Von Ervin Csizmadia
Die Kritiker Orbáns haben schlechthin unter den Tisch fallen lassen, dass der Ministerpräsident bei seiner Rede vor der Stiftung der Freunde Ungarns am vergangenen Wochenende den renommierten Analysten des altehrwürdigen US-amerikanischen Politikforschungsinstituts Brookings Institute zitierte. Stattdessen wurde Orbán so dargestellt, als hätte er die Autokratie gelobt. Das (linksliberale; Anm.) Nachrichtenportal hvg.hu veröffentlichte einen Mitschnitt der Orbán-Rede, bei dem die besagte Passage einfach herausgeschnitten wurde.
Im offiziellen Video sagt Viktor Orbán Folgendes: „Ich zitiere einen der Chefanalysten des Brookings Institute: ‚Die Energieträger, die im internationalen System im Umlauf sind, stammen heute von den autokratischen Großmächten. Diese agieren, während die Demokratien bloß reagieren.‘“ In dem Video, das auf hvg.hu zu sehen ist, ist dasselbe Zitat zu hören, allerdings erfahren wir nicht seine Quelle. So wird der Anschein erweckt, als wären es Orbáns persönliche Worte. Eine Kleinigkeit? Mitnichten. (…)
Was auch immer unsere Meinung über Orbán ist, irgendeine Bedeutung wird es wohl haben, dass er sich ausgerechnet auf das Brookings Institute beruft. Das Zitat ist zwar nur eine kurze Passage in seiner Rede, allerdings eine essentielle. Das Brookings Institute ist eine der weltweit ältesten und einflussreichsten amerikanischen Think Tanks. Der „Chefanalyst“ des Instituts, auf den sich Viktor Orbán bezieht, ist Robert Kagan. Dieser ist ein weltberühmter Historiker und Experte der Geopolitik. Vor einigen Jahren ist – im Widerspruch zu Francis Fukuyama – ein Buch von ihm erschienen, in dem er von einer Rückkehr der Geschichte spricht.
Orbán berief sich auf einen Artikel des renommierten Analysten Robert Kagan
Doch berief sich der Ministerpräsident nicht aufgrund des Buches auf ihn, sondern weil Kagan im Januar dieses Jahres im ebenfalls renommierten Journal of Democracy einen Aufsatz zum Thema Demokratie publizierte. Neben Kagan (The Weight of Geopolitics) sind auch bedeutende und international angesehene Autoren wie Marc F. Plattner (Is Democracy in Decline?), Philippe Schmitter, Francis Fukuyama, Steven Lewitsky und Lucan Way in der Januar-Nummer des Journal of Democracy zu lesen.
Nun denn, lichten wir also den Schleier: Viktor Orbán hat sich in seiner Rede auf diesen Aufsatz (The Weight of Geopolitics) von Kagan berufen. Und jenes Zitat ist tatsächlich in dem Beitrag zu finden. Freilich singt Kagan darin keine Lobeshymnen auf die Autokratie, gleichwohl zeigt er auf, dass es im Verlauf der Menschheitsgeschichte eine eigentümliche „Wechselwirtschaft“ zwischen Demokratien und Diktaturen gab. Der Autor des Aufsatzes sagt also nicht im Entferntesten, dass die Autokratie ein besseres System sei als die Demokratie. (…)
Es wiegt schwer, dass die Kritiker Orbáns die Rede des Ministerpräsidenten so darstellten, als würde er die Autokratie loben und als hätte er gar nicht den Chefanalysten des Brookings Institute zitiert. Ich kann nur allen empfehlen, den besagten Aufsatz und die Januar-Nummer des Journal of Democracy im Internet herunterzuladen. Die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall, insbesondere für die Vertreter des öffentlichen Lebens in Ungarn: http://www.journalofdemocracy.org/
Der Autor ist Politikwissenschaftler. Der hier in Auszügen abgedruckte Text erschien auf dem konservativen Meinungsportal Mandiner.
Aus dem Ungarischen von Peter Bognar