Von András Keszthelyi
Irgendetwas ist um Viktor Orbán in Bewegung geraten: ungewohnte Regierungsentscheidungen, an die große Glocke gehängte symbolische Botschaften, die wiederholte Neuausrichtung der Regierungspolitik – und das nur ein Jahr nach den Wahlen. Auf die Frage nach dem Warum lässt sich schwer eine Antwort geben. Doch liegt der Verdacht nahe, dass der Ministerpräsident seinen Bewegungsspielraum wieder einmal ausweiten will. Sollte alles nach Plan laufen, wird beim Parteitag des Fidesz im Herbst ein gestärkter Orbán die Fäden ziehen.
Zwänge
Es ist davon auszugehen, dass der Ministerpräsident unter Handlungszwang steht, hat doch die Nachwahl in Tapolca und der deutliche Popularitätsverlust in den vergangenen Monaten die Regierungspartei Fidesz tief erschüttert. Binnen drei Monaten hat der Fidesz ein Drittel seiner Wähler verloren – zuletzt musste die MSZP einen solchen demoskopischen Sturzflug (nach 2006) erleiden. Andererseits besteht noch kein Grund zur Panik, schließlich ist erst das erste Jahr der Legislaturperiode abgelaufen, mithin gibt es noch genügend Zeit, um die Dinge ins Lot zu bringen.
Das Umfeld des Fidesz sendet dieser Tage widersprüchliche Signale nach außen. Nach der Niederlage in Tapolca wurden in unzähligen Kommentarspalten der regierungsnahen Presse die Alarmglocken geläutet. Der Tenor: Der Fidesz habe seine ursprünglichen Werte und Grundsätze aus den Augen verloren. Gleichwohl war aus Regierungskreisen wiederholt zu hören, dass die Regierung Tapolca keine allzu große Bedeutung beimesse. Womöglich hat sie damit Recht.
Ich neige zu der Ansicht, dass Orbán heute nicht wegen der Niederlage in Tapolca so handelt, wie er handelt, sondern wegen Lajos Simicska. Orbán hat Bewegungsspielraum nötig, um die Reihen zu ordnen. Der Ministerpräsident dürfte wohl darauf sinnen, innerhalb seiner Partei mit einer neuen Machtformel aufzuwarten. Viele hängen dem Glauben an, dass Orbán die totale Kontrolle über den Fidesz und die politische Rechte innehat. Spätestens der Clinch mit Lajos Simicska hat indes gezeigt, dass dies keineswegs der Fall ist (gleichwohl würde sich wohl jeder andere Parteichef freuen, wenn er solch eine Machtfülle hätte wie Orbán).
Keine monolithische Welt
Früher hatte es den Anschein, als wäre der Fidesz eine hermetisch abgeschlossene monolithische Welt, in der einzig und allein der Wille Orbáns zum Tragen kommt. Indessen wurde diese Sichtweise durch rechte Meinungsbildner in den vergangenen Wochen und Monaten wenn auch nicht widerlegt, so aber doch erheblich differenziert. Für einen Moment hatte es den Anschein, dass sogar der Juniorpartner in der Regierung, die KDNP (Christdemokratische Volkspartei, Anm.), zur Bildung einer eigenen Meinung fähig ist.
Wenn Tapolca politische Konsequenzen nach sich gezogen hat, sind diese weniger außerhalb des Fidesz als vielmehr innerhalb der Regierungspartei zu suchen: Orbán muss im Inneren wieder für Ordnung sorgen. Allerdings hat dies zu einem nicht geringen Teil auch mit dem Rundumschlag von Lajos Simicska zu tun. Der Ministerpräsident hat – aus eigener Sicht wohl richtig – entschieden, den allzu groß gewordenen Einfluss des Oligarchen ein für allemal zu brechen. Allerdings gestaltet sich dieses Bestreben Orbáns weit schwieriger als die Schaffung einer neuen Verfassung, die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes oder die Pazifizierung von Sándor Csányi und anderen Oligarchen (Sándor Demján, Gábor Széles usw.).
Der Grund dafür liegt selbstredend in der vielgestaltigen Rolle, die Lajos Simicska innerhalb des Fidesz innehatte. Er war nicht bloß fundraiser, nicht nur eine Verkörperung des state capture, sondern auch ein einflussreicher Parteibonze, der sowohl innerhalb der Regierungspartei als auch in den höchsten Kreisen der Regierung ein eigenes Netz an loyalen Personen hatte. Hinzu kommt, dass er obendrein einen Großteil der regierungsnahen rechten Medien kontrollierte. Lajos Simicska, den Orbán einst anerkennend als den „Gescheitesten von uns allen“ bezeichnete, stellt demnach in vielerlei Hinsicht ein Problem dar.
Schritte zur Konsolidierung
Wiewohl es der Ministerpräsident schon früher hatte durchblicken lassen, staunten viele Beobachter dennoch nicht schlecht, als Wirtschaftsminister Mihály Varga ankündigte, dass der Haushalt für das nächste Jahr nicht wie üblich im Herbst, sondern noch vor der Sommerpause der Legislative durch das Parlament gepeitscht werde. Unter positiven wirtschaftlichen Gegebenheiten hat eine frühe Verabschiedung des Budgets vor allem zwei Vorteile. Zum einen kann man sich vor dem Sommer noch in Vorsicht üben, was die Wirtschaftsleistung anbetrifft, um im Herbst bei einer positiven Konjunkturentwicklung während der Sommermonate mit Wirtschaftszahlen aufwarten zu können, welche die „ursprünglichen Erwartungen“ übertreffen. Dadurch wird der Regierung ein zusätzlicher fiskalischer Bewegungsspielraum ermöglicht.
Zum anderen erspart eine frühe Verabschiedung des Budgets lästige Verhandlungen mit den diversen Interessengruppen. So werden wir den Herbst nicht mit Budgetdebatten und dem Gejammer der Sozialarbeiter, Bienenzüchter, Universitäten oder Bürgermeister verbringen, sondern mit Themen, die Orbán aufs Tapet bringen wird. Die frühe Verabschiedung des Haushalts wird die gewohnte politische Agenda des Herbstes verändern. Auch Demonstrationen sollten eigentlich jetzt abgehalten werden – im Herbst werden sie nicht mehr so interessant sein.
Weiterhin: Im Frühjahr hat Orbán zwei der größten Trümpfe der radikalen Rechten ausgespielt: die Einwanderungsfeindlichkeit und die Todesstrafe. Beide Fragen genießen in Ungarn parteiübergreifend breite Zustimmung. Das Tüpfelchen am i wäre da nur noch eine Kriegserklärung an Rumänien gewesen. Was die beiden Fragen gemeinsam haben: Sie sind zutiefst symbolisch, was bedeutet, dass sie schlicht und einfach der Realität entbehren. Ungarn ist kein Einwandererland, die Zahl der Zuwanderer ist denkbar niedrig, die Todesstrafe wiederum ist nur um den Preis eines EU-Austritts einzuführen. Obwohl diese Fragen wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben, sind sie dafür geeignet, die linke Opposition in ein schiefes Licht zu bringen, sind doch die Oppositionsparteien genötigt, ihre in weiten Teilen der Gesellschaft unpopulären Meinungen zu den beiden Themen zu artikulieren. Die Jobbik wiederum ist zum Schweigen verdammt.
Rogán kontra Lázár
Orbán hat zum Glück nicht vor, diese Themen zu lösen, er hat sie lediglich der Jobbik abgeluchst. Dies obwohl das stetige Erstarken der Jobbik eigentlich beweist, dass die rechtsradikale Masche Orbáns und des Fidesz nichts taugt. Trotzdem glauben Orbán und seine Berater immer noch, dass der ausgetrampelte Pfad, sprich die Thematisierung von rechtsradikalen Themen, zielführend ist. Das Ziel dieser Strategie ist indes deutlich sichtbar: Orbán will seine politische Autorität innerhalb des rechten Lagers wiederherstellen. Diesem Ziel dürfte wohl auch die geplante Installierung von Noch-Fidesz-Fraktionschef Antal Rogán als Kabinettschef des Ministerpräsidenten dienen. Rogán wird sozusagen ein Gegenpol zum omnipotenten Kanzleramtsminister János Lázár sein, dem der Ministerpräsident die Flügel stutzen will. Lázár seinerseits hat öffentlich bereits deutlich gemacht, dass er im Fall einer Ernennung Rogáns zum Kabinettschef zurücktreten werde.
Was Orbán anstrebt, liegt also auf der Hand: Er will schlicht und einfach seinen Handlungsspielraum im Herbst erweitern: durch die Vermeidung lästiger Themen (Budgetdebatte) durch eine Stärkung seiner eigenen Position und durch das Gegeneinander-Ausspielen zweier Potentaten innerhalb der Partei.
Was Orbán im Herbst tun wird, können wir nicht wissen. Wir wissen nur, dass er mehr Handlungsspielraum haben wird. Was aber die Machtkonzentration anlangt, sollte sich Orbán das Beispiel von Gyula Horn vor Augen halten. Nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 1994 ging Horn in die Vollen, seine Macht auszubauen. Er rang nicht nur die Gewerkschaften nieder, sondern auch die linke und liberale Opposition im eigenen Lager. Zum Ende der Legislaturperiode hatte er seine Gegner samt und sonders ausgeschaltet, wobei er auch eine Reihe von Korruptionsaffären und Skandalen überlebte – ja er ging sogar gestärkt aus ihnen hervor.
Als Alleinherrscher der Linken ging er bei den Wahlen im Frühjahr 1998 schließlich unter.
Der Autor ist Polit-Analyst. Der hier abgedruckte Text erschien in der linksliberalen Wochenzeitung Magyar Narancs.
Aus dem Ungarischen von Peter Bognar
Was mir nach dem Durchlesen dieses Beitrages aufgefallen ist. Er kommt als Analyse daher und ist ein Kommentar. Und unten steht: „Der hier abgedruckte Text erschien in der linksliberalen Wochenzeitung Magyar Narancs.“ Da der Autor also linksliberal ist, handelt es sich um die Verkündung der Wahrheit. Zumindest aus der allgemeinen deutschen Sicht. Nicht, dass ich nicht einige der Aussagen teilen würde. Sogar vieles sehe ich genau so. Einiges aber weicht von der Realität so weit ab und ist derart plumb, dass man nur schmunzeln kann. Etwa hier: „Weiterhin: Im Frühjahr hat Orbán zwei der größten Trümpfe der radikalen Rechten ausgespielt: die Einwanderungsfeindlichkeit und die Todesstrafe. Beide Fragen genießen in Ungarn parteiübergreifend breite Zustimmung. Das Tüpfelchen am i wäre da nur noch eine Kriegserklärung an Rumänien gewesen. “ Erstens ist mit dem Thema Todesstrafe keine Wahl zu gewinnen, zweitens würde in Volksbefragungen in europäischen Ländern eine gefährlich hohe Zahl an Bürgern für die Einführung der Todesstrafe sein. Orbán hat ohnehin zuletzt klargestellt, dass es in H keine Chance für die Einführung der Todesstrafe gibt. Ein taktisches, populistisches Spiel, wie es alle treiben. Und wer mit Ungarn über die Flüchlingsfrage redet, erkennt eine differenzierte Haltung – bei der im Hintergrund die Frage mitschwingt: Wie sollen wir Menschen aus ganz anderen Kulturen aufnehmen, wenn wir es nicht einmal schaffen, die Roma ausreichend zu integrieren ? Deutsche übrigends wären nicht fähiger, osteuropäischen Roma zu integrieren, obwohl ihnen der weit verbreitete Wohlstand und das viele Geld der Behörden dabei helfen würden. Deutsche wissen einfach in der Regel nicht, was es bedeutet, Roma zu integrieren, wenn diese zu hunderten in Wohnsilos leben müssen, abgesehn von einigen in Duisburg, Mannheim… .
„Das Tüpfelchen am i wäre da nur noch eine Kriegserklärung an Rumänien gewesen. “
Für alle, die Orbán-Ungarn verachten, soll das wohl die Steilvorlage zum Abheben sein. Meinungen kommen oft ohne Hintergrundwissen aus und bedienen sich solcher Pauschalen wie links und rechts. In D bedeutet rechts = rechtsradikal. In Ungarn (jobb) eher bürgerlich, konservativ, national, nicht aber rechtsradikal. In Ungarn bedeutet liberal = superkapitalistisch, ausbeuterisch und links = Lüge – spätestens seit der Lügenrede von Gyurcsány in 2006. Und was linkliberal ist, verstehe ich bis heute nicht. Ich habe dazu aber ein Meinung.
Schönes Wochenende mit einem solidarischen Gruß !
Gelungener Kommentar! Nur zur Ergänzung: Ungarn hat Rumänien NIE den Krieg erklärt. Die Gründung Rumäniens 1859 wurde von der ungarischen Nationalbewegung (den „1848ern“) unterstützt, da diese für eine Donauföderation gleichberechtigter Völker kämpften.1914 war Rumänien mit Österreich-Ungarn und Deutschland verbündet, wartete aber ab, bis die anderen Länder ausbluten. Erst nachdem die Entente Bukarest 1916 praktisch das östliche Drittel Ungarns und die Dobrudscha als Beute versprach, überfiel Rumänien die Donaumonachie. Im II. Weltkrieg bekam Rumänien von Hitler als Beute das Gebiet bis Odessa. Erst als sich das Kriegsglück 1943/44 den Allierten zuwandte, wechselte Rumänien über Nacht die Seiten, um wieder zu den Siegern zu gehören.
http://www.welt.de/politik/deutschland/article142061297/Balkan-wird-zum-Einfallstor-fuer-IS-Terrormiliz.html
In einer Zeit, in der der Westen dringend mit Russland , China … zusammenarbeiten müsste, hauen ein paar Deppen auf Ungarn rum und befriedigen sich daran. Nous sommes scheinheilig. Sie werden sich noch wundern, die Westeuropäer, wenn der Zusammenhalt Europas sich auf das Allerwesentliche beziehen muss. Alle, die Ungarn aus der EU werfen wollen und ohne Fakten argumentieren wie „die Zeit“
https://hungarianvoice.wordpress.com/2015/05/31/zeit-klaus-harpprecht-fordert-einschreiten-der-eu-gegen-ungarn/
werden sich noch wundern.
Das lustige daran ist, dass die USA das von ihnen geforderte Embargo gegen Russland selbst nicht einhalten. Zu Lasten der EU konnten die Amerikaner ihr Handelsvolumen mit Russland sogar vergrößern.