Armenien mit Jerewan, Ukraine mit Kiew und Ungarn mit Budapest – drei Länder und ihre Hauptstädte, die unterschiedlicher nicht sein könnten und Tausende Kilometer voneinander entfernt sind. Der 30-jährige Artak Galyan lebte lange Jahre an allen drei Orten, war all den landeseigenen Geschichten, Sprachen und Mentalitäten ausgesetzt. In unserer Serie, „Mein Budapest“, erzählt er uns, wie es ihn am Ende nach Budapest verschlug.
„Ich werde bestimmt schrecklich weinen, wenn ich Budapest verlassen muss“, meint Artak schmunzelnd. Doch er meint es ernst, er liebt diese Stadt, die er sein drittes Zuhause nennt. Immerhin ist es bereits viele Jahre her, seit er im September 2008 nach Ungarn kam, um an der Central European University (CEU) zu studieren. Es war sein großer Wunsch, nach dem Bachelor ins Ausland zu gehen. Nun hat er bereits seinen Master in Politikwissenschaften abgeschlossen und schreibt an den letzten Kapiteln seiner Doktorarbeit.
Artaks Leben bisher war buchstäblich bewegt. Geboren wurde er in Jerewan, der Haupt- und größten Stadt Armeniens, die in einem malerischen hufeisenförmigen Talkessel von Bergen umgeben liegt. Damals, in den achtziger Jahren, durchlebte das Land allerdings schwere Zeiten. 1988 wurde es von einem schweren Erdbeben heimgesucht, das mit einer Stärke von 6,9 unzählige Städte und Gemeinden in Schutt und Asche legte. „Knapp ein Prozent der Bevölkerung starb, viele wurden obdachlos“, erzählt Artak. Auch er erinnert sich an das Erdbeben. Er ging damals – als Vierjähriger – noch in den Kindergarten, der evakuiert werden musste. Seine Großmutter holte ihn ab, nach Hause konnten die beiden jedoch nicht mehr gehen. „Ich weiß noch, wie wir vor unserem Haus standen, drinnen wackelte alles, Tische, Stühle, Lampen, Schränke.“ Es war ein Glück für die Familie, dass ihr Haus nicht zerstört wurde.
„Wir lebten in einem Staat, der plötzlich aufhörte zu existieren.“
In den folgenden beiden Jahren schockte jedoch ein weiteres Ereignis Armenien, das damals offiziell Armenische Sozialistische Sowjetrepublik (Armenische SSR) hieß, und die 14 weiteren Unionsrepubliken: der Zerfall der Sowjetunion. Zeitgleich brach der Bergkarabach-Konflikt aus – ein Konflikt der Staaten Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach im Kaukasus, der bis heute anhält. In der Folge wurde die Grenze zu Aserbaidschan geschlossen, was auch den Zugang zum wertvollen Öl aus dem Nachbarstaat abschnitt. Da nach dem Erdbeben von 1988 eine Protestwelle zusätzlich zur Abschaltung Armeniens einzigen Kernkraftwerks Metsamor drängte, war eine Energiekrise unvermeidbar. „Die sogenannten ‚dunklen Jahre‘ folgten“, erklärt Artak. „Der Name rührt daher, dass es zu dieser Zeit oft dunkel war in Armenien, da man ja kaum Elektrizität erzeugen konnte.“ Zwei Jahre lang lebte Artak mit seinen Eltern und seinem drei Jahre älteren Bruder „im Dunkeln“. Zur Energiekrise kam auch noch die Inflation, die die jahrelangen Ersparnisse etlicher Armenier quasi über Nacht wertlos gemacht hatte. Armut und eine allgemeine Perspektivlosigkeit waren die Folge. „Eine Sache, die für Mitteleuropäer oft schwer zu verstehen ist, ist die Tatsache, dass wir damals in einem Staat lebten, der plötzlich aufgehört hat zu existieren.“ Nach all diesen Krisen, die das Land insbesondere wirtschaftlich und infrastrukturell schwächten, fassten die Eltern des heute Dreißigjährigen einen Entschluss: Sie wanderten in die Ukraine, nach Kiew, aus. Sein Vater ging 1991 vor, mit seiner Mutter und dem Bruder folgte Artak 1993 nach. „Das Erste, was mich in Kiew richtig schockte, waren all die Lichter und dass sie immer an waren. In den ersten Tagen konnte ich deshalb gar nicht schlafen“, erinnert sich Artak.
Stadt voller Überraschungen
Seine Eltern konnten sich als Ingenieure, die in der Armenischen SSR ohnehin in russischer Sprache gearbeitet hatten, problemlos auch in der Ukraine beruflich verorten. Artak sprach anfangs zwar weder Russisch noch Ukrainisch, lernte die Sprachen dann jedoch bald in der Schule. Nach dem Abitur in Kiew zog er gemeinsam mit Bruder und Mutter zurück in seine Geburtsstadt Jerewan, um ein Bachelor-Studium mit Linguistik im Haupt- und Politikwissenschaften im Nebenfach zu beginnen. Austauschprogramme wie über Erasmus gab es damals noch nicht, und so sehnte sich Artak sein gesamtes Studium über nach Auslandserfahrungen. Von seinen Dozenten, die selbst an der Budapester Central European University studiert hatten, hörte er von der renommierten, 1991 gegründeten Privatuniversität. Entsprechend glücklich war Artak, als ihm ein Stipendium für den Master in Politikwissenschaften an der CEU zugesichert wurde.
„Zu Anfang lebte ich in einem Studentenwohnheim unweit des Örs Vezér tere, das Studium war außerdem sehr intensiv. Da war irgendwie gar nicht so viel Zeit, die Stadt zu erkunden“, sagt Artak. Erst nach ein paar Monaten begann er, sich mit der Stadt verbunden zu fühlen. Heute lebt er in einer Wohngemeinschaft unweit der Metrohaltestelle Arany János utca. Seine Bewunderung gilt besonders der Architektur Budapests. „Vom Fenster unserer WG aus blicken wir auf diesen tollen Balkon mit wunderschönen Steinskulpturen. Aber ich lasse mich auch gern von der Stadt überraschen, entdecke beim Spazierengehen faszinierende Gebäude. Budapest ist eine Stadt voller unerwarteter kleiner schöner Ecken“, bringt es Artak auf den Punkt.
Zukunft offen
Gegen Ende des Jahres plant Artak, seine Doktorarbeit abzugeben. Und danach? „Ich bin offen für alles“, sagt er lächelnd. Aufgrund der beruflichen Situation in seiner Branche muss Artak vermutlich weg aus Ungarn: „Das wird schon schmerzhaft, aber ich denke, dass meine jahrelangen, tiefen Freundschaften nicht verloren gehen werden. Das waren die glücklichsten Zeiten meines Lebens hier, und mit der Stadt werde ich ohnehin immer verbunden sein.“ Bis es so weit ist, genießt Artak jedoch die schönen Seiten Budapests. Dabei ist ihm vor allem alles Flussnahe ans Herz gewachsen: „Ich mag es, einfach am Donauufer entlangzulaufen, zum Beispiel auf der Margareteninsel, oder auf den Fluss zu blicken. Einen tollen Blick hat man außerdem von der Szabadság híd (Freiheitsbrücke, Anm.), besonders bei einem Picknick im Sommer mit Freunden.“