Für Künstler nach dem Studium zählt vor allem eins: Erfahrung sammeln und Netzwerke aufbauen – am besten international. Deshalb streben viele junge Kunstschaffende einen Atelieraufenthalt im Ausland an. So können sie in der Gegenwart von Künstlern anderer Kulturräume neue Impulse erhalten, sich gegenseitig austauschen und anregen. Timo Herbst hat im Rahmen eines Aufenthaltsstipendiums vier Monate in den Ateliers des Art Quarter Budapest verbracht. Im Interview berichtet der 32-Jährige über seine Erfahrungen in der ungarischen Hauptstadt, seine künstlerische Arbeit und die interessantesten Galerien der Stadt.
Wir treffen Herbst in einem gemütlichen Budapester Straßencafé mit Blick auf die Donau. Zu diesem Zeitpunkt hat der junge Künstler, der freundschaftlich das „Du“ anbietet, seinen Atelieraufenthalt in der Donaumetropole bereits seit mehr als einem Monat beendet. Abgeschlossen hat er mit Budapest aber noch lange nicht. Immer wieder zieht es ihn in die Stadt zurück, in der er in nur vier kurzen Monaten so viel Erfahrung sammeln, Kontakte knüpfen und Freundschaften schließen konnte. Für wenige Tage befindet er sich auch Anfang August wieder in der ungarischen Hauptstadt. „Für eine Einzelausstellung in der Budaer Dachgalerie ENA Viewing Space“, wie Herbst erläutert. Über einer Limonade erzählt er, wie es dazu kam, dass er für vier Monate Schulter an Schulter neben ungarischen Künstlerkollegen im Atelier arbeiten konnte.
BZ: Was hat Dich nach Budapest gebracht?
Das war mehr ein Zufall. Ich hatte schon immer gehört, dass Budapest ganz toll sein soll, aber ich war nie hier. Bis ein Freund von mir für ein Stipendium an der Central European University nach Budapest gekommen ist und mich eingeladen hat, ein bisschen Zeit mit ihm dort zu verbringen. Ich bin dann auf das Art Quarter Budapest (AQB) gestoßen und habe mich direkt um eine Residency beworben.
Was versteht man unter einer „Residency“? Wie läuft so etwas ab?
Im Deutschen würde man vielleicht Aufenthaltsstipendium sagen, aber unter jungen Künstlern ist das englische Wort „Residency“ mehr verbreitet. Im Grunde genommen bedeutet es, dass man in einer fremden Umgebung in ein Atelier einzieht, um dort zu arbeiten und sich mit anderen Künstlern auszutauschen. Doch es gibt verschiedene Formate bei diesen Programmen: Es gibt Residencies, bei denen man Geld bekommt. Oft erhält man aber nur eine Wohnung und ein Atelier. Auch die Art der finanziellen Unterstützung variiert: Wenn man es besonders gut trifft, werden Reisekosten und eine monatliche Unterstützung für Material und Lebenshaltungskosten gezahlt. In der Regel stellt man als Gegenleistung für das Stipendium entweder Präsentationen oder am Ende eine Ausstellung zusammen. Einige Stipendien erwarten auch von einem, dass man an bestimmten Projekten arbeitet, zu denen man zuvor eine detaillierte Projektbeschreibung einreicht. Da ich meinen Aufenthalt in Budapest sehr kurzfristig organisiert habe, habe ich mich nicht auf finanzielle Unterstützung, sondern nur für einen Atelierplatz beworben.
Wie viel Zeit hast Du in Budapest verbracht?
Ich war zuerst im Dezember 2014 für nur einen Monat hier. Budapest ist nicht meine erste Erfahrung mit Residencies: Bereits im letzten Sommer war ich drei Monate in einem Atelier in Cuxhaven in Niedersachsen und einen weiteren selbstorganisierten Arbeitsaufenthalt habe ich in den Vereinigten Staaten an der Cornell University, Ithaca verbracht. Deshalb habe ich mir bei Budapest gedacht: „Ich schau mir das mal an und wenn es mir gefällt bleibe ich länger.“ Offensichtlich hat es mir gut gefallen, denn ich bin ein zweites Mal zwischen April und Juni für insgesamt drei Monate hergekommen. Ich hatte mich zwar um ein Atelier beworben, wollte mir aber am liebsten ein Atelier mit lokalen Künstlern teilen. Daher war ich sehr glücklich, dass Zsuzsa Richter und János Brückner vom AQB eine Ecke in ihrem Atelier frei hatten und ich mich dazugesellen durfte. So hatte ich von Anfang an viel Austausch mit den ungarischen Kollegen. Außerdem konnte ich mir dadurch eine besondere zeitliche Flexibilität erlauben, die ich nicht gehabt hätte, hätte ich ein ganzes Atelier für mich beansprucht.
Kommt es häufig vor, dass ausländische Künstler spontan in ein Atelier im AQB einziehen?
Das AQB bietet ganz offiziell diese Möglichkeit an. Sogar eine Beschreibung des Bewerbungsablaufs in deutscher Sprache findet sich auf ihrer Webseite. Hier kann man sich als Künstler jederzeit um einen Atelieraufenthalt bewerben, muss dann die finanziellen Mittel aber selbst aufbringen oder sich auf Mittel anderer Institutionen, wie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst e. V. (DAAD) oder dem Visegrád Fonds bewerben. Oft gibt es aber auch eigene Ausschreibungen des AQB für Stipendien mit finanzieller Unterstützung, sogenannte „Open Calls“.
Wie wird man als junger Künstler auf solche „Open Calls“ aufmerksam?
Es gibt da ganz unterschiedliche Wege. Zum Beispiel gibt es die Internetplattform www.works.io, auf der nicht nur zahlreiche Künstler ihr künstlerisches Portfolio präsentieren, sondern auch viele dieser Ausschreibungen veröffentlicht werden. Auch das ungarische AQB ist eine der Institutionen, die damit verknüpft sind.
Woran hast Du während deiner Zeit in Budapest gearbeitet?
Ich arbeite viel mit Rekonstruktionen von Bewegungen in der Zeichnung. Daher habe ich in meinem ersten Monat in Budapest auch fast nur gezeichnet. Zu dieser Zeit habe ich an einer relativ großen Grafik gearbeitet, die die Gesten körperlicher Auseinandersetzungen bei Demonstrationen, also im öffentlichen Raum, nachvollzieht. Es handelt sich vor allem um Kampfgestiken. Dafür studiere ich oft Bilder von Demonstrationen in den Medien. Aber ich konzentriere mich nicht nur auf eine Protestbewegung in einem bestimmten Land, sondern sammleMaterial aus vielen Ländern von Ägypten über England, Deutschland und Russland bis Spanien. Als im Dezember in Budapest vermehrt große
Demonstrationen stattfanden, war das daher auch besonders interessant für mich. Zwar spreche ich kein Ungarisch, aber es war trotzdem spannend zu sehen, welche Dynamiken ablaufen und welche Atmosphäre herrscht.
Daneben habe ich auch an einer Serie unter dem Titel „Fragile Hands“, die ich bereits früher begonnen hatte, in Budapest weitergearbeitet. Dabei stelle ich alltägliche Handgestiken in Kontrast zu Gruppenformationen. Es geht mir darum zu zeigen wie sich Signale in einer zwischenmenschlichen Geste konstituieren und dass dies auch bei Gruppenformationen, die sich im öffentlichen Raum formulieren, zu beobachten ist. Dies äußert sich zum Beispiel in der Art, wie sie den Raum einnehmen, sich aufteilen oder etwas abschirmen. Oft stelle ich diese Mikro- und Makroperspektiven zwischenmenschlicher Gesten in meinen Werken gegenüber.
Gerade stellst Du unter dem Titel „Move What Moves You“ Zeichnungen wie diese aber auch eine Installation im Budaer ENA Viewing Space aus. Worum geht es in der Ausstellung?
Bei den Zeichnungen, die gerade im ENA Viewing Space (weitere Informationen unterwww.enaviewingspace.com) hängen, handelt es sich hauptsächlich um die Darstellung alltäglicher Gesten. Diese habe ich mit Textfragmenten kombiniert, die oft aus unterschiedlichen Ressourcen wie philosophischen oder politischen Büchern stammen. Manche sind auch mit Texten von mir oder mit Zitaten berühmter Persönlichkeiten versehen. Beispielsweise verwende ich in einem der Werke ein Zitat des berühmten französischen Malers Marcel Duchamp über den persönlichen Koeffizienten, also der Beziehung zwischen dem Unausgedrückten-aber-Beabsichtigten und dem Unabsichtlich-Ausgedrückten.
Es geht immer darum, dass wir versuchen aus Gesten, die wir wahrnehmen, Sinn zu generieren. Allerdings gibt es stets mehrere Bedeutungen, die wir aber nie gleichzeitig interpretieren können. Diese Unklarheit steckt auch in den von mir zitierten intellektuellen Argumentationen, den philosophischen Theorien und politischen Ansichten. Die Bilder versuchen hier eine Analogie herzustellen von der Unbestimmtheit der Geste zur Unbestimmtheit des Textes. Die Zeichnungen nähern sich so aus ganz verschiedenen Richtungen dem immer selben Problem an: Wie kann man etwas wie Gesten überhaupt erfassen, ohne es statisch zu machen?
Einen Teil der Ausstellung macht eine Installation aus, die aus einem Foto, einer mit Zeichnungen versehenen Bauzaunlatte und einem großformatigen Druck besteht.
Die Installation ist während meiner Zeit im AQB entstanden. Ich bin oft durch die Stadt gelaufen und dabei sind mir die zahlreichen Baustellen aufgefallen. Die ausgestellte Bauzaunlatte stammt ursprünglich von einer Baustelle am Clark Adam tér. Im Gegensatz zu den meisten Werken der Ausstellung, bei denen es sich um gerahmte Zeichnungen handelt, habe ich hier einen Materialwechsel vollzogen und angefangen, auf Holz zu arbeiten. Die Bewegungen und Gesten die auf der Latte zu sehen sind, sind zwar auf Papier gezeichnet. Dieses wurde aber mit Acrylbinder auf das Holz aufgezogen.
Nachdem ich die Latte fertiggestellt hatte, bin ich mit ihr durch die Stadt gezogen und habe sie in unterschiedlichen Konstellationen zurückgestellt. Entweder wieder in eine Baustelle oder an Häuserwände gelehnt. Währenddessen haben wir alles mit Fotos dokumentiert. Eigentlich hatte ich sogar vor, sie dem Löwen an der Kettenbrücke ins Maul zu stecken. Aus der entstandenen Fotoreihe ist ein Foto in der Ausstellung zu sehen. Bei dem zur Installation gehörigen Print handelt es sich um einen potenzierten Ausschnitt aus einer Zeichnung, die ich bereits früher angefertigt hatte und eine Gruppenformation bei einer Demonstration zeigt. Hier hole ich den Kontrast zwischen Mikro- und Makrokosmos in den Ausstellungsraum zurück.
Während deiner Zeit in Budapest hattest Du Gelegenheit, die vielfältige Kunstszene der Stadt besser kennenzulernen. Welche Tipps würdest Du Kunstinteressierten geben, die die Hauptstadt besuchen?
Ich würde schon empfehlen in die Kunsthalle am Heldenplatz (Informationen zu Ausstellungen unter www.mucsarnok.hu) zu gehen. Die Ausstellungen dort waren sehr interessant kuratiert und zeigen viele moderne und jüngere Künstler. Im Gegensatz zum Museum Ludwig, dass man zwar auch gesehen haben muss, das aber nicht die Erwartungen erfüllen kann, die man an ein Museum Ludwig hat. Positiv überrascht war ich von der Ungarischen Nationalgalerie im Burgpalast (www.mng.hu). Oft heißt es, dass dort nur verstaubte, alte Gemälde ausgestellt werden. Doch als ich da war, gab es eine sehr interessante Ausstellung „Turning Points“, die geschichtliche Wendepunkte aus der Perspektive von künstlerischen Arbeiten betrachtet hat. Natürlich gibt es in Budapest wie auch in anderen Städten immer wieder temporär neue Orte und besondere Veranstaltungen. Während meiner Zeit in Budapest hatte ich das Glück, dass gerade das alternative Budapester Kunstfestival, die OFF-Biennalé (www.offbiennale.hu) stattfand. Im Rahmen derer habe ich viele tolle Galerien und Ausstellungen gesehen. Ich kann jedem absolut anraten die OFF-Biennalé zu besuchen, wenn sie im nächsten Jahr wieder stattfindet.
Natürlich kann ich auch den Ausstellungsraum im AQB empfehlen (Informationen zu Ausstellungen unter www.aqb.hu). Weitere Museen und Galerien, die mich sehr beeindruckt haben, sind die Kunstgalerie Trapéz im V. Bezirk (www.trpz.hu), das Capa Zentrum für Zeitgenössische Fotografie (www.capacenter.hu) aber auch das Vasarely Museum in Óbuda (www.vasarely.hu). Im Zusammenhang mit dem AQB ist ebenfalls die Galerie für Zeitgenössische Kunst Chimera-Project (www.chimera-project.com) am Klauzál tér im Herzen des jüdischen Viertels sehr empfehlenswert. Nicht sehr weit davon entfernt auf der Király utca, ist auch die Acb Gallery (www.acbgaleria.hu) immer einen Besuch wert.
Welche Pläne hast Du für die Zukunft?
Ich habe gerade die Zusage bekommen, dass ich die Ausschreibung für ein Aufenthaltsstipendium des Goethe Instituts gewonnen habe. In ein paar Monaten werde ich daher in die Villa Kamogawa des Goethe Instituts in Kyoto, Japan ziehen. Bis dahin führe ich mein Meisterschülerstudium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig fort.
Das Interview führte Katrin Holtz
Timo Herbst (geb. 1982 in Flensburg)
Bis 2016 Meisterschüler an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
2013/14 Gast an der Universität der Künste Berlin
2010-2013 Diplom mit Auszeichnung in Malerei, Grafik an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
2006-2010 Hochschule für Künste Bremen
Verfolgen Sie die künstlerischen Arbeiten von Timo Herbst unter www.timoherbst.org