Eine neue Zweidrittelmehrheit ist entstanden – so groß ist das Lager jener, die am Sonntag ungestört einkaufen wollen. Die Regierung hält starr an ihrem Konzept fest, nicht einmal die Einzelhändler am Plattensee werden bevorzugt. Doch wir wären nicht in Ungarn, wenn es keine Versuche gäbe, das Regelwerk auszuspielen.
Mitte März trat das neue Gesetz über das allgemeine Verkaufsverbot am Sonntag in Kraft. Die Idee stammte vom kleinen Koalitionspartner KDNP; offenbar stand dahinter ein Profilierungszwang. Vor Jahren noch hatte Ministerpräsident Viktor Orbán den Ladenschluss am Sonntag mit dem Hinweis verworfen, diesen Luxus könnte sich die ungarische Gesellschaft nicht leisten. Als die KDNP das Thema im Vorjahr wieder hervorkramte, wollte Wirtschaftsminister Mihály Varga (Fidesz) es denn auch im Sinne seines Lehrmeisters abblocken. Viele Menschen arbeiten hierzulande sechs Tage die Woche, da bleibt nur der Sonntag für einen Familieneinkauf. Die Löhne im Einzelhandel sind dermaßen niedrig, dass für viele Mitarbeiter die Sonntagszuschläge eine Existenzfrage bedeuten. Varga konnte wohl nicht ahnen, dass Orbán 2015 die Zeit für gekommen sah, die Eigentümerstrukturen im Handel umzukrempeln.
Appell an die christliche Nächstenliebe
Nach rigorosen Eingriffen in den Energiesektor und den Bankensektor sollen die für den Fidesz „unnützen“ Multis nun auch aus dem Handel verdrängt werden oder wenigstens ihre dominante Rolle aufgeben. Um CBA, Coop, Reál & Co. stark zu machen, treibt die Gängelung der ausländischen Marktakteure durch den Gesetzgeber immer neue Blüten. Das Spektrum reicht von Bußgeldern im Namen des Verbraucherschutzes bis hin zur Verwirklichung eines de facto Mehrwertsteuersatzes von 33 Prozent im Zuge der brutal angehobenen Aufsichtsgebühr der Nahrungsmittelkette. In diese Reihe von Maßnahmen passt auch das Verbot des Sonntagsverkaufs, denn Marktforscher hatten seit Jahren den stabilen Trend nachgewiesen, dass der Ungar bis zu einem Fünftel seiner Konsumausgaben am Sonntag tätigt und dabei die großen Märkte der multinationalen Handelsketten bevorzugt.
Vermutlich gab Orbán KDNP-Chef Zsolt Semjén selbst einen entsprechenden Anstoß, schließlich wollte er sich nach dem Desaster mit der Internetsteuer ganz bestimmt nicht gleich wieder die Finger verbrennen. Die Christdemokraten appellierten sogleich an die christliche Nächstenliebe, indem sie ihren Gesetzentwurf mit „Verbot von Sonntagsarbeit“ titelten. Das ist im heutigen Ungarn dermaßen absurd, dass die Politiker ob so viel Scheinheiligkeit nachträglich erklären mussten, man wolle im Handel anfangen und – sobald sich die Bedingungen dafür ergeben – dieses Verbot liebend gern auch auf andere Wirtschaftsbereiche ausweiten.
Breite Ablehnung auch von der eigenen Parteibasis
Eine Privatperson (!) beauftragte umgehend drei Meinungsforschungsinstitute, in repräsentativen Erhebungen zu ermitteln, inwieweit die Bevölkerung einverstanden sei mit dem neuerlichen Verbot, das die Regierung demonstrativ zum Nationalfeiertag am 15. März aktivierte. Anfang jenes Monats wollte eine Mehrheit von 59-64 Prozent der Befragten bei Tárki, Medián und Ipsos die Läden gerne auch weiterhin geöffnet sehen. Allerdings zogen die Sympathisanten der linken Opposition das Umfrageergebnis nach oben; im Lager des Fidesz befanden sich die Befürworter des Sonntagsverkaufs zu jenem Zeitpunkt mit 45 Prozent tatsächlich in der Minderheit. Medián wiederholte die Umfrage im Mai und kam zu dem für die Orbán-Regierung ernüchternden Ergebnis, dass 72 Prozent der Befragten ungestört einkaufen wollen, mit 63 Prozent Ja-Stimmen im Kreis der Fidesz-Anhänger, 78 Prozent bei der Jobbik und 81 Prozent bei den Linken.
Diese Ergebnisse gehen konform mit den subjektiven Eindrücken, die sich die Bürger in den vergangenen Monaten holen konnten. Erwartungsgemäß schichtete sich der Sonntagsumsatz auf die verbleibenden sechs Wochentage um: Insbesondere an den Samstagen spielen sich nicht nur in den Hypermärkten tumultartige Szenen ab, ebenso findet ein Ansturm auf die Läden in kleineren Städten und Gemeinden statt. Es ist nun mal nicht so einfach, jahrelange Gewohnheiten von heute auf morgen über Bord zu werfen. Ganz zu schweigen von jenen Arbeitnehmern, die von Montag bis Freitag kaum zum Luftholen kommen. Ein böses Erwachen brachte das Verkaufsverbot am Balaton, denn an der ungarischen Riviera denkt ein Urlauber nun mal nicht in Kategorien wie Wochentagen, weshalb die verschlossenen Geschäfte am Sonntag vielerorts für einen Schock sorgten. Doch ein Schock kommt selten allein, denn die kleinen privaten Geschäfte, die vom Verbot ausgenommen sind, nutzen die neue Situation zu unverschämten Preissteigerungen. Keine Frage, dass der Verbraucher ein Verlierer des angeblich familienfreundlichen Eingriffs von Fidesz-KDNP in das Alltagsleben ist.
Welches Geschäftsmodell ist effizienter?
Doch wie steht es um die Handelsketten und deren Mitarbeiter? Es gibt regelmäßige Preisvergleiche, die wenig überraschend neben den Diskontketten wie Lidl, Penny oder Aldi auch die Hypermarktketten Auchan und Tesco als günstig ausweisen, wohingegen CBA und Coop ein markant höheres Preisniveau aufweisen. Zwei Ursachen können dafür verantwortlich sein: Die ungarischen Ketten sind außerhalb der großen Städte häufig quasi als Monopole aufgestellt, und zumindest CBA bemüht sich mit den Geschäften der Marke „Príma“ um ein höheres Dienstleistungsniveau vergleichbar mit Spar/Interspar.
Das Institut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie (MTA KRTK KTI) analysierte die „Effizienz“ der verschiedenen Geschäftstypen und kam zu dem Schluss, dass die Verdrängung der großen, multinationalen Märkte zu steigenden Preisen und niedrigeren Löhnen der Angestellten führen wird. Die Wertschöpfung lag in den kleinen Tante-Emma-Läden, die gewöhnlich als Familienbetriebe mit Aushilfskräften geführt werden, nur wenig über 1,2 Mio. Forint pro Mitarbeiter (leider sind die Angaben etwas altbacken von 2011). Ab fünf Mitarbeitern wies die Forschung einen deutlicheren Wertschöpfungssprung aus, doch erst in der Größenordnung von Supermärkten mit 25-100 Mitarbeitern stieg dieser Wert auf über 2 Mio. Forint im Jahr. Für Großmärkte mit mehr als 100 Mitarbeitern ermittelte die Studie derweil eine Wertschöpfung von über 3,2 Mio. Forint pro Person und Jahr.
Ganz klar, dass „Tante Emma“ den Mitarbeitern nicht viel mehr als den Mindestlohn zahlen kann. Die Lohnspanne belief sich zwischen Mitarbeitern in den kleinsten und den größten Handelseinheiten auf 80 Prozent. Das Institut unterschied gesondert die in ausländischem Eigentum befindlichen Läden, deren Mitarbeiter im Durchschnitt 80 Prozent mehr Werte als ihre Kollegen in einheimischen Läden schaffen und im Schnitt 55 Prozent mehr Geld mit nach Hause nehmen.
Dabei fand die Akademie heraus, dass die ausländischen Handelskonzerne selbst dann besser abschneiden, wenn der ungarische Konkurrent in der gleichen Liga mitspielt. Als Erklärungsversuche werden für die höhere Effizienz eine effizientere Arbeitsorganisation sowie ein breiteres Warenangebot mit günstigerem Preis-Leistungs-Verhältnis, für die höheren Mitarbeiterlöhne die Anstellung besser qualifizierter Arbeitskräfte benannt. Die Akademiestudie kommt zu dem Schluss, sollten kleine und einheimische Läden zu Lasten ausländischer Geschäfte mehr Marktanteile im ungarischen Handel erlangen, werde das die Effizienz der Branche mindern.
Handelsriesen versuchen Gesetze auszuhebeln
Die ungarische Wirklichkeit sieht freilich etwas anders aus. Das beginnt bei den Schwarzgehältern, denn gerade Familienangehörige werden natürlich nur auf dem Papier mit Mindestlohn abgespeist, was auf die „Effizienz“ der kleinsten Läden in der oben genannten Studie drückt. Der Mindestlohn ist im Handel ohnehin weit verbreitet, das Sonntagsverkaufsverbot „kostete“ die Mitarbeiter deshalb nicht nur 5.-20.000 Forint netto im Monat, es geht auch an die Substanz vieler Beschäftigter. Statistiken zufolge sollen die Mitarbeiter der einzelnen Handelsketten monatlich zwischen 150.000 und 300.000 Forint brutto verdienen, der häufig für den Handel als typisch angesehene Mindestlohn liegt derzeit bei 105.000 bzw. 120.000 Forint.
Etwas merkwürdig erscheint, dass Aldi und Lidl im Schnitt am besten zahlen, Metro hat für die hiesigen Mitarbeiter einen Durchschnittslohn von 207.000 Forint monatlich (im Jahre 2013) bestätigt. Von solchen Zahlen können die Mitarbeiter ungarischer Ketten nur träumen. CBA wollte die Wirtschaftszeitung Figyelő verklagen, die geschrieben hatte: „CBA bezahlt seine Mitarbeiter brutal unter Durchschnitt.“ Die Zahlen seien methodisch falsch erhoben worden. Als die Ungarn 2012 die Match/Profi-Kette aufkauften, berichteten die übernommenen Mitarbeiter freilich von Lohneinbußen um ein Fünftel. Unverschämt geht es auch bei Coop zu. Hinter diesem Namen stehen regional verschiedene Oligarchen, die den Markt untereinander wie beim Monopoly-Spiel aufteilen. Bei Übernahmen innerhalb der Kette werden die Mitarbeiter „im gegenseitigen Einvernehmen“ vor die Tür gesetzt und anschließend auf Probezeit wie Berufsanfänger – ohne Abfindungs- und sonstige Ansprüche – wieder eingestellt.
Angeblich geht es mittlerweile selbst Fidesz-Politikern gegen den Strich, wie die Handelsriesen die gesetzlichen Regelungen auszuhebeln versuchen. Dass der Balaton-Verband aus naheliegenden Gründen eine Sonderregelung für die Hauptsaison am Plattensee wünschte, konnte den Wirtschaftsminister nicht beeindrucken. Dass nun mehr und mehr Supermärkte auf wundersame Weise zu Wochenmärkten umgemodelt werden, indem man vor die Eingangstür ein paar „fliegende“ Händler postiert, löste genervte Reaktionen bei der Politik aus. Eine zweite „lex Spar“ (als prompte Antwort des Fidesz auf den Versuch der Österreicher, an OMV-Tankstellen neuartige Shops einzurichten) wird es wegen der Politiksommerpause aber vorerst nicht geben. Solange Lidl stabile Gewinne erwirtschaftet, indem man mit Umsatzerlösen von umgerechnet 200.000 Euro je Mitarbeiter die Konkurrenz abhängt, greift man halt bei CBA & Co. zu allerlei Tricks, um sich den Kunden „anzubiedern“. Dabei wollen diese nur ihre freie Wahl treffen können.