Ich schlage die Zeitungen auf und was lese ich? Mercedes erweitert in Ungarn! Sofort beginnt mein Herz zu rasen. Sollte etwa Konzernchef Dieter Zetsche persönlich die seit langem ersehnte Investition angekündigt haben? Bald kommt die schmerzende Ernüchterung, es habe sich lediglich um Gespräche eines Staatssekretärs in Baden-Württemberg gehandelt. Ich kann es kaum glauben: Nichts Konkretes, und doch wieder eine Schlagzeile!
Die Daimler AG erwägt eine Erweiterung ihrer Aktivitäten in Ungarn, worüber Verhandlungen mit der ungarischen Regierung aufgenommen wurden, sagte der Staatssekretär für Wirtschaftsdiplomatie im Außenwirtschaftsministerium vergangene Woche der amtlichen Nachrichtenagentur MTI. Levente Magyar sprach von „ernsthaften Verhandlungen“, er hob hervor, Daimler sei „außerordentlich zufrieden“ mit dem Kecskeméter Werk. Auf die Frage, ob Kecskemét in bestimmten Investitionsplänen vorkomme, meinte er, vorläufig sei keine Rede von einem konkreten Standort außerhalb von Kecskemét.
Theoretisch könnte gespiegelt werden
Wie wir wissen, hat der Daimler-Konzern 2008 gleich 441 ha in Ungarn erworben, wovon 160 ha für ein Automobilwerk mit einer ursprünglichen Jahreskapazität von 150.000 Autos bebaut wurden. Theoretisch hätte dieses Werk gespiegelt werden können, doch machten die Weltwirtschaftskrise und der Absturz des europäischen Automobilmarktes den Stuttgartern einen Strich durch die Rechnung. Seit 2012 kommuniziert das Unternehmen unentwegt die gleichen Fakten, wonach man die Möglichkeit einer Anschlussinvestition in Ungarn erwäge. Es stimmt auch, dass die Deutschen mit dem ungarischen Standort rundweg zufrieden sind. Kecskemét schneidet ausgezeichnet ab, denn die hier gebauten Modelle (B-Klasse, CLA, CLA Shooting Brake) gehören zur gefragtesten Kategorie. Die in Kecskemét noch immer unausgelasteten Flächen verfügen über alle Stadtwerksanschlüsse und Genehmigungen, so dass es keine technischen Hindernisse für eine Erweiterung gibt.
Was interessiert Daimler bei der Standortwahl? Vom Werksleiter in Kecskemét, Thomas Geier, erhielten wir folgende Antwort: Die Daimler AG baut die Fahrzeuge gewöhnlich da, wo sich der Absatzmarkt befindet, in Europa fällt das Wachstum derzeit weniger dynamisch als in Übersee und Asien aus. Bei der Entscheidung zwischen Mexiko und Ungarn beispielsweise spielen nicht die staatlichen Zuwendungen und Vergünstigungen die Hauptrolle, denn die fallen überall ungefähr gleichhoch aus. Maßgeblicher ist, ob qualifizierte und engagierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.
Nicht genügend Facharbeiter
Warum also hat Daimler noch immer keine Entscheidung für die hiesige Standorterweiterung getroffen? Weil der europäische Markt zwar allmählich zu sich findet, aber noch keine Garantien für ein nachhaltiges Wachstum bieten kann. Thomas Geier gab eine diplomatische Antwort zur Lage am Arbeitsmarkt: „Leider muss ich sagen, dass das ungarische Berufsausbildungssystem noch nicht so ausgereift ist, weshalb wir entschieden, hier die duale Ausbildung nach deutschem Vorbild einzuführen.“ Das sind die Worte eines Gentlemans, im Klartext heißt das, in Ungarn stehen heute keine Automobil-Facharbeiter und Ingenieure in ausreichender Anzahl und Qualität zur Verfügung. Das aber reduziert die Chancen für eine weitere Daimler-Investition in Ungarn.
Von hier sollte auch der russische Markt bedient werden, doch der anhaltende Konflikt in der Ukraine schmälert die dortigen Wachstumsaussichten. Ein weiterer Knackpunkt ist Mexiko. Dort wird demnächst in Kooperation mit Nissan die Fertigung der neuesten Generation des CLA beginnen. Damit würde Kecskemét seine Exklusivstellung für dieses Modell auf dem Weltmarkt einbüßen – ganz Übersee könnte von Mexiko aus beliefert werden. Die voraussichtliche Kapazität von 100.-150.000 Autos würde ungefähr mit jener einer möglichen Erweiterung in Ungarn identisch sein. In Stuttgart spielt man also auf Zeit und hofft, mit der intensiven Auslastung der hiesigen Kapazitäten über die Runden zu kommen, bis Mexiko in den Fertigungsverbund einsteigt. Von da an hätten es die Deutschen nicht mehr eilig mit einem Ausbau des Kecskeméter Werkes.
Die Hoffnung bleibt
Die Hoffnung nährt sich aber aus der klar umrissenen Zielstellung des Daimler-Managements, das Kompaktsegment im Zeitraum 2020-2025 zur größten Volumenkategorie zu machen. Die damit verbundene Modelloffensive könnte Ungarn noch immer die Fertigung eines neuen Modells bescheren. Die Regierung setzt natürlich alle Kräfte in Bewegung, um Daimler eine neue Investition abzuringen. Denn so wenig Viktor Orbán das Auslandskapital im Dienstleistungssektor wünscht, so sehr ist es ihm im verarbeitenden Gewerbe willkommen.
Dieser in Auszügen wiedergegebene Artikel erschien auf dem Wirtschaftsportal Portfolio.hu. Ins Deutsche übertragen von Rainer Ackermann.