, der ungarische Gesetzgeber hat jedoch akribisch so viele Rahmenbedingungen vorgegeben, dass am Ende womöglich wieder nur das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird.
Grundsätzlich wird dem disziplinierten Schuldner die Chance gegeben, im Verlaufe des Verfahrens die Möglichkeit zur Restschuldbefreiung zu erlangen. Dazu wird ihm freilich eine Wohlverhaltensphase von 5-7 Jahren abverlangt, im Vergleich zu drei Jahren in Deutschland. Technisch hat sich die KDNP in ihrem Vorschlag, der im Sommer vom Parlament durchgewunken wurde und zum 1. September 2015 im Eiltempo in Kraft trat, ganz offensichtlich an die westeuropäischen Vorbildregelungen angelehnt. Somit startet das Verfahren mit einem außergerichtlichen Einigungsversuch; die gerichtliche Schuldenbereinigung kommt erst in Frage, wenn dieser Versuch scheitern sollte.
Doch damit genug der Gemeinsamkeiten, kommen wir nun zu den Extravaganzen des ungarischen Gesetzgebers.
In der ersten Stufe (bis Oktober 2016) gilt die Neuregelung ausschließlich für Hypothekenkreditnehmer, andere Kreditformen finden also vorläufig keine Berücksichtigung. Auch diese Einschränkung ist in dem Lichte verständlich, dass die Regierung dort mit dem Feuerlöschen beginnt, wo die Flammen am höchsten schlagen. Der Privatkonkurs kann nur von Schuldnern beantragt werden, die bereits dermaßen in Zahlungsrückstand geraten sind, dass ihre Bank das Hypothekendarlehen aufgekündigt hat. Ebenfalls im Gesetz festgehalten ist, dass die Bruttoschuld (einschließlich Zins und Zinseszins) mindestens 2 Mio. Forint, aber höchstens 60 Mio. Forint (also zwischen 6.500 und 195.000 Euro) betragen soll. Die Schulden müssen auf jeden Fall das verwertbare Vermögen übersteigen, dürfen aber auch nicht doppelt so hoch liegen, wie all die dem Hammer anvertrauten Vermögensgegenstände zuzüglich den voraussichtlichen Tilgungsraten aus dem laufenden Einkommen in den nächsten fünf Jahren. Dabei muss mindestens eine Schuld von 500.000 Forint seit wenigsten 90 Tagen überfällig sein.
Vollstreckungen werden fünf Jahre ausgesetzt
Übertrieben streng erscheint auch die zeitliche Beschränkung der Konkursanträge: Wem sein Fremdwährungskredit im Zuge der zu Jahresbeginn verkündeten Konversion bis Ende April auf Forint umgestellt wurde, der muss den Antrag auf Einleitung des Verfahrens unbedingt bis Ende Oktober einreichen. All jene, deren Kreditabrechnung auch derzeit läuft (z. B. weil es sich von vornherein um Forintdarlehen handelte), haben ab Zustellung des Bescheids 60 Tage Zeit. Wer sich Hoffnung auf das Schuldenregulierungsverfahren machen möchte, der muss aber doch zur Begleichung einer Tilgungsrate imstande sein, die 7,8 Prozent des Verkehrswertes der Immobilie zum Zeitpunkt der Kreditausreichung ausmacht. Das wären im Falle einer Immobilie im Wert von 10 Mio. Forint immerhin 65.000 Forint monatlich.
Der Schuldner muss des Weiteren eng mit dem Familieninsolvenzschutzdienst und natürlich mit der Gläubigerbank kooperieren, was neben einer außerordentlich strengen Kontrolle seiner Finanzen auch die Veräußerung einzelner Vermögenswerte aus dem Haushalt nicht ausschließt. Die strenge Durchleuchtung der Familienkasse erlaubt dem Schuldner gerade mal das Anderthalbfache der jeweiligen Mindestaltersrente (von gegenwärtig 28.500 Forint, also nicht einmal 100 Euro) zur freien Verwendung. Im Gegenzug wird der Schuldner für den Zeitraum des Verfahrens, also mindestens fünf Jahre lang, vor Vollstreckungen oder der Zwangsversteigerung seines Heimes bewahrt. Allerdings muss er den angestammten Wohnraum räumen, sollte dieser unangemessen groß sein. Was unangemessen ist, wird erst noch in einer Regierungsverordnung geregelt – jede Menge Details werden sich erst in den Durchführungsbestimmungen klären, von denen nur ein Bruchteil vorliegt.
Wem die Restschuld erlassen wird
Vermutlich bezweckt der Gesetzgeber mit all diesen Fallschlingen, den Ansturm auf die junge Institution in Grenzen zu halten. Der Bankenverband – der die Rechtsnorm im Übrigen als unausgereift und übereilt einstufte – rechnet jedenfalls selbst auf lange Sicht mit maximal 40.000 Privathaushalten, die von der Konstruktion Gebrauch machen könnten.
Wer also 5-7 Jahre dem Schuldenbereinigungsplan streng folgend, brav seine „einvernehmlich“ festgelegten Raten tilgt, der darf am Ende dieser langen Prozedur darauf hoffen, dass ihm die Restschuld erlassen wird. Dieser Erlass bezieht sich auf den Teil über dem kalkulierten Wert der Immobilie, von dem zwei Drittel bis zu 95 Prozent schließlich nicht zurückgezahlt werden müssten. Momentan ist jeder sechste Kredit von Privatpersonen „faul“, die Tendenz zeigt wieder nach oben – die Konvertierung in Forint zu Jahresbeginn sorgte also nur für ein kurzes Aufatmen im Kreis der überschuldeten Haushalte. Zumal die meisten nicht bedienten Kredite keineswegs die viel gescholtenen Fremdwährungskredite waren, sondern Forintkredite zur Autofinanzierung, mit einer Ausfallrate von zuletzt 51 Prozent!
Wem auch der Privatkonkurs nicht helfen kann, dem bleibt die Hoffnung auf den Staat, dessen Nationaler Immobilienverwalter schon nahezu 25.000 Heime zahlungsunfähiger Familien übernommen hat, die fortan zur Miete in ihren enteigneten vier Wänden wohnen dürfen. Wie sehr die Banken auf die neue Institution des Privatkonkurses vertrauen, zeigt ihr Vorschlag, die Zahl der in die Konstruktion des Nationalen Immobilienverwalters einbezogenen Heime auf 50.000 zu verdoppeln.