Der frühere Präsident des Zentralamtes für Statistik (KSH), Tamás Mellár, zeigte sich im Interview für die liberale Wochenzeitung 168 Óra überrascht, wie sich der Brokerskandal entwickelt. Lesen Sie nachstehend prägnante Auszüge des Gesprächs.
Als der Quaestor-Skandal ans Tageslicht kam, räumte erst das Außenministerium und anschließend der Ministerpräsident ein, über Insiderinformationen zu verfügen. Müsste nicht jemand aus der Regierung an dieser Stelle zurücktreten?
Die Verantwortung trägt in erster Linie der Ministerpräsident. Im Gesetz steht, öffentliche Gelder dürfen ausschließlich in Staatsanleihen gehalten werden, die über das Schatzamt bezogen werden. Zum anderen kann ein Staatsmann keine partikularen Interessen vertreten. Wenn der Ministerpräsident geahnt hat, dass Quaestor demnächst Pleite gehen wird – was ja schon an sich den Verdacht von Insiderinformationen aufwirft –, wäre es dann nicht seine wichtigste Aufgabe als Regierungschef gewesen, mit entsprechenden Maßnahmen die Verluste zu minimieren? Das ist wichtiger, als die Anweisung zu geben, die Ministerien sollten ihr Geld retten.
Die Regierung erklärt, man habe die öffentlichen Gelder in Staatsanleihen gehalten. Aber warum muss man Wertpapiere unter Einschaltung von Brokerfirmen kaufen, die verschiedene Kostenpositionen draufschlagen, wenn das unter Einschaltung des Schatzamtes auch kostenlos geht?
Lassen Sie mich das mit einem etwas drastischen Beispiel illustrieren: Wenn Sie mich im Rotlichtviertel erwischen, dann werde ich vergeblich zu erklären versuchen, ich wollte nur einen Himbeersaft trinken, der wäre hier billiger als anderswo. Sie werden wohl mit Recht den Verdacht hegen, dass ich im Rotlichtviertel noch andere Dinge als nur Himbeersaft zu trinken vorhatte.
Zurück zu den Brokern: Es ist doch sehr wahrscheinlich, dass die Staatsorgane, wenn sie sich schon einmal mit Brokerfirmen einließen, an der Börse gespielt haben dürften. Dass sie also auch in Anlagen mit höheren Ertragschancen investierten. Deren Gewinne nirgendwo im Staatshaushalt auftauchen.
Natürlich nicht! Denn illegale Einnahmen lassen sich nicht als Haushaltseinnahmen verbuchen. Ironisch angemerkt gibt es keine derartige Rubrik im Budget. Die Menschen ahnen Korruption, wo der Weg des Geldes nicht nachvollziehbar ist. Schlimmer ist da nur noch, dass die Quaestor-Gruppe fiktive Anleihen begab – dieser Skandal ist eine Karikatur des Börsensystems.
… und des Orbán-Regimes. Nur dass darüber niemand lachen kann. Viele denken jetzt, wenn der Ministerpräsident im Brokerskandal nicht zu Fall kommt, dann kann er sich wirklich alles erlauben.
Es stimmt: Wenn diese Sache schweigend übergangen wird, dann kann hierzulande wirklich alles passieren. Aber ich glaube nicht, dass es so kommen wird. Diese Geschichte hat spürbar Erosionen im Fidesz-Lager ausgelöst. Der Popularitätsverlust ist irreparabel. Bleibt die Frage, wozu das reicht. Wenn der Fidesz die nächste Wahl gegen jene linksliberale Opposition verliert, die an der Regierung schon einmal versagt hat, dann setzt sich nur das Ausrauben des Landes im Politikerkarussell fort. Das Land wird weiter zerstört.
Denn es geht ja nicht erst seit 2010 bergab, sondern systematisch seit der Wende. Aber die Zeit wird knapp, denn heute entfernen wir uns nicht mehr nur von Westeuropa, sondern fallen ebenso hinter die Visegrád-Staaten zurück. Der mobilere Teil der Gesellschaft geht derweil ins Ausland. Möglicherweise hilft nur noch die Auflösung des Parlaments und die Einberufung einer Nationalversammlung, um das institutionalisierte Absaugen von Einkommen zu beenden und diese dem Wachstum, dem Gesundheits- und Bildungswesen zuzuführen. Irgendwie scheint das alles aber breite Schichten der Gesellschaft nicht zu tangieren. In Westeuropa würden wir eine Streikwelle erleben, bei uns ist die linke Opposition bereits befleckt bzw. schwach.
Viele befürchten genau deshalb, dass der Staatskapitalismus á la Orbán noch 10-20 Jahre erhalten bleibt.
Das glaube ich nicht. Auch Korruption funktioniert nur vor dem Hintergrund einer dynamischen Wirtschaft. Die Begünstigten bekommen immer kleinere Happen aus der schrumpfenden Torte, weshalb sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Der Fidesz hat keine 10-20 Jahre mehr. Das private Rentenvermögen wurde aufgeteilt, hier und da lässt sich noch ein größerer Betrag z. B. mittels Verstaatlichung im Bankensektor realisieren, aber fette Beute gibt es nicht länger.
Der Analyst der Londoner Standard Bank, Timothy Ash, äußerte kürzlich, mit etwas Glück und vielen Sondermaßnahmen lasse sich das erreichte Wirtschaftswachstum noch eine ganze Weile aufrechterhalten…
Die westlichen Analysten neigen oft zu oberflächlichen Einschätzungen der ungarischen Wirtschaft. Dabei ist kein einziges Element des Wachstums nachhaltig. Die Arbeitsproduktivität nimmt laufend ab und die Beschäftigung nimmt nicht zu, wenn man mal die staatlichen Arbeitsprogramme ausklammert. Die Staatsschulden wurden allein wegen der Rücknahme der privaten Rentenkassen gesenkt. Es wird kein Kapital angereichert, es gibt keine Innovationen, in Ranglisten der Wettbewerbsfähigkeit landet Ungarn regelmäßig irgendwo im Mittelfeld. Es ist ganz und gar nicht gleichgültig, wann dieses Spiel ein Ende findet: Auf Druck der Gesellschaft möglichst bald, oder erst, wenn die Oligarchen mit ihren Kämpfen das Land plattgemacht haben und wir wieder von Null anfangen müssen.
Aus dem Ungarischen von Rainer Ackermann