Ein verhalteneres Wirtschaftswachstum und Staatsschulden auf neuem Rekordniveau geben zu denken, der ungebremste Anstieg bei Reallöhnen und ein Rekordüberschuss der Handelsbilanz lassen weiter hoffen. Was für ein II. Halbjahr beschert uns die ungarische Volkswirtschaft?
Auch in der Sommerpause kam die ungarische Wirtschaft nicht zum Stillstand: Das Zentralamt für Statistik (KSH) meldete für das II. Quartal ein Wachstum von 2,7 Prozent. Die Erwartungen enttäuschte diese Zahl, hatte die Wirtschaft doch zu Jahresanfang mit einem auf 3,5 Prozent beschleunigten Wachstum verblüffen können. Im Durchschnitt des I. Halbjahres kam so ein BIP-Zuwachs von 3,1 Prozent zustande. Den versuchte die Regierung in ein positives Licht zu rücken, denn die für das Gesamtjahr erhofften drei Prozent sind nicht unrealistisch, sofern es sich nur um einen „Ausrutscher“ und nicht um eine Trendwende handelt.
Hoch aufgelegte Messlatte
Dafür spricht aber Einiges, wie an erster Stelle die hohe Basis, denn im Vorjahr wuchs die Wirtschaft im II. Quartal gar um 4,1 Prozent. Das ist der stärkste Quartalswert überhaupt, den die neuartige Wirtschaftspolitik der Orbán-Regierung in fünf Jahren generieren konnte. Diese Messlatte war 2015 aber zu hoch aufgelegt. Den zweiten Grund benannte das KSH: Die Landwirtschaft habe nicht an die Leistung vom Vorjahr anknüpfen können. Da die Ernteerträge noch nicht endgültig vorliegen, handelt es sich hierbei vorläufig nur um eine grobe Schätzung der Statistiker. Fatal ist jedoch, dass Ungarns Konjunktur – selbst wenn sie nicht vom Agrarsektor abhängt – allein witterungsbedingt mal nach oben, mal nach unten ausschlägt. So steuerten die Landwirte im Jahr 2014 mit Rekorderträgen im Sommerquartal ein Achtel und im Herbst sogar über ein Fünftel zum Bruttoinlandsprodukt bei. Ein Jahr zuvor, als die Industrie mal wieder eine Talsohle durchschritt, durfte gar die Hälfte des BIP-Zuwachses auf das Konto der Landwirtschaft geschrieben werden. Umgekehrt zog der Agrarsektor des ungarische Inlandsprodukt 2012 allein in den Keller und löschte dabei selbst den positiven Beitrag des Dienstleistungssektors aus.
Fahrzeugbau verschiebt die Strukturen
Dass sich 2012 in 2015 nicht wiederholt, haben wir in erster Linie der Industrie zu verdanken. Diese steigerte ihren Ausstoß im I. Halbjahr um 7,3 Prozent, mit einem Plus von 9,4 Prozent auf den Außenmärkten, im Vergleich zu 3,3 Prozent beim Inlandsabsatz. Der Auftragsbestand lag im Juni um ein Zehntel über dem Vorjahreswert. Die Industrie als nach wie vor wichtigster Wachstumsträger Ungarns stellte im I. Halbjahr nahezu 3 Prozent mehr Mitarbeiter ein, mit denen ein Produktivitätszuwachs von 4,5 Prozent gelang. Innerhalb der Industrie nimmt der Fahrzeugbau mit knapp 30 Prozent heutzutage eine dominante Stellung ein, dessen ebenfalls 30 Prozent erreichende Dynamik die Strukturen im verarbeitenden Gewerbe weiter verschieben wird. Im I. Quartal steigerte das verarbeitende Gewerbe seine Wertschöpfung um 8 Prozent (!), gemessen an 2,3 Prozent des Dienstleistungssektors. Die entsprechenden Angaben für das II. Quartal wird das KSH Anfang September vorstellen. Vielleicht sorgt dann innerhalb des breit gefächerten Spektrums der Dienstleistungen die Immobilienbranche für eine positive Überraschung, als neue Wachstumslokomotive neben Handel und Gastgewerbe.
Das Baugewerbe ist verständlicherweise weit vom Boom des Vorjahres entfernt, als der Staat öffentliche Aufträge am Fließband vergab. Weil dieser Geldregen nun sukzessive versiegt, darf jeder Monat mit zweistelligen Zuwachsraten als Erfolg gefeiert werden. Denn längst ziehen dicke Wolken auf: Saisonal und nach Arbeitstagen bereinigt ging es in zwei der ersten sechs Monate dieses Jahres bereits bergab, der Auftragseingang fiel im Juni um ein Zehntel zurück, das Auftragsvolumen in den Büchern liegt beinahe um die Hälfte niedriger als Mitte 2014. Der Juni war aber auch der erste Monat dieses Jahres, in dem das Volumen der Bauproduktion über 200 Mrd. Forint anstieg. Im Gesamtjahr 2014 erwirtschaftete das Bauwesen zu laufenden Preisen 2.050 Milliarden Forint (6,7 Milliarden Euro), mit 4-5 Prozent mehr wären wir Ende 2015 wahrscheinlich sehr glücklich.
Sensationeller Handelsüberschuss, beunruhigende Schuldenlage
Die Industrie bildet das Rückgrat der ungarischen Exporte, so dass sich ihr anhaltender Boom logischerweise in der Handelsbilanz niederschlägt. Die im April mit rund 500 Millionen Euro den bescheidensten Monatsüberschuss generierte und nach dem I. Halbjahr mit einem nie erlebten Saldo von +4,3 Milliarden Euro dasteht. Bei Gesamtausfuhren von 45 Milliarden Euro sind das 1,1 Milliarden Euro mehr, als Mitte 2014 zu Buche schlugen. Ungarn braucht solche Überschüsse, um seine Außenposition zu verbessern.
Denn die Staatsschulden sind immer noch enorm; Ende Juni waren sie laut aktuellen Angaben der Ungarischen Nationalbank (MNB) wieder bei 80 Prozent angelangt. Es wäre allerdings etwas oberflächlich behauptet, das Vermögen der privaten Pensionskassen von rund 3.000 Milliarden Forint sei im Schmelztiegel des internationalen Schuldendienstes wirkungslos verbrannt worden. Tatsache ist, dass die konsolidierten Maastricht-Schulden des ungarischen Staates zur Jahresmitte 25.880 Milliarden Forint (83 Milliarden Euro) ausmachten, den nominal höchsten Betrag aller Zeiten. Angesichts solcher Zahlen stellt sich unweigerlich die Frage, wie ernst die Priorität des Schuldenabbaus der Orbán-Regierung wirklich ist, wenn sie in diesem kritischen Umfeld mal kurz 700 Millionen Dollar für den Kauf der Budapest Bank über den Tisch reicht. Die Nettoposition des Staatshaushaltes erschüttert eine derartige Transaktion natürlich nicht, reihen sich die Aktien des Kreditinstituts ja unter die Vermögenswerte ein.
Die Nettoverschuldung war seit Mitte 2010 rasant von ca. 60 auf knapp 75 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angestiegen, zeigt jedoch seit Mitte des vorigen Jahres einen stetigen Abwärtstrend: Zur Jahresmitte ergab sich mit 23.130 Milliarden Forint ein Schuldenstand von 71,2 Prozent am BIP. Dass die Maastricht-Schulden am Jahresende wie ursprünglich geplant bei 76 Prozent stehen werden, hoffen Regierung und Notenbank deshalb, weil sie weiter auf ein Wachstum von drei Prozent, einen stärkeren Forint, die wiederkehrende Inflation und darauf vertrauen, dass dieses Kunststück im Vorjahr eindrucksvoll gelang – da wurden zur Jahresmitte die Alarmglocken bei 82,7 Prozent geläutet, während dann am Jahresende ein Wert von 76,9 Prozent erreicht werden konnte.
Staatsanleihen zum Butterbrot
Für den Optimismus gibt es zwei weitere Beweggründe: den neuerdings sparsamen Staat und eine Bevölkerung, die mit dem umverteilten Geld Handel und Finanzmarkt gleichermaßen beglückt. Der Staat konnte seine Schuldenaufnahme zuletzt auf ein Prozent am BIP beschränken und seinen Appetit somit binnen eines Jahres auf ein Drittel zügeln. Derweil stieg die Nettofinanzierungsposition der Privathaushalte auf 7,7 Prozent am BIP oder 2.500 Milliarden Forint an. Die Bevölkerung hilft mit dem aktiven Kauf von Staatsanleihen, den Devisenanteil an den Staatsschulden um jährlich 2-3 Prozentpunkte zu verringern. Die Zentrale zur Verwaltung der Auslandsschulden (ÁKK) hält es durchaus für machbar, dass sich der ungarische Staat in zwei Jahrzehnten komplett vom Forintmarkt finanziert.
Seit Mitte 2013, also seit nunmehr zwei Jahren, hält zudem der Trend steigender Einzelhandelsumsätze an. Im Vorjahr legte das Handelsvolumen um gut 5 Prozent zu, im I. Halbjahr 2015 beschleunigte sich der Aufwärtstrend auf 6 Prozent. Genährt werden solche Zahlen durch einen soliden Anstieg der Reallöhne, der im I. Halbjahr 3,5 Prozent erreichte. Ein ungarischer Vollzeitbeschäftigter verdiente zwischen Januar und Juni durchschnittlich 243.000 Forint (785 Euro) bzw. brachte knapp 160.000 Forint (515 Euro) mit nach Hause. Bei unterm Strich stagnierenden Lebenshaltungskosten kann jede Familie monatlich ein, zwei Zehntausender mehr ausgeben oder endlich einmal auf die hohe Kante legen.
Die Regierung verkündet selbstbewusst, „die Reformen funktionieren“. Ob die positiven Entwicklungen dauerhaft die Oberhand erlangen, muss sich erst noch zeigen.