Wer dieser Tage den Budapester Ost- oder Westbahnhof betritt, dem bietet sich ein erschreckendes Bild. Menschen campieren auf Treppen und Bänken, Kinder schlafen auf ausgebreiteten Decken. Erschreckend sind nicht die Menschen, die dort campieren, sondern die Zustände, die der ungarische Staat schlicht nicht handhaben kann.
„Der Grenzzaun ist alternativlos“, sagte Regierungssprecher Zoltán Kovács, da man der Flut an illegalen Einwanderern nicht anders Herr werden könne. Vielmehr sollte der Grenzzaun dabei helfen, den illegalen Flüchtlingsstrom zu verhindern. „Ungarn war immer offen für Flüchtlinge“, sagt Kovács, aber wie sieht diese Offenheit im Alltag aus?
Es ist heiß in Südungarn an diesem Tag, mehr als 35 Grad sind es im Schatten. Polizisten, abgestellt um die Testversion des Zauns zu bewachen, beäugen Journalisten missmutig, die kommen, um die vorläufige Sicherung zur serbischen Grenze selbst in Augenschein zu nehmen. Auf die Frage, wo hier Fotos gemacht werden dürfen, rufen sie ihren Vorgesetzten herbei. „Es wäre gut, wenn Polizisten nur von hinten auf dem Bild wären“, erklärt er, wesentlich weniger angespannt als seine zwei Kollegen. Was er zum Zaun sage, fragen wir. Mit einem Lächeln sagt er: „Ganz ehrlich, ich hätte mehr erwartet. Ich meine, so viel Wirbel wie darum gemacht wird.“ Aber eigentlich darf er nichts sagen. Nichts sagen ist auch das Leitmotiv der Anwohner rund um Mórahalom, der kleinen Ortschaft neben der serbischen Grenze. Der Versuch, ein junges Pärchen während der Feldarbeit zu befragen, scheitert schnell: „Ich will dazu nichts sagen, weil ich nur Schlechtes sagen könnte“, wimmelt der junge Mann ab. Die nächste Landarbeiterin ist etwas älter und auch etwas gesprächiger, aber auch sie will nicht wirklich etwas zu der Flüchtlingssituation sagen: „Ich sehe sie ja auch nicht, ich sehe immer nur ihre Spuren hier auf dem Feld.“ Es ist Erntezeit, aber auf ihrem Feld sei nichts gestohlen worden. „Sie wollen doch nur so schnell wie möglich weiter nach Deutschland, England oder Holland.“
Auch Tamás Várkonyi von der Grenzpolizei im Komitát Csongrád bestätigt, dass mit dem Anstieg der Zahl der Migranten die Kriminalitätsrate keineswegs in die Höhe geschnellt ist: „In Anbetracht dessen, von wie vielen Menschen wir reden, ist die Zahl der Straftaten verschwindend gering.“ Ein gestohlenes Fahrrad, von viel mehr wüsste er nicht zu berichten. Und trotzdem fühlen sich viele Menschen gerade in der Grenzregion nicht sicher. Zsuzsa Szelényi, Abgeordnete der linksliberalen Partei Együtt 2014, sagt, viele Bürger hätten trotzdem ein diffuses Angstgefühl. Regelmäßig gingen bei Stadtverwaltungen und Polizei Meldungen ein, für die es jedoch keine Anhaltspunkte gibt, denn „es gibt keinerlei Aggressionen gegen die Bürger vor Ort“.
Zivile Initiativen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten
Trotzdem versuchen rechtsextreme Gruppierungen sich als selbsternannte Grenzschützer zu profilieren. Auf der zwischenzeitlich verbotenen Facebook-Seite Ultras Liberi, die sich vornehmlich an Fußball-Hooligans wendet, wurde vor etwa zwei Wochen ein Bild veröffentlicht; 15 junge Männer, alle kahlgeschoren und muskelbepackt, die laut Bildunterschrift an der Grenze patrouillieren und nach illegalen Migranten Ausschau halten. Während sich die Ultras Liberi-Seite selbst mit Kommentaren zurück hielt, waren es vor allem User, die keinen Zweifel an ihrer politischen Gesinnung ließen: „Wir sollten nicht demonstrieren, sondern die Sicherheitskräfte des Landes an die Grenze schicken, sie mit Waffen und Munition versehen, um unser Land vor der Besetzung zu schützen, denn genau das läuft gerade hier!“ Noch offensichtlicher wurde die Facebook-Gruppe „Einsatztruppe zur Migrantenjagd“. Maskierte, bewaffnete Männer als Titelbild und zahlreiche Einträge, wer wann Zeit hätte, um „auf die Jagd zu gehen“, zeigen, wie weit die ungarische Rechte bereit ist zu gehen. Ob diese Personen nur „Sesselrevolutionäre“ sind, die ihren politischen Aktionismus auf soziale Netzwerke beschränken, oder tatsächlich auf den grenznahen Straßen unterwegs sind, ist nicht bekannt. Grenzpolizist Várkonyi hatte bisher jedoch keinerlei Kontakt mit solchen Gruppierungen. Man arbeite zwar mit Bürgerwehren zusammen, diese seien jedoch legal tätig und mit einem Kooperationsvertrag mit der Polizei versehen. „Alles, was sich sonst Bürgerwehr nennt, ist illegal“ stellt er klar.
Busse bringen immer neue Flüchtlinge
Nur wenige Straßen von Várkonyis Büro entfernt am Szegediner Bahnhof zeigt sich eine ganz andere Seite der Zivilgesellschaft. Hier helfen seit mehreren Wochen Freiwillige den Flüchtlingen. Szeged ist ein Knotenpunkt für die Flüchtlinge, weil fast alle der an den südlichen Landesgrenzen aufgegriffenen Migranten über Szeged weiterreisen, entweder in die ihnen zugeordneten Lager wie Debrecen oder Bicske, oder auf illegalem Wege weiter Richtung Westen. Hier haben sich die Freiwilligen um Márk Kékesi der Gruppe MigSzol mittlerweile so gut organisiert, dass die kleine Holzbude 24 Stunden am Tag besetzt ist. Hier werden Nahrungsmittel, Getränke, aber auch Hygieneartikel, Kleidung, Taschen und Spielsachen für die Kinder verteilt. Alles unter freiem Himmel, denn ins Bahnhofsgebäude dürfen sie nicht, Hilfe können sie nur auf dem Vorplatz leisten. Tagein-tagaus fahren die Busse aus Röszke, einem Auffanglager, ein und bringen immer neue Flüchtlinge. Allein in der Nacht von Samstag auf Sonntag vergangener Woche zwischen nachts um 1 und halb 4 wurden mehr als 200 Menschen nach Szeged zum Bahnhof gebracht. Menschen, die durch ein freundliches Wort, eine nette Geste zu Tränen gerührt sind, aber ebenso Menschen, die von Angehörigen anderer ethnischer Gruppen durch ein falsches Wort zur Weißglut gebracht werden können. Oftmals ist es vor allem die Erschöpfung und das Gefühl der permanenten Angst, die zu solchen extremen Gefühlsausbrüchen führen. Die Freiwilligen der MigSzol sehen vor allem darin ihre Aufgabe, den Ankommenden zumindest zeitweilig ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Márk Kékesi ist von Beginn an dabei und weiß um die dringendsten Probleme der Flüchtlinge: „Diese Menschen sind vor dem Krieg geflohen, haben auf ihrer Flucht oft Raub und Gewalt erlebt. Wenn sie bei uns ankommen, erleben sie oft seit Monaten das erste Mal, dass sie sich in Sicherheit schlafen legen können.“ Geschlafen wird in Szeged in einer Nische des Bahnhofsvorplatzes. Am Abend werden Isomatten, Schlafsäcke und Decken verteilt. Generell passiert in Szeged am Bahnhof Flüchtlingshilfe ausschließlich unter freiem Himmel: Neuankömmlinge waschen sich an zwei bereitgestellten Waschbecken, Männer rasieren sich, Freiwillige verteilen Zahnbürsten und Seife. Auch eine Babybadewanne steht bereit und wird viel genutzt. Unter anderem von Syria und ihrer Familie. Syria ist das wohl jüngste Flüchtlingskind, denn sie kam Ende vergangener Woche in Szeged zur Welt. Ihre Mutter hatte sich hochschwanger gemeinsam mit ihrem Mann und ihren vier Kindern auf den Weg gemacht und will nun von Szeged aus weiter Richtung Westen.
Hoffnung auf besseres Leben
Nach Westen möchten auch Ali und Parwana. Ali ist 14 Jahre alt, er und seine ebenfalls minderjährigen drei Begleiter haben es bisher unentdeckt über die Grenze geschafft. Sie wollen unentdeckt bleiben, aber die Kraft zum Verstecken fehlt, so machen sie Halt am Wegrand zwischen Grenze und Röszke. Ali weiß, wenn seine Fingerabdrücke genommen werden, kann er nicht Richtung Westen weiterziehen, entscheidet doch Ungarn als Erstaufnahmeland über seinen Asylantrag. Seit mehr als einem Monat ist er unterwegs, seine Familie hat er irgendwo in der Türkei verloren, seitdem ist er mit der Gruppe aus Jugendlichen unterwegs. Sein Englisch ist überraschend gut für einen Mittelschüler, er sagt, er ist aus Afghanistan geflüchtet, weil er Abitur machen möchte und studieren will.
Ähnlich geht es auch Parwana. Die junge Frau und ihr Bruder scheinen kurzzeitig zu vergessen, wo sie sind und sind ganz Gastgeber auf den Bänken vor dem Bahnhof. Mit Gesten und einem einladenden Lächeln bietet Parwanas Bruder Mohamadreza einen Sitzplatz und Wasser an. Er selbst überlässt lieber seiner Schwester das Wort. Die junge Muslimin spricht fließend Englisch, wohl eine Grundvoraussetzung, schließlich hat sie einen Abschluss in Computer Software Engineering. Gemeinsam mit ihrer Familie machte sie sich vor etwa einem Monat auf den Weg in der Hoffnung auf ein anderes, ein besseres Leben: „Im Iran haben wir als Mitglieder der afghanischen Minderheit keine Möglichkeit, unsere Träume zu verwirklichen, unsere Menschenrechte auszuleben.“ Nach dem Weg gefragt, antwortet Parwana lediglich „er hatte seine Schwierigkeiten und Härten“. Sie klagt nicht, sie ist optimistisch: „Ich kann mir einfach keinen negativen Ausgang unserer Reise vorstellen. Aber egal, wo wir sind, wir können erfolgreich sein. Wir wollen unsere Kinder später bestmöglich großziehen, mit den besten Möglichkeiten.“