Ungarn hat nicht nur ein Einwanderungs-sondern auch ein massives Abwanderungsproblem und das bereits seit mehreren Jahren. Auf der aktuellen Veranstaltung des Deutschen Wirtschaftsclubs Ungarn, die letzterem Thema gewidmet war, wurde einmal mehr deutlich, wie brisant und potenziell gefährlich dieses Thema für die zukünftige Beurteilung des Wirtschaftsstandortes Ungarn ist. Keines der fünf bei der Talkshow vertretenen Unternehmen hat nicht mit dem Mitarbeiterverlust durch Abwanderung zu kämpfen, keiner der fünf Unternehmenslenker konnte das Thema Abwanderung als nette Begleiterscheinung der Liberalisierung der Arbeitsmärkte sorglos vom Tisch wischen.
Ganz im Gegenteil: Aus ihren Wortmeldungen sprach insbesondere mit Blick auf die Zukunft eine große Sorge. Es wurde auch klar, dass die Fluktuation mit Abwanderungshintergrund längst nicht mehr nur ein Thema der HR-Abteilungen ist, sondern die obersten Firmenlenker beschäftigt. Die Rezepte, mit denen dieser Fluktuation begegnet wird, sind vielseitig. Einige versuchen es mit Aufklärung, insbesondere über die Risiken und Nebenwirkungen eines beruflichen Neustarts im Westen, andere, indem sie ihre Arbeitsplätze noch attraktiver machen. So etwa durch eine bessere Ausnutzung der Möglichkeiten des ungarischen sogenannten Cafeteria-Systems, wobei so ein Entgegenkommen nach der schrittweise erfolgten Aushöhlung dieses Systems wohl nur noch als nette Geste gemeint sein kann.
Hinsichtlich finanzieller Zugeständnisse sind den Unternehmen wiederum durch ihre Konzernrichtlinien und den konzerninternen Wettbewerb um Aufträge enge Grenzen gesetzt. Ebenso wie durch den brancheninternen Wettbewerb. So erfolgt die Festsetzung der Jahreslöhne zumeist nach der Formel Inflationsausgleich plus noch einen kleinen Aufschlag, der sich nach der geschäftlichen Lage des jeweiligen Unternehmens oder auch der Lohnentwicklung bei der unmittelbaren Konkurrenz richtet. Damit macht man sich bei seinen Mitarbeitern zwar nicht unbeliebt, ob dieses gewisse Delta allerdings zu einem Lohnniveau führt, das die ungarischen Mitarbeiter auch noch in fünf oder zehn Jahren eher zum Bleiben motiviert und das Unternehmen im zukünftigen war for talents immer noch erfolgreich mitkämpfen lässt, steht auf einem Blatt.
Immerhin handelt es sich aber bei der Lohnfrage um ein Thema, das die Firmen mehr oder weniger selbst in der Hand haben. Ganz anders als etwa das Thema Gesundheitsversorgung, das bei der Talkshow ebenfalls als Abwanderungsgrund mehrfach angesprochen wurde. Hier kann ein Unternehmen in Eigenregie nur geringfügig Abhilfe schaffen. Zwar kann es seine Mitarbeiter mit privaten Zusatzversicherungen ausstatten, das marode und nach wie vor immens kränkelnde ungarische Gesundheitswesen kann es jedoch nicht aufpäppeln.
Ebenso wie bei der inzwischen langsam in Fahrt kommenden dualen Berufsausbildung kann dies nur bei massiver Unterstützung durch den Staat erfolgen. So wie Ungarn bei diesem Thema inzwischen hauptsächlich deshalb nicht mehr so schlecht dasteht, weil insbesondere deutsche Firmen es gegenüber ungarischen Entscheidungsträgern jahrelang beharrlich immer wieder zur Sprache gebracht haben, sollten sich Vertreter deutscher Firmen gezwungenermaßen wohl auch zum Anwalt des Themas Gesundheitswesen machen und es bei jeder sich bietenden Gelegenheit gegenüber ungarischen Offiziellen ansprechen.
Nur über eine Vergrößerung des Steueraufkommens allein scheint das Gesundheitswesen jedenfalls nicht auf die Beine zu kommen. Trotz eines inzwischen beachtlichen Wirtschaftswachstums fallen die Erfolgsmeldungen aus dem Gesundheitssektor bisher eher spärlich aus – was jetzt einmal sehr höflich ausgedrückt ist. Offensichtlich herrschen bei den wahrscheinlich stets kerngesunden Verteilern von Steuergeldern in diesem Land andere Prioritäten als bei den normalsterblichen Bürgern, die finanziell und personell gut ausgestattete Krankenhäuser bestimmt mehr zu schätzen wissen als immer neue topmoderne, häufig aber kaum ausgelastete Fußballstadien.
Unternehmen aus dem deutschen Sprachraum haben Ungarn schon viel gegeben, eine hochmoderne Telekommunikationsinfrastruktur, einen preiswerten gut funktionierenden Einzelhandel, duale Berufsausbildung und vieles mehr; vielleicht sollten sie sich mit ihrer Energie und Überzeugungskraft auch einmal des Gesundheitswesens annehmen. Einen Versuch wäre es wert!