Mitten in Zugló steht ein fast vergessenes Relikt aus Ungarns goldenen Radrennsport-Jahren. Seine Ausmaße dürften erst aus der Vogelperspektive ganz deutlich werden: Es handelt sich um das Velodrom, eine riesige Radrennbahn, die – gemeinsam mit anderen Sportgebäuden – auf dem Gelände des Olympischen Zentrums Millenáris steht. Um die von der ungarischen Regierung ersehnte Austragung der Olympischen Sommerspiele 2024 Realität werden zu lassen, soll das über 100 Jahre alte Velodrom neu entstehen.
Mit dem Neubau des Millenáris-Velodrom steht es zeitlich wie mit Bauprojekten weltweit: Es hätte ursprünglich schon längst mit dem Bau begonnen werden sollen. Doch nun sieht es so aus, als würden die bisher gültigen Pläne komplett über Bord geworfen. Die Radrennbahn soll unter anderen Voraussetzungen erbaut werden, um Ungarn auch durch dieses Bauprojekt ein Stück attraktiver für eine eventuelle Austragung der Olympischen Sommerspiele 2024 zu machen.
Anders als es der Name glauben machen könnte, befindet sich das Velodrom nicht bei dem Veranstaltungszentrum Millenáris in Buda, sondern ist Teil eines bereits lange bestehenden Pester Gebäudekomplexes, zu dem unter anderem auch das Ferenc Puskás Fußballstadion gehört. Der Name rührt von der Entstehungszeit, wurde das Velodrom doch 1896 zur Budapester Milleniumsausstellung fertiggestellt – so wie die Burg Vajdahunyad im Stadtwäldchen, wo damals auch die Ausstellung stattfand, und die Kunsthalle am Heldenplatz. Bei der Einweihung nahm damals auch der zweifache olympische Meister András Hajós teil. Der Profischwimmer war auch als Architekt tätig, und einige Dekaden nach Eröffnung des Velodroms wurde das von Marcell und Ödön Neuschloss entworfene Gebäude nach Hajós‘ Plänen umgebaut.
Nostalgie auf vergilbten Wandtafeln
Auf ihrem Stahlbeton-Konstrukt galt die Radrennbahn damals als eine der modernsten und schnellsten in ganz Europa. Wer heute die Velodrom-Arena in Budapests XIV. Bezirk betritt, spürt von diesem Glanz nichts mehr. Die Bahn ist uneben, hier und da spicken Gewächse aus den Ritzen im Beton hervor. Die Grünfläche in der Mitte ist zwar gemäht, doch ungepflegt und umsäumt eine weitere Betonfläche. Laut einer Frau, die sich während unseres Besuchs ebenfalls im Velodrom aufhält, werden auf dieser in den kalten Jahreszeiten Eishockey-Spiele ausgetragen. Die Umkleidekabinen und Eishockey-Transparente an den Wänden im Erdgeschoss des Gebäudes lassen daran keinen Zweifel.
Dennoch wirkt das Velodrom surreal groß, so ganz ohne jubelnde Fans und schwitzende Sportler. Die Hinterwände der Tribüne sind mit dilettantischen Graffitis besprüht, und der Stand, der „heiße Würstchen“ anpreist, schon lange nicht mehr besetzt. Im Gebäudeinnern holt den Besucher jedoch wieder die Nostalgie ein. Eine vom Sportmuseum 1996, zum 100-jährigen Bestehen des Velodroms, eingerichtete Ausstellung erinnert auf vergilbten Wandtafeln an die glorreiche Vergangenheit der Radrennbahn und des gesamten Sportgebäude-Komplexes. Als „Wiege des ungarischen Sports“ wird das Millenáris hier betitelt, während ein Emaille-Schild an der Wand zu verstehen gibt, „Hier darf geraucht werden“. Schwarz-weiße Fotografien zeigen Radrennfahrer auf der Bahn, darunter den Hoffnungsträger des ungarischen Radsports Anfang des 20. Jahrhunderts, Kálmán Mazák, ein ungarisches Wappen absurder Größe auf dem kurzen Trainingsanzug tragend.
Eine etwas versteckt (wieder-) angebrachte Bronzetafel, vom Gedenkkomitee des Arbeitssportes unterzeichnet, erinnert an die „zwischen den beiden Weltkriegen für die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Volkes den Märtyrertod gestorbenen Sportler“. Denn: Auch jenseits des real existierenden Sozialismus organisierten sich Sportler aus der Arbeiterbewegung seit Ende des 19. Jahrhunderts, als die Ausübung von Sport zu boomen begann, in eigenen Sportvereinen – sowohl in Ungarn als auch in Deutschland. Wer sich jedoch nach kommunistischen Kuriositäten sehnt, der wird unweit des Velodroms fündig: Im Skulpturenpark „Dromosz“ zwischen Ferenc Puskás Fußballstadion und László Papp Sportarena zelebrieren 16 Skulpturengruppen aus den fünfziger Jahren Sport als nationales, politisches Erlebnis, das es – ob Mann oder Frau – mit gleichgeschalteter Miene, breiten, buchstäblich gestählten Körpern und fair von Schiedsrichtern begleitet auszuüben gilt.
Mit dem Velodrom zu Olympia
Zu schade, dass gerade das Velodrom und der Skulpturenpark immer wieder von Abriss-, Verlegungs- oder Neubauplänen bedroht werden. Auch wenn sich das Sportmuseum als Ausstellungsort der ungarischen Sporthistorik ebenfalls auf dem Millenáris-Gelände befindet, sind es doch Bauwerke wie die Radrennbahn oder Dromosz, die Geschichte in Budapest auch physisch erlebbar machen.
Doch geht es der ungarischen Regierung auch nicht um die Vernachlässigung solcher Sportinstitutionen – im Gegenteil. Gerade dieses Jahr erhält der ungarische Radsport so viel staatliche Unterstützung wie noch nie. Laut bikemag.hu könnte es hierdurch gar möglich werden, dass der Massen- und Profisport von der ungarischen Nische auch – wieder – auf ein internationales Niveau aufsteigt. Im Fokus steht jedoch die Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2024. Noch nie wurden diese in einem ost- oder zentraleuropäischen Land ausgetragen, und Ungarn soll das erste sein. Um dieses Vorhaben zu unterstützen und mit Tipps zur Umsetzung zu dienen, besuchte vergangene Woche auch Brian Cookson, Vorsitzender des Internationalen Radsportverbandes (UCI), Budapest und das städtische Velodrom. Sogar der ungarische Premier Viktor Orbán traf sich höchstpersönlich mit dem Briten, der übrigens ein echtes Hungarikum, ein kettenloses Stringbike als Souvenir mit nach Hause nehmen durfte. Mit den Anforderungen an eine Austragung der Olympischen Sommerspiele kennt sich Cookson bestens aus – der UCI war an der Formulierung der Anforderungen beteiligt.
Deshalb ist, wohl oder übel, auch eines sicher: Das Velodrom in seiner jetzigen Form muss gehen. Die architektonischen Entwürfe des Büros Váncza Művek wurden bereits 2014 angenommen, an den Änderungen, um die Chancen von Olympischen Spielen in Budapest zu optimieren, wird gearbeitet. Der Neubau des Velodroms sollte ursprünglich 2017 abgeschlossen werden, nun werden die Jahre 2018-2019 angepeilt.