Vor den guten Makrozahlen kann selbst der IWF nicht die Augen verschließen. Ihr letzten Freitag vorgelegter Jahresbericht zur wirtschaftlichen Lage in Ungarn dürfte sicher insbesondere von Seiten südeuropäischer Staatenlenker neidvoll-bewundernde Blicke auf sich ziehen. Ebenso die verhalten positiven Signale seitens der großen Ratingagenturen. Bereits Anfang Februar konnten wir im Wirtschaftsteil des BZ Magazins nicht umhin, bei einer Beschreibung des Makro- Zustands Ungarns den Begriff „Wirtschaftswunder“ zu verwenden. Das viel gescholtene ungarische Modell scheint zu funktionieren.
Der Orbán-Regierung ist das makroökonomische Kunststück gelungen, die Wirtschaft anzukurbeln und entsprechende Effekte auf dem Arbeitsmarkt auszulösen, ohne dass ihr die Neuverschuldung aus dem Ruder läuft. Währenddessen konnte auch das Anwachsen des Schuldenbergs erst gestoppt und dann leicht verringert werden. Im Prinzip wäre jetzt die Zeit gekommen, in der die Regierungspartei die Früchte ihrer mit harter Arbeit und Konflikten gefüllten Konsolidierung ernten könnte. Die Umfragewerte der Regierungspartei müssten immer neuen Rekorden entgegenjagen. Nachwahlen wären nur langweilige Ereignisse, weil eh nur immer der jeweilige Kandidat der Regierungspartei gewinnt.
Das Gegenteil ist der Fall: Während die Fidesz-Wähler bei der rasanten Achterbahnfahrt der Jahre 2010-2014 ihrer Partei unvermindert die Treue hielten und sie selbst bei den umstrittensten Maßnahmen nicht im Stich ließen, kehren sie ihr jetzt, wo eigentlich die Zeit der Ernte angebrochen wäre, massenhaft den Rücken. Plötzlich scheinen selbst kleine Nachwahlen für den zweifachen Zweidrittelgewinner Fidesz zum ernsten Problem und zur Zitterpartie zu werden. In Veszprém bekam er von den Wählern einen schmerzhaften Schwinger von links verpasst, in Tapolca könnte sich jetzt gleiches von Rechtsaußen wiederholen. Die Jobbik ist dem Fidesz in Umfragen so dicht aufs Fell gerückt wie schon seit Jahren kein Herausforderer der siegesverwöhnten Partei mehr.
Die Makrozahlen können noch so schön glänzen. Irgendwie scheinen sie die Wähler nicht zu beeindrucken. Vielleicht auch deshalb nicht, weil sie im ungarischen Alltag kaum zu spüren sind. Kein Wunder: in Ungarn herrscht einfach nicht die Stimmung, wie man sie in einem Land mit 3,6 Prozent (2014) beziehungsweise vorerst 2,7 Prozent Wirtschaftswachstum eigentlich annehmen würde.
Auch auf die immer mehr jungen Ungarn, die ihrem Land den Rücken kehren, scheinen die guten Makroparameter keinen Eindruck zu machen. Das ganze Leben in Ungarn ist noch weit davon entfernt, wenigstens etwas von der Leichtigkeit der Vorkrisenjahre zurückzugewinnen. Der Aufschwung will einfach nicht bei den Leuten ankommen. Und so beschränkt sich der Applaus für die schönen Makrozahlen auf einige wenige Analysten und Volkswirte. Bei den Wählern scheint der Fidesz damit vorerst nicht so recht punkten zu können.
Im Gegenteil: Im Moment haben wir es mit dem paradoxen Phänomen zu tun, dass sich die Popularität des Fidesz bei den Wählern umgekehrt proportional zu ihren makrowirtschaftlichen Erfolgen verhält. Die gegenläufige Entwicklung hat vielleicht auch damit zu tun, dass sich der Fidesz seit den letzten Parlamentswahlen – nach einer kurzen Verschnaufpause im Sommer – auch nicht wie eine Partei verhält, deren Zweidrittelmehrheit gerade bestätigt worden ist und die sich auf deutlich geordnetere wirtschaftliche Verhältnisse stützen kann als nach ihrem ersten Zweidrittelsieg 2010.
Statt solide und mit ruhiger Hand bis 2018 durchzuregieren, ist der Fidesz seit letztem Herbst von einer unerklärlichen Unruhe und Nervosität ergriffen. Während die Fidesz-Regierung in der vorherigen Legislaturperiode gewaltige Aufgaben letztlich erfolgreich abarbeiten konnte, scheinen ihr jetzt vergleichsweise harmlose Aufgaben wie etwa die Ausweitung der Telekommunikationssteuer („Internetsteuer“) und der Autobahnmaut die größten Mühen zu bereiten. Dann wieder verrennt sie sich in völlig unnütze Dinge wie etwa das sonntägliche Verkaufsverbot. Dazu kommen verschiedene kontraproduktive Kon- flikte in den eigenen Reihen. Auch die Art der Bewältigung der Broker-Skandale scheint alles andere als geeignet, einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung herbeizuführen. Zumindest zugunsten des Fidesz.
Die Jobbik hingegen kann dem zerfahren wirkenden Regierungsstil seit letztem Herbst nur aus voller Kraft applaudieren. Ein Ende der ungewollten Unterstützung dieser Partei durch die Regierung ist vorerst nicht abzusehen.
Jan Mainka
Chefredakteur & Herausgeber
Es ist nun einmal eine Tatsache, dass die Ungarn (wie einige andere Völker auch) ihre Opferbereitschaft, Zusammengehörigkeitsgefühl und Idealismus nur in der Not zeigen können. Wenn alles glatt läuft (seien wir ehrlich, die Aufregung über die Internetsteuer und die Öffnungszeiten der Geschäfte sind eine Farce, solche Probleme hätte man 2006-2010 gerne gehabt), neigt der Ungar zu einer diffusen Unzufriedenheit. Mich erinnert es ein wenig an die Einstellung, die die Ungarn nach dem Tode von Matyas zeigten, als sie über die Kosten und die politischen Risiken moserten, die das „Schwarze Heer“ mit sich brachte. Also löst man das „Schwarze Heer“ auf, sparte Kosten. verringerte das politische Risiko-und wurde bei Mohács katastrophal verdroschen.
Die Jobbik schafft es, aus dieser Unzufriedenheit Kapital zu schlagen, sie profitiert vom stets unruhigen, rebellischen Geist der Magyaren und der Enttäuschung über das globale Wirtschaftssystem, dem Ungarn nun einmal angehört.
Wer immer auch die Wahlen von 2018 gewinnt-möge er die die Weisheit haben, das Erreichte nicht zu verspielen.