Die Wirtschaftsmigration aus Ungarn hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Neben England und Österreich ist Deutschland das wichtigste Zielland, und innerhalb des Landes lassen sich die meisten Ungarn im Süden nieder. Die Budapester Zeitung sprach mit dem 46-Jährigen Tamás Szalay, der seit Januar 2014 das ungarische Kulturinstitut in Stuttgart leitet, über die neue ungarische Diaspora in Baden-Württemberg.

Kulturinstitutsdirektor
Tamás Szalay spürt den starken Migrationstrend von Ungarn
nach Baden-Württemberg. (Fotos: Gottfried Stoppel)
Budapester Zeitung: Vor knapp anderthalb Jahren haben Sie László Ódor an der Leitung des Stuttgarter ungarischen Kulturinstituts abgelöst, kommen aber aus Pécs
Tamás Szalay: Richtig, ich stamme ursprünglich aus Pécs und war dort unter anderem Kulturdirektor, als Pécs 2010 europäische Kulturhauptstadt war.
Ist es für Sie eine Herausforderung gewesen, nun nach Deutschland zu kommen?
Nein, gar nicht, denn ich bin ja nicht in die Fremde gekommen. Ich habe in der Familie deutsche Wurzeln, als Student war ich im Sommer oft hier und habe ein Semester lang als Stipendiat in Heidelberg verbracht. Später habe ich unter anderem anderthalb Jahre in Berlin und Ulm gelebt. Als Pécs die Kulturhauptstadt war, waren Essen und das Ruhrgebiet unsere Partner, und ich habe mit dem Stuttgarter Kulturinstitut schon Projekte gemacht, bevor ich in meiner jetzigen Position hergekommen bin. Wer nicht so viele emotionale Verbindungen zu und Erfahrungen in einem Land hat, für den ist es natürlich schwerer auszuwandern.
Nehmen Sie hier am Kulturinstitut den neuen Migrationstrend von Ungarn speziell nach Süddeutschland wahr?
Ich bin seit etwas über einem Jahr am Kulturinstitut und konnte die Tendenz vorher nicht sehen. Aber es ist für uns definitiv wahrnehmbar, dass viele und immer mehr Ungarn kommen. Vom Institut muss dies auch als Aufgabe angesehen werden. Es kommen Ungarn aus allen möglichen Schichten, aber besonders eine Gruppe ist in den vergangenen Jahren sehr präsent, und die ist für uns quasi noch eine unerschlossene Zielgruppe: die jungen Ungarn, die zur technischen Intelligenz gehören und mitsamt Familie zu Bosch, Mercedes et cetera nach Deutschland kommen. In diesen Menschen steckt viel Kreativität, und wir als Kulturinstitut versuchen nun eben seit vergangenem Jahr, neben der traditionellen Zielgruppe auch diese neue mit unserem Angebot anzusprechen.
Wie ist es möglich, die neu ankommenden Ungarn zu erreichen?
Wir arbeiten zum Beispiel stark mit anderen ungarischen Verbänden zusammen, um die Ungarn, die in Stuttgart und Umgebung leben, anzusprechen und eine Plattform zu bieten, wo sie sich treffen können. Dazu gehört beispielsweise der Bund Stuttgarter Ungarn (stuttgarti magyarok szövetsége). Allgemein bemühen wir uns, für jeden attraktive Programme anzubieten, aber es ist auch schwierig bis unmöglich, alle anzusprechen. Denn es gibt auch schlicht und ergreifend solche Ungarn, die sich erst einmal mit den neuen Gegebenheiten vor Ort beschäftigen wollen und nicht mit dem Land, das sie hinter sich gelassen haben. Die suchen erst mal hier ihr Glück und ihren Platz. Natürlich empfangen wir diese Ungarn genauso gern und offen hier, können aber auch verstehen, dass sie erst einmal ‚ankommen‘ müssen.
Entsteht denn eine Art Konflikt zwischen der neuen Generation zugewanderter Ungarn und den bereits seit Längerem hier lebenden, da die Interessen unterschiedlich sind – beispielsweise was das Programm hier im Kulturinstitut angeht?
Gar nicht! Aber Sie haben es gut erkannt, wir bieten auch Programme an, die dezidiert die Jungen, die neue Generation, ansprechen sollen. Wir hatten zum Beispiel die Sängerin Bori Péterfy zum Gespräch eingeladen, und die mittlerweile auch international Jazzmusikerin Veronika Harcsa performte auf unsere Einladung in einem Stuttgarter Jazzclub. Die älteren Ungarn und sogar die Deutschen, von denen erfreulicherweise auch sehr viele regelmäßige, treue Besucher des Kulturinstituts sind, interessieren sich aber genauso für solches Programm. 70-80-jährige ungarische Damen und Herren setzen sich locker in eine Lautpoesie-Performance rein, und genießen es! Das freut uns natürlich besonders.
Denken Sie, dass viele Ungarn, die nach Deutschland emigrieren, dezidiert die „ungarische Linie“ dort suchen?
Das ist schwer zu sagen. Auch, weil überhaupt erst die Frage ist, was diese „ungarische Linie“ bedeutet. Wir arbeiten durchaus auch viel mit deutschen Institutionen zusammen, die sonst nicht unbedingt mit Ungarn zu tun haben, zum Beispiel mit dem Theater oder dem Literaturhaus hier in Stuttgart. Auch über solche Kollaborationen haben wir Ungarn getroffen, die das Institut sonst vielleicht gar nicht unbedingt wegen der ungarischen Thematik aufgesucht hätten.
Haben sich die Ungarn, die nach Deutschland gekommen sind, Ihrer Meinung nach auch schon in Ungarn mit Kultur befasst oder freuen sie sich einfach nur, hier etwas mit Ungarn zu tun haben zu können?
Gute Frage, aber ich denke beides ist der Fall. Es gibt seit einigen Jahren einen ungarischen Club bei uns im Haus, der von einem eigenen Verein, dem Siebenbürger Weltverband (erdélyi világszövetség) betrieben wird und wöchentlich Programme macht. Dazu gehört auch viel traditionell Ungarisches wie Volkstanz (táncház) und Folklore-Musik. In den Club kommen auch sehr viele Ungarn, denen es eher um die Gesellschaft geht und die sonst keine ernsthaftere Bindung zu Kultur haben. Uns im Institut besuchen aber natürlich schon viele Kultur-Freunde, denn das ist ja unser Steckenpferd.
Wie sehen Sie das Verhältnis der nach Deutschland migrierenden Ungarn zur ungarischen Sprache? Ist es ihnen wichtig, sie zu pflegen und nichts zu vergessen?
Ich würde sagen, die meisten Ungarn, die neu hier nach Deutschland kommen, haben erst einmal nicht so ein großes Bedürfnis, der ungarischen Sprache besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Für sie ist das Erlebnis, hier zu sein, noch zu frisch, und sie sind ohnehin noch ganz mit ungarischem Geist unterwegs. Oft sind diese Ungarn sowieso in der ungarischsprachigen Community verortet. Anders ist es bei den Ungarn, die bereits in der zweiten oder dritten Generation hier leben, und da versuchen wir als Kulturinstitut dann auch, die Balance zu finden, um alle in allen Sprachen anzusprechen. Und natürlich bieten wir auch Sprachkurse an, sowohl deutsche als auch ungarische. Besonderer Bedarf herrscht auch in der Bildung: Der hiesige ungarische Kindergarten ist momentan überfüllt, es herrscht sowohl Platz- als auch Erziehermangel.
Und die deutsche Sprache? Wird sie von den immigrierten Ungarn erlernt?
Wir hier im Kulturinstitut treffen größtenteils auf die intellektuellen Ungarn, die auch schon Deutsch konnten, bevor sie herkamen. Es gibt aber auch solche, die wir dann treffen, wenn sie sich aufgrund konsularischer Angelegenheiten bei uns melden – zumindest war das bisher so, bevor das Generalkonsulat wiedereröffnete. Das sind dann auch mal problematischere Fälle. Denn nicht wenige kommen so nach Deutschland, dass sie die Sprache nicht beherrschen und eventuell auch keinen festen Arbeitsplatz haben oder nur schwarz beschäftigt werden, gerade in den Handwerksberufen. Daraus können natürlich ernsthafte Probleme erwachsen, und oft hat das dann kein gutes Ende.
Sie haben es eben erwähnt: Das ungarische Generalkonsulat eröffnet nun wieder hier in Stuttgart.
Richtig, allerdings nicht bei uns im Haus, sondern in der Tübinger Straße. Es hätte eigentlich bereits am 31. Januar eröffnet werden sollen, der Konsul, János Berényi, ist auch schon nach Deutschland gekommen. Aber dann war es doch unsicher, wo das neue Büro verortet sein soll, und es waren noch Renovierungsarbeiten vonnöten. Früher war das Generalkonsulat noch hier in der Haußmannstraße, nun ist aber kein Platz mehr. Außerdem befindet sich das Gebäude nicht mehr vollkommen im Besitz des ungarischen Staates, wir können nicht mehr einfach so darüber verfügen. Als das Konsulat damals Mitte der 2000-er auszog, gab der ungarische Staat die betreffende Etage an das Land Baden-Württemberg ab. Seitdem befindet sich die Akademie für gesprochenes Wort im Haus.

Trotz jahrelanger Arbeit in Deutschland und der Liebe zu Land und Leuten: „Zu Hause bin ich in Pécs”, sagt Tamás Szalay. (Fotos: Gottfried Stoppel)
Wieso hat das Konsulat damals geschlossen?
Das war meiner Meinung nach missverstandene Sparpolitik. Dabei ist das Bedürfnis nach so einer behördlichen Anlaufstelle groß. Das Generalkonsulat erledigt Papierkram, aber vor allem Staatsbürgerschafts-Angelegenheiten, was ein sehr wichtiger Punkt ist. Denn bisher konnten dieserlei Dinge nur in München beantragt werden, und da war der Weg den meisten eben doch zu weit. Zum Glück gab es bisher den Honorarkonsul Rolf Kurz in Fellbach. Er konnte bei vielen Angelegenheiten helfen, zum Beispiel wenn es um Geburtsurkunden ging. Er ist ein großer Freund der Ungarn und hat viel für das Land getan. Staatsbürgerschafts-Angelegenheiten konnte er aber nicht erledigen – dafür gibt’s nun das Generalkonsulat und Herr Berényi. Aber es war meiner Meinung nach auch deshalb ein schlechtes Signal, dass der ungarische Staat damals das Generalkonsulat geschlossen hat, da Baden-Württemberg einer der wichtigsten Partner Ungarns ist – sei es wirtschaftlich, historisch… Nun erhält die ungarische Gegenwart ein sehr wichtiges Hinterland. Wir haben hier ein Kulturinstitut, ein Generalkonsulat – damit zeigen wir, wie wichtig Süddeutschland für Ungarn ist. Und Deutschland allgemein: Außer Rumänien gibt es kein anderes Land, das zwei Kulturinstitute hat.
Die meisten Ungarn kommen innerhalb Deutschlands in den Süden, einige verschlägt es aber auch nach Berlin. Sie haben selbst einige Zeit in der Hauptstadt gelebt: Worin sehen Sie die Anziehung Berlins im Gegensatz zur Stuttgarter Region?
Sowohl Berlin als auch Baden-Württemberg ziehen die Ungarn tatsächlich wie ein ungeheurer Magnet an. Der Unterschied ist jedoch, dass Berlin wirtschaftlich gesehen sehr schwach ist, dort gehen eher die jungen Kreativen hin. Hier her kommen die Ingenieure und all jene, die Arbeit wollen, mit der man gutes Geld verdienen kann. Anders ist auch, dass es in Berlin zwar viele Ungarn, ungarische Verbände und ebenfalls ein Kulturinstitut gibt. Aber beispielsweise durch die Aussiedlungen der Donauschwaben herrscht mit Süddeutschland doch in vielerlei Hinsicht eine viel ernsthaftere Verbindung. Andererseits gibt es mit Berlin durch die ehemalige DDR eine Menge ähnlicher Reflexe und Erinnerungen durch Stichworte wie Balaton, die hier in Stuttgart nicht funktionieren. So unterschiedlich Berlin und Süddeutschland sind, so spannend sind sie jedoch beide für die Ungarn, da beides auf seine Art neue Perspektiven zu bieten hat. Daneben ist Bayern noch ein interessanter Ort für Ungarn.
Worin sehen Sie für Ungarn den Hauptgrund, nach Deutschland zu kommen?
Das ist glaube ich einfach: dass es keine Grenzen gibt, dass wir eine einige EU sind. Ich freue mich sehr darüber. Man weiß ja auch nicht, wie viele nach ein-zwei Jahren eventuell wieder heimkehren werden; es muss ja nicht für immer sein. Aber ich glaube auch, dass dieser Trend Ungarn gut tun kann, es ist nun einmal nicht schwarz-weiß. Und ich würde das nicht dramatisieren. Natürlich hat es seine Gründe, manche suchen eben ihren Platz auf der Welt. Heute ist es in Ungarn einfach keine existenzielle Frage mehr, ob man weggeht, nicht so wie vor 25 Jahren – man kann ja jederzeit wieder zurückkommen.
Sie sagten zu Anfang unseres Gesprächs, nach Deutschland zu kommen hieße für Sie nicht, in die Fremde zu kommen. Kann man denn sagen, dass Sie mehrere Heimaten haben?
Nein, das eigentlich nicht. Ich habe immer meinen Grundbezugspunkt in Pécs, und es würde mir auch sehr schwerfallen, den aufzugeben, aber das muss man ja zum Glück eben heute auch nicht. Was diesen Bezugspunkt angeht, macht es für mich aber auch keinen Unterschied, ob ich in Budapest oder Stuttgart lebe – zu Hause bin ich in Pécs.
Ihre Heimat ist also trotz aller Bezüge zu Deutschland immer noch Ungarn. Meinen Sie, es geht den hier her ausgewanderten Ungarn genauso?
Ganz eindeutig!
Wieso scheint das Heimatthema gerade im Falle Ungarns so eine große Rolle zu spielen?
Das hat sicher viele Gründe: geschichtliche, sprachliche, dass wir sonst nicht so richtig Verwandte in der Welt haben. Aber genau deshalb finde ich als Institutsleiter es auch so wichtig, Menschen wie Sie anzusprechen – diese Generation, die einen ungarischen Hintergrund hat, der auf jeden Fall gepflegt werden sollte. Später, als Erwachsener, kann man dann ja entscheiden, wie wichtig einem die Bewahrung der ungarischen Kultur ist. Aber nur wenn es überhaupt eine Basis gibt, kann man diese Entscheidung treffen.
Die neue ungarische Migrationswelle in Zahlen:
Wie viele Ungarn migrieren?
Aktuelle Zahlen des ungarischen Statistischen Zentralamtes (KSH) kommen zu dem Schluss, dass 2014 mindestens 31.500 ungarische Staatsbürger ihre Heimat verließen – anderthalb Mal so viel wie noch ein Jahr zuvor und 6,5 Mal so viel wie noch 2009.
Wer migriert?
44 Prozent der emigrierenden Ungarn sind unter 30, 77 Prozent unter 40 Jahre alt und knapp mehrheitlich männlich (54 Prozent) und unverheiratet (zwei Drittel aller ungarischen Auswanderer).
Wie viele Ungarn leben in Deutschland?
In der Publikation „Ausländische Bevölkerung“ des deutschen Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2014 ist vor acht Jahren noch von bundesweit 56.165 Ungarn die Rede. 2010 sind dies bereits 68.892, 2012 ganze 107.398 Menschen mit ungarischem Migrationshintergrund. Zur Zeit der letzten Erhebung, 2014, lebten 156.812 Ungarn im Bundesgebiet.
Wie viele Ungarn leben in Baden-Württemberg?
2014 lebten in Baden-Württemberg offiziell 37.946 Ungarn. Demnach weilt also circa ein Viertel aller nach Deutschland migrierten Ungarn im Ländle. Im ersten Halbjahr 2014 stellten sie hier hinter Rumänen und Polen die drittgrößte Gruppe von neu Zugezogenen aus EU-Staaten dar. Die meisten Ungarn bleiben in der bisherigen Tendenz 1 bis 4 Jahre in BaWü.
Woher kommt die Verbindung Ungarns zu Süddeutschland?
Noch im 18. Jahrhundert wurden Deutsche unter anderem aus Bayern und Württemberg ins Karpatenbecken umgesiedelt, die sogenannten Donauschwaben. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden viele von ihnen, die aus ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten – insbesondere in Südungarn – vertrieben wurden, in Baden-Württemberg eine neue Heimat. Die Länder des deutschen Südwestens, die sich 1952 zum Land Baden-Württemberg zusammenschlossen, gehörten zum Hauptaufnahmegebiet der Ungarndeutschen. Auch nach dem ungarischen Volksaufstand 1956 flüchteten viele Ungarn nach Deutschland, und bis zur Wende war Westdeutschland erneut wichtiger Aufnahmepartner für politische Flüchtlinge. Über die Jahre hinweg blieben viele von ihnen im Land, und die vergangenen Jahre scheinen eine neue Einwanderungswelle aus Ungarn anzuzeigen.