„Auf einer Sitzung fragten wir Viktor Orbán, wen er von uns am liebsten möge”, erzählt ein ehemaliges Präsidiumsmitglied der Regierungspartei Fidesz. „Er nannte zwei Namen. Einer der beiden war Misi Varga (Misi ist die Koseform von Mihály; Anm.). Wir fragten ihn daraufhin, warum? Weil sie nicht plappern, lautete die Antwort. Orbán mag Soldaten. Er sagt: Diejenigen, die eine Waffe tragen, verhalten sich diszipliniert.”
Mihály Várga ist beileibe keine soldatische Erscheinung. Er sieht heute genauso aus wie vor 25 Jahren, als er als Abgeordneter ins erste frei gewählte Parlament einzog (1990). Als seine männlichen Parteifreunde beim Fidesz anfangs noch kurze Hosen und Ohrringe trugen, war er schon in Anzug und Krawatte gekleidet. Sein Habitus entspricht seiner äußeren Erscheinung: Niemand hat von ihm jemals schrille, scharfe Töne gehört, nicht einmal auf dem Parlamentsflur.
Varga war aber einst wirklich Soldat. Nachdem er in der ostungarischen Stadt Karcag am Gábor-Áron-Gymnasium das Abitur abgelegt hatte, wurde er an der Wirtschaftsuniversität Budapest (Közgáz) aufgenommen. Zuvor musste er allerdings seinen Militärdienst in der westungarischen Stadt Szombathely leisten. Der heutige Wirtschaftsminister erlangte sein Universitätsdiplom im Jahr 1989, ein Jahr zuvor war er der im selben Jahr gegründeten Partei Fidesz beigetreten.
Varga pflegte von Anfang an gute Beziehungen zum Ehepaar Orbán
Mihály Varga war einer der Mitbegründer der ersten Fidesz-Parteiorganisation im Komitat Szolnok. In Fidesz-Kreisen heißt es, dass er seinerzeit sein gutes Verhältnis zu Premier Viktor Orbán begründet habe, hätte er doch enge Beziehungen zu den Fidesz-Urgesteinen in der Komitatshauptstadt Szolnok, darunter Anikó Lévai, die heutige Ehefrau Orbáns, gepflegt. Noch dazu lebte Orbán zwei Jahre lang (1987-1989) in der Geburtsstadt seiner Frau.
Die ehemalige Fidesz-Abgeordnete Klára Ungár beschreibt den Varga von Anfang der 1990er Jahre als „bescheidenen, zurückhaltenden, fleißigen und wissbegierigen jungen Mann“. Ungár sagt allerdings auch, dass Varga sich „jahrelang“ bei keiner einzigen Fraktionssitzung zu Wort gemeldet habe. In privaten Gesprächen sei er stets ehrerbietig und respektvoll mit ihr umgegangen. „Vermutlich ist er in seiner Familie dazu erzogen worden, den Frauen die notwendige Achtung entgegenzubringen“, sagt Ungár heute.
Nach dem Ausscheiden von Ungár aus dem Fidesz im Jahr 1993 stieg Varga bald zum führenden Wirtschaftspolitiker der heutigen Regierungspartei auf. Varga hatte diese Position ungeachtet der Tatsache inne, dass er in den ersten beiden Orbán-Regierungen (1998-2002, 2010-2014) stets nur Nachfolger der damaligen Wirtschafts- beziehungsweise Finanzminister war – zuerst von Zsigmond Járai, dann von György Matolcsy. Das sei in beiden Fällen von Vorherein so geplant gewesen, sagte er in einem Interview.
Verhältnis der Regierung zu den Banken vorübergehend in Ordnung gebracht
Und welche Qualität hat Mihály Varga als Ökonom? Für die Außenwelt gilt er als kompetenter, nüchterner Fachmann. Dies wurde auch zu jenem Zeitpunkt so gesehen, als György Matolcsy an die Spitze der Notenbank gehievt wurde und er sein Nachfolger im Wirtschaftsministerium wurde (2013). Varga schloss seither ein Kooperationsabkommen mit der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) – im Gegenzug erwarb der Staat Anteile an der ungarischen Erste Bank. Darüber hinaus wurde in Ungarn die Kreditvergabe angekurbelt und von Varga das Versprechen abgegeben, die Bürden für die Banken zu minimieren. Dem Wirtschaftsminister gelang es so, nach Jahren des „Kalten Krieges“ das Verhältnis der Regierung zur Bankenvereinigung zu verbessern.
Der Quaestor-Affäre indes sorgte neuerlich für ein angespanntes Verhältnis mit den Banken, hatten sie doch die Zeche für den Broker-Skandal zu zahlen. Kritiker warfen der Regierung einmal mehr vor, das Recht willkürlich ihren eigenen Interessen unterzuordnen. Varga hielt sich während des Skandals in auffälliger Weise zurück. Es gab nicht eine offizielle Wortmeldung von ihm zu dem Thema. Dies dürfte aber wohl nicht daran gelegen haben, dass er ein stilles Gemüt hat. Vielmehr wurde diese Causa an oberster Stelle behandelt.
Was Varga heute aber von seinen Kritikern angelastet wird, ist unter anderem die wirre und fragwürdige Neuverteilung der Lizenzen für Tabaktrafiken und Casinos, die Verstaatlichung der Privatrentenkassen, die Einführung der Pauschalsteuer (Flat Tax) in Höhe von sechzehn Prozent, die Ausgestaltung eines Systems der Familienbeihilfe, das den Besserverdienern zu Gute kommt, und die weitgehende Ignorierung der Armen.
Varga, der mit Agrarminister Sándor Fazekas wegen der gemeinsamen Herkunft als „Tandem“ in der Regierung gilt, wird in seiner Geburtsstadt Karcag immer noch als „unser Misi“ bezeichnet. Der Wirtschaftsminister selbst fühlt sich ebenfalls an seinen Heimatort und seine kumanische Herkunft (Die Kumanen waren ein Turkvolk, das sich während der Völkerwanderung in Ungarn niederließ; Anm.) gebunden. In einem Interview vor wenigen Jahren, sagte er zu seiner Einsilbigkeit: „Von den Kumanen sagt man, dass sie stille, aber auch halsstarrige Menschen waren.“
Abgesehen von László Kövér ist Varga das einzige Fidesz-Urgestein, das stabil an der Seite von Viktor Orbán zu finden ist. Er wurde auch schon als Nachfolger des Premiers gehandelt, worüber sich der starke Mann beim Fidesz wohl gar nicht freute. Ab und an sieht Orbán sich denn auch gegenüber Varga gezwungen, ihm die Grenzen aufzuzeigen. So ließ er auch seinen Wirtschaftsminister bisweilen im Regen stehen, etwa mit der sogenannten Internetsteuer oder dem „Familiensonntag“.
Gleichwohl ist die Verbindung zwischen den beiden sehr eng. Personen, die das Verhältnis der beiden kennen, nehmen am meisten das Wort „Loyalität“ in den Mund. „Er wird niemals einen Befehl zurückweisen“, sagt Klára Ungár über ihn. „Kein Wunder“, so Ungár weiter, „kann man doch in einer Organisation wie dem Fidesz nicht ‚nein‘ sagen. Die Partei ist eine militärisch aufgebaute Organisation mit einem Befehlshaber und Sanktionen.“ Insider sagen, dass die Loyalität zu Orbán für Varga eine moralische Frage sei. Er würde für den Regierungschef sogar durchs Feuer gehen.
Der hier in Auszügen wiedergegebene Artikel erschien in der linksliberalen Wochenzeitung Magyar Narancs.
Aus dem Ungarischen von Peter Bognar